In einem offenen Kommentar kritisieren die Inklusions-Spezialisten Klaus Kokemoor und Dr. Michael Lichtblau die aktuelle Entwurfsfassung des neuen niedersächsischen KiTaG als „Diskriminierung von Kindern mit Behinderungen“. Hintergrund ist, dass trotz der von Deutschland ratifiziertratifiziert|||||Die Ratifikation, auch Ratifizierung ist eine verbindliche Erklärung des Abschlusses eines Vertrages durch  Vertragsparteien.en und damit Bundesrecht gewordenen UN-Behindertenrechtskonvention in der aktuellen Entwurfsfassung kein Rechtsanspruch auf einen integrativen KiTa-Platz für Kinder mit Behinderungen formuliert werde. In diesem Sinne bedeute der Entwurf „rechtlich und ethisch die Fortführung der Diskriminierung von Kindern mit Behinderung im Land Niedersachsen“.

Hier der Kommentar im ganzen Wortlaut:

Das neue Kindertagesstätten-Gesetz - eine Diskriminierung von Kindern mit Behinderung im Land Niedersachsen

Die Neugestaltung des niedersächsischen Rechts der Tageseinrichtungen für Kinder und der KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung.  definiert weiterhin keinen Rechtsanspruch auf einen integrativen Kitaplatz für Kinder mit einer Behinderung. Das Gesetz ist eine Ungleichbehandlung und eine Beschneidung von Rechten, die diesen Kindern über ein Bundesgesetz zugeschrieben werden und ist somit rechtlich und ethisch die Fortführung der Diskriminierung von Kindern mit Behinderung im Land Niedersachsen.

Wie die aktuellen Zahlen des Ländermonitors frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019 belegen, geht Niedersachen bei der Bildung und Erziehung von Kinder mit einer (drohenden) Behinderung weiterhin einen Sonderweg im bundesweiten Ländervergleich und „ein Großteil der Kinder mit besonderem Förderbedarf (42,3%) wird in Gruppen in KiTas mit mehr als 90% an Kindern mit Eingliederungshilfe betreut“ (1) . Im Vergleich dazu liegt dieser Wert im Bundesdurchschnitt bei lediglich 6,5%. Niedersachsen hält somit im Gegensatz zu anderen Bundesländern weiterhin an der getrennten Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung fest.

Dabei sieht die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Artikel 24 explizit vor, unabhängig von ihren individuellen Merkmalen alle Kinder gemeinsam an Bildungsprozessen teilhaben zu lassen (2). Mit der Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesregierung im März 2009 ist die UN-BRK ein innerstaatliches Recht. Dieses Recht, sowie das damit verbundene Thema „Inklusion“ werden in der Neufassung des Kindertagesstätten-Gesetzes (Kita-G) nicht repräsentiert. Dabei beschreibt das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, in einem Maßnahmenkatalog (2016) zur UN-BRK des Landes Niedersachsen, die gemeinsame Bildung als vorrangiges Ziel.

Die Bundesregierung hat sich 2009 verpflichtet ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln, das eine separierte Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf in Sondereinrichtungen vollständig vermeidet. Trotz dieser Verpflichtung findet das Thema „Inklusion“ im neuen Kita-G keine Erwähnung und durch § 20 Abs. 2 die Sondereinrichtung benannt, und entgegen der Forderung der UN-BRK legitimiert und fixiert. „Bedürfen Kinder die nach § 99 SGB IX in Verbindung mit § 53 Abs. 1 Satz 1 [….] leistungsberechtigt sind, von der Vollendung des dritten Lebensjahres bis zur Einschulung infolge ihrer Behinderung in einer Gruppe, in der sich ausschließlich Kinder befinden, die Leistungen nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs erhalten, so haben sie einen Anspruch auf einen Platz in einer solchen Gruppe.“ (3) Bemerkenswert ist auch, dass die die Integrationsgruppen, die es in Niedersachsen seit mehr als 30 Jahren gibt, im neuen Kita-G keinerlei Erwähnung finden. Dadurch erfährt die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte sowie die positive Entwicklung in der Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung in diesem pädagogischen Setting keinerlei Wertschätzung.

Das Festhalten an Sondereinrichtungen widerspricht auch der Haltung und wesentlichen pädagogischen Grundsätzen des Niedersächsischen Orientierungsplans für Bildung und Erziehung, wie beispielsweise die Zusammenarbeit mit Eltern. Diese Erziehungspartnerschaft, in der Erziehungs- und Bildungsprozesse des Kindes gemeinsam begleitet und gestaltet werden(4), wird unter anderem durch den Fahrdienst zu den Sondereinrichtungen, in der angedachten Form kaum möglich sein .
In der Neugestaltung werden die Begriffe Bildung und Erziehung schlicht durch Förderung ersetzt. Hier fehlt die differenzierte Betrachtung der pädagogischen Arbeit. Obwohl das Land Niedersachsen im Bildungs- und Orientierungsplan schreibt: „[…] es hat sich als bedeutsam erwiesen, Bildung und Erziehung jeweils streng zu trennen, wenn wir das selbst-lernende Kind in den Mittelpunkt stellen.“ (5)

Die Neugestaltung des Kita-G untergräbt weiter die Qualität der pädagogischen Arbeit, da es in § 11 die Möglichkeit bietet, pädagogische Fachkräfte durch Assistenzkräfte zu ersetzen, die wiederum durch eine Helferin ersetzt werden können. Dies ist nicht der richtige Impuls, um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken und eben so wenig ein sinnvoller Ansatz, um allen Kindern das Recht auf angemessene Bildung zu Teil werden zu lassen. (6)

Auch vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftspolitischer Veränderungen sollten gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die gemeinschaftliche Teilhabe und Kooperation unterstützten, um gesellschaftlicher Spaltung zu begegnen. 

Es braucht daher ein „neues“ neues Kindertagesstätten-Gesetz, das die Diskriminierung von Kindern mit Behinderung überwindet, dem Recht auf gemeinsame Bildung im Sinne der UN-BRK nachkommt und nicht zuletzt die Qualität der pädagogischen Arbeit sichert und ausbaut.

Klaus Kokemoor, Inklusionsfachberater und Autor (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

Dr. Michael Lichtblau
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Anmerkungen

[1] https://www.laendermonitor.de

[2] Lichtblau (2018), Inklusive und Integrative Bildung, S. 1 

[3] Entwurf zur Neugestaltung des niedersächsischen Kita-G (2020), S. 15

[4] Orientierungsplan für Bildung und Erziehung des Landes Niedersachsen (2005), S.42

[5] Forschungsbericht Integration von Kindern mit Behinderung der Landeshauptstadt Hannover (2006)

[6] Orientierungsplan für Bildung und Erziehung des Landes Niedersachsen (2005), S. 11

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