Zur Begrüßung hob Emdens Bürgermeisterin Lina Meyer heraus, dass auch Kinder mit Fluchterfahrungen „erst einmal Kinder sind, die spielen und Freunde finden möchten“. Ihnen müsste schnellstmöglich der Zugang zur Bildung ermöglicht werden. „Deutschland ist ein Land der Vielfalt und im Mikrokosmos KiTa spiegelt sich diese Vielfalt von Anfang an wieder“ sagte sie.
Verena Sagrabelna vom Niedersächsischen Kultusministerium unterstrich die Bedeutung der KiTa für eine Integration und für gleiche Bildungschancen von Anfang an. Im Sozialraum KiTa könne die Vielfalt tagtäglich er- und gelebt werden und so hätten viele Pädagogische Fachkräfte auch schon große Erfahrungen im Umgang mit Interkulturalität. Für die Aufnahme von Kindern und Familien mit Fluchthintergrund in die KiTa seien allerdings noch „erweiterte Handlungskompetenzen“ notwendig. Zur Unterstützung der Praxis habe das Kultusministerium in Kooperation mit dem nifbe, der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung, dem Kindertagespflegebüro und dem Kinderschutzbund so auch die Qualifizierungsinitiative „Vielfalt fördert! Vielfalt fordert!“ initiiert, die aus zwei Säulen bestehe: Der Ausbildung von bis zu 200 MultiplikatorInnen und der Durchführung von zehn Regionalkonferenzen rund um das Thema Flucht. Über die auf nun 12 Millionen Euro verdoppelten Mittel für die Sprachförderung in den Städten und Kommunen könnten auch Fortbildungen zu den verschiedenen Aspekten des Umgangs mit Kindern und Familien mit Fluchthintergrund in der KiTa durchgeführt werden.
"Die Situation ist einfach grauenhaft"
Einen provokativen Impulsvortrag lieferte Prof. Dr. Paul Mecheril von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg den rund 80 TeilnehmerInnen. „Ich weiß wirklich nicht zu sprechen“ sagte er, denn „die Situation ist einfach grauenhaft“. Die Aufnahme von Menschen mit Fluchterfahrung sei keine Frage der Gastfreundschaft oder Wohltätigkeit: „Es geht darum, dass wir Verantwortung übernehmen für unsere koloniale Vergangenheit und die Auswirkungen der uns reich machenden Globalisierung.“„Warum kennen Sie sich so wenig mit der Migrationsgesellschaft aus?“ fragte Mecheril seine ZuhörerInnen direkt und „Wie viel Illusionsarbeit betreiben Sie in Ihren Einrichtungen?“ Die Rede von der Integration sei ein „ständiger Betrug“ und den aktuellen Herausforderungen des „europäischen Fluchtregimes“ könne nicht mit Vorträgen oder Workshops begegnet werden: „Wir brauchen eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Realität“ forderte er und prangerte gleichermaßen die Menschenrechtsverletzungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen wie gravierende Integrationsbarrieren in den Bildungsinstitutionen an. Wir sollten endlich anfangen „Bildung ernst zu nehmen“ mit dem „Ziel der Solidarität unter einander Unbekannten!“ forderte Prof. Dr. Paul Mercheril abschließend. Er bekam für seine Frontalkritik viel Applaus von den TeilnehmerInnen und sorgte im Verlaufe des Tages noch für rege Diskussionen untereinander.
"Dialogische Begegnungskultur"
Die „ethischen Aspekte einer dialogischen Begegnungskultur“ nahm Prof. Dr. Eric Mührel von der Hochschule Emde/Leer in den Blick. Er stellte die Konzepte einer „unbedingten Gastfreundschaft“ und einer „bedingten Gastfreundschaft“ vor. Ersteres stehe für eine „bedingungslose Aufnahme des Anderen“ und führe auch dazu, sich selbst im Hinblick auf Identität und Heimat „in Frage zu stellen“. Die „Bedingte Gastfreundschaft“ setze dagegen eher auf eine „Hausordnung“, auf Regeln und Gesetze, denen sich der Andere anzupassen habe.Grundsätzlich gäbe es geschichtlich vier verschiedene Ansätze für den Umgang mit dem Anderen:
- Krieg und Eroberung
- Apartheid und Aussonderung
- Verstehen
- Achtung vor und Verantwortung für die Andersheit des anderen
Auf den vierten Aspekt bezogen stellte Mührel auch den Befähigungsansatz („Capability approach“) des indischen Nobelpreisträgers Armatya Sen vor. Ziel sei es, Menschen entsprechend ihrer subjektiven Ressourcen zu befähigen und dies dann in reale Freiheiten auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder sozialer Ebene umzumünzen. Verbunden sei damit ein Evaluationskonzept zu den realisierten und noch zu realisierenden Zuständen, das beispielsweise auch in einer KiTa Anwendung finden könne.
In Bezug auf die frühkindliche Bildung riet Mührel zu einem „dialogischen Prinzip als Grundhaltung“ und beschrieb KiTas als „demokratische Keimzellen“ und „Orte dialogischen und sozialen Handelns“.
Was ist das Gegenteil von "süß"?
In einem zweiten Impulsvortrag stellte Prof. Dr. Elke Montanari von der Stiftung Universität Hildesheim im Kontext der „Multikompetenz“ und des mehrsprachlichen Handelns eine eigene Studie zur Mehrsprachigkeit vor. Exemplarisch zeigten sich bei der Frage nach dem Gegenteil von „süß“ bei deutschsprachigen und deutsch- russischsprachigen Kindern „unterschiedliche kulturspezifische Konzepte“: während die deutschsprachigen Kinder mit überwältigender Mehrheit „sauer“ als Gegenteil benannten, erweiterte sich dies bei den deutsch-russischsprachigen Kindern deutlich auf „bitter“ und auch „salzig“. So wie in diesem Beispiel seien häufig eine „Vielfalt möglicher Antworten“ gegeben und daher „müssen wir weggehen von einer Normerwartung“. Grundsätzlich zeigte sich in der Studie, dass paralleler Spracherwerb keine negativen Auswirkungen hat und dass ganz unterschiedliche Sprachsettings zu erfolgreichem Spracherwerb führen könnten. Wichtig seien „reicher Input“ und „reicher Kontext“ und auch in der KiTa gebe es viele Möglichkeiten Mehrsprachigkeit zu entdecken und zu integrieren."Rezepte helfen nicht weiter"!"
In vier Workshops konnten sich die TagungsteilnehmerInnen näher mit Themen wie der Mehrsprachigkeit, interreligiösen Bildungsprozessen oder der Ressourcenorientierten Zusammenarbeit mit Familien widmen. Bei Bedia Akbaş von der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg stand die migrationspädagogische Kompetenz im Vordergrund und gleich zu Anfang machte sie klar „Nehmen Sie Abstand von Rezepten!“ Denn: „Sie arbeiten mit ständigen Widersprüchen und in Ungewissheitsstrukturen, in denen Rezepte nicht weiter führen.“ Migrationspädagogik habe das Ziel, „mehr“ Gerechtigkeit herzustellen und dazu sei es wichtig über grundsätzliche Fragen der Ausgrenzung (z.B. „Wir“ und die „Anderen“) nachzudenken und sich der Problematik von bestimmten Begrifflichkeiten und Zuschreibungen („Flüchtling“, „Türke“ etc.) bewusst zu werden. Diese könnten zu „traumatischen Erschütterungen des Selbstbildes und des Zugehörigkeitsgefühls“, zu Entfremdung und einer Selbstwahrnehmung als defizitär Anderer führen. Jeder Mensch habe aber mehrfache Zugehörigkeiten und seine (nicht von Staat oder Ethnie abhängige!) Kultur sei prozesshaft. PädagogInnen stünden vor der ständigen Herausforderung sich bewusst zu machen, wann sie Differenzen konstruieren und andere ausschließen. Sie stünden dabei aber in einem ständigen Dilemma der De- oder der Überthematisierung von Kategorien wie „Flucht“ oder „Migration“. Wichtig, so Akbaş sei eine grundsätzlich offene Haltung und Selbstreflexion sowie Reflexionsräume für den gemeinsamen Austausch unter KollegInnen.Karsten Herrmann