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Kultursensitiv in der KiTa arbeiten

Kinder kommen nie allein in die Kita – ihren kulturellen Hintergrund haben sie immer im Gepäck. Wie die kultursensitive Pädagogik hier ansetzt, was Autonomie und Verbundenheit damit zu tun haben und warum es das eine passende pädagogische Angebot nicht gibt, weiß unser Autor.

Die Fachkräfte der Kita Sonnenschein sind irritiert. Die offenen Angebote, die sie den Kindern am Nachmittag in verschiedenen Räumen anbieten und die diese frei wählen können, werden von vielen Kindern mit Freude genutzt. Jedoch fällt auf, dass es einzelnen Kindern schwerfällt, dabei eine Entscheidung zu treffen. Manche Kinder wirken verunsichert. Als das Team die Situation analysiert und Gespräche mit Kindern und Eltern führt, wird deutlich, dass es neben den individuellen Unterschieden der Kinder auch kulturelle gibt.

So können viele Kinder mit ihren Vorerfahrungen gut die Offenheit des Angebotes annehmen, während andere eine stärkere Strukturierung gewohnt sind. Bei einer näheren Analyse stellt sich unter anderem heraus, dass diese Kinder mehrheitlich aus größeren Familien stammen, bei denen eine Orientierung an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gruppe im Vordergrund steht. Hier sind es die Kinder weniger gewohnt, individuellen Entscheidungen zu folgen.

Mit diesem Wissen beobachten die Fachkräfte in der Folge die Kinder noch genauer und können manche bisher irritierenden Verhaltensweisen besser einordnen. Sie verstehen sie nun nicht mehr als Auffälligkeiten der Kinder, sondern erkennen mögliche Diskrepanzen zwischen dem pädagogischen Angebot und dem kulturellen Hintergrund.
Nun schauen sie, wer mit der Offenheit der Angebote Schwierigkeiten hat und welche abgewandelte Form oder Unterstützung es dem Kind ermöglicht, optimal von den Bildungsangeboten zu profitieren.

Wie das Umfeld, in dem wir aufwachsen, uns prägt

Seit einigen Jahren wird es in der pädagogischen Arbeit immer bedeutsamer, bewusst mit Heterogenität umzugehen. Ein wichtiger Teil davon sind die Unterschiede, die sich aus verschiedenen kulturellen Hintergründen ergeben. Dementsprechend gibt es pädagogische Ansätze und Projekte, die sich explizit mit kultureller Vielfalt in Kitas auseinandersetzen.

Im Folgenden stelle ich Ihnen den Ansatz der kultursensitiven Pädagogik näher vor, der von der Entwicklungspsychologin Heidi Keller und ihrer Arbeitsgruppe entwickelt wurde. Den Hintergrund dieses Ansatzes bilden Erkenntnisse aus der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie. Diese zeigen, dass Menschen, die in vergleichbaren Umgebungsbedingungen aufwachsen, auch ähnliche Vorstellungen und Verhaltensweisen haben. Dabei finden sich, so Heidi Keller, Gemeinsamkeiten zwischen den Räumen, in denen Menschen sich sozialisieren, und dem jeweiligen Umgang mit Kindern sowie den pädagogischen Konzepten und Überzeugungen.

Die Bezugspersonen orientieren sich daran, die Kinder möglichst gut zu begleiten und auf das weitere Leben vorzubereiten. Weltweit betrachtet existieren nun aber ganz unterschiedliche Umgebungen und Lebensbedingungen. Daher finden sich auch unterschiedliche elterliche sowie pädagogische Konzepte und Handlungsmuster.
Kern des Ansatzes der kultursensitiven Frühpädagogik ist es, die unterschiedlichen Herangehensweisen im jeweiligen Kontext wahrzunehmen, zu verstehen und daraus unterschiedliche Handlungsweisen für den pädagogischen Alltag abzuleiten.

Kulturelle Unterschiede beziehen sich dabei nicht auf Herkunftsländer, Migrationserfahrungen oder unterschiedliche Religionen, sondern es stehen die Bedingungen des Aufwachsens im Mittelpunkt. Denn die Forschung hat gezeigt, dass das Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, die individuellen kulturellen Herangehensweisen besonders gut erklären kann. Das bedeutet zugleich außerdem, dass kulturelle Vielfalt in jeder Kindertagesstätte vorhanden ist, da ja auch Kinder und Eltern – je nach Familie – teilweise unterschiedlich sozialisiert wurden. Obwohl diese Unterschiede in manchen Einrichtungen nicht besonders groß sind und alle Eltern aus einer ähnlichen Region kommen, zeigen sich Kulturabweichungen durchaus auch im Kleinen, etwa bedingt durch die Familiengröße oder die Schichtzugehörigkeit.

Eine andere Kultur? Viel mehr als Nationalität!

Der Begriff der Kultur bezieht sich also nicht vorrangig auf Länder und Migrationshintergründe, sondern auf die Bedingungen des Aufwachsens. Diese können sich durch eine eher ländliche oder städtische Umgebung, die Anzahl der Familienmitglieder, die in einem Haus leben, oder auch den Bildungsgrad der Eltern unterscheiden. Um zwischen übergreifenden kulturellen Modellen zu differenzieren, hat es sich bewährt, zu untersuchen, wie Menschen mit den zwei grundlegenden menschlichen Bedürfnissen nach Autonomie sowie Verbundenheit umgehen. Ersteres schließt Aspekte wie Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung mit ein. Zu Letzterem zählt beispielsweise, sich in eine Gemeinschaft einzufügen und eigene Vorstellungen hinter die Wünsche und Bedürfnisse der Gruppe zurückzustellen. Sowohl Autonomie als auch Verbundenheit sind universelle Bedürfnisse, die für alle Menschen von Bedeutung sind.

Im kulturellen Vergleich zeigen sich jedoch Unterschiede hinsichtlich ihrer Gewichtung und Ausprägung. Mit zwei prototypischen Konstellationen, die als gut erforscht gelten, lassen sich diese Unterschiede übersichtlich darstellen. Die beide Prototypen verdeutlichen, wie überaus variantenreich sowohl die menschliche Entwicklung als auch die pädagogischen Herangehensweisen sind.

1. Autonomieorientierung

Dieser Prototyp ist charakteristisch für Mittel- und Oberschichtfamilien mit einem städtischen, postindustrialisierten Hintergrund. Die Familien bestehen aus Mutter, Vater und einem oder mehreren Kindern – die Sozialstruktur ist also kleinfamiliär. Handlungsleitend ist für diese Familien die psychische Autonomie. Eigene Gedanken, Wünsche und Vorlieben sowie die Unabhängigkeit von Personen werden früh betont.
Dies lässt sich an unterschiedlichen Phänomenen beobachten: Kinder, die in einer autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.ieorientierten Familie aufwachsen, bekommen bereits früh Auswahl- und Mitentscheidungsmöglichkeiten angeboten: Möchtest du lieber den blauen oder den gelben Pullover tragen? Sollen wir heute zu Oma fahren? Die Interaktionen zwischen Bezugspersonen und Säuglingen werden so gestaltet, dass dem Blickkontakt eine bedeutende Funktion zukommt. Über Face-to-Face-Situationen werden dem Kind Nähe und Liebe vermittelt. Von Angesicht zu Angesicht können Kinder besonders gut Selbstwirksamkeit erleben, da die Bezugspersonen Gesten, Mimik oder Töne der Säuglinge nachahmen oder aufgreifen und erweitern. Dies machen sie intuitiv in einem Zeitfenster von weniger als einer Sekunde.

Auf diese Weise können Babys bereits mit drei Monaten eine Verbindung zwischen ihrem Verhalten und der Reaktion der Bezugsperson herstellen und sich somit als selbstwirksam erleben. Säuglinge, die mit drei Monaten häufig Blickkontakt zu ihren Bezugspersonen hatten, entwickeln als Kleinkinder früher ein Bewusstsein dafür, dass sie eine eigenständige und von anderen getrennte Person sind. Da es bei der Autonomieorientierung wichtig ist, sich selbst als losgelöst von anderen Personen zu erleben, wird dies intuitiv von den Bezugspersonen unterstützt.

Spiele zwischen Bezugspersonen und achtzehn Monate alten Kleinkindern zeigten zudem, dass in eher autonomieorientierten Familien dieses Spiel häufig so strukturiert wird, dass die Bezugspersonen die Initiativen der Kinder abwarten und sich diesen dann anschließen und ihnen folgen. Dies unterstützt ebenfalls die psychische Autonomie des Kindes.

Die Verhaltens- und Denkweisen, die mit einem eher autonomieorientierten Hintergrund zusammenhängen, bilden zudem den Schwerpunkt der aktuellen pädagogischen Entwicklungen. Denn es stehen zunehmend Selbstbildungsaspekte und die offene Gestaltung von Angeboten und Kita-Strukturen im Mittelpunkt. Dies geschieht aus guten Gründen. Allerdings sind diese pädagogischen Entwicklungen nicht unbedingt für alle Kinder und Familien geeignet, da diese andere (kulturelle) Hintergründe mitbringen. In diesem Fall ist ein anderer Prototyp maßgeblicher.

2. Verbundenheitsorientierung

Der Prototyp der Verbundenheitsorientierung ist dagegen charakteristisch für nicht industrialisierte ländliche Gebiete. Hier ist das Leben großfamiliär strukturiert. Die Familien bekommen früh die ersten und haben häufig viele Kinder. Die Gemeinschaft steht im Mittelpunkt und im Zweifel auch über den Wünschen und Vorlieben der einzelnen Individuen. Auf Nachfrage geben Bezugspersonen – etwa im ländlichen Kamerun – an, dass es ihnen wichtiger ist, dass die Kinder die Wünsche von Eltern befolgen, als dass sie ihren eigenen Vorlieben nachgehen.
Bei den Interaktionen mit Säuglingen kommt dem Körperkontakt eine wichtige Rolle zu. Die Säuglinge werden nahezu permanent getragen oder gehalten und verbringen auch die Nächte lange Zeit gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern in einem Bett. Dabei haben die Kinder von Anfang an zahlreiche Bezugspersonen. Nähe und Wärme werden hier folglich sehr stark durch körperliche Nähe vermittelt.

Blickkontaktsituationen kommen viel seltener vor als bei einem eher autonomieorientiertem Hintergrund. Dies soll dazu dienen, dass Kinder nicht das Gefühl bekommen, dass sie im Mittelpunkt stehen, sondern sich stattdessen als Teil einer Gemeinschaft erleben.
Studien von Entwicklungspsychologin Heidi Keller und anderen ergaben, dass Kinder, die als Säuglinge weniger Blickkontaktsituationen erlebten – typisch für verbundenheitsorientierte Familienstrukturen –, sich auch später weniger als von anderen getrennte Person erlebten. Es bestehen auch Unterschiede in der Bereitschaft, zu teilen und Wünsche von Bezugspersonen zu befolgen.

Achtzehn Monate alte Kleinkinder, die in verbundenheitsorientierten Strukturen aufwachsen, erfüllen häufiger die Wünsche der Bezugspersonen als Kinder mit eher autonomieorientiertem Hintergrund. Wie ich mit Kolleginnen und Kollegen in einer Studie herausfand, ergreifen bei Spielsituationen in Familien mit stärkerer Verbundenheitsorientierung zunächst eher die Bezugspersonen die Spielinitiative. Die Kinder greifen diese dann auf und folgen ihren Bezugspersonen. In Kindertagesstätten mit diesem Hintergrund werden daher den Kindern auch eher Angebote gemacht.

Vielseitigkeit und Verständnis sind gefragt

Beide Prototypen stellen zwei kulturelle Muster dar, bei denen es sehr viele Mischtypen und Varianten gibt. Zentral für eine kultursensitive Herangehensweise ist es, diese Unterschiede wahrzunehmen und darauf flexibel zu reagieren. Dabei kann das Hintergrundwissen darüber, wie das Aufwachsen in Familien abläuft, ebenso helfen wie die Eltern zu fragen, was ihnen bei der Entwicklung ihrer Kinder wichtig ist und welche Unterstützung sie sich wünschen.

Das Wissen darüber kann es erleichtern, kindliche Verhaltensweisen und elterliche Wünsche besser einzuordnen. Zudem lassen sich dadurch die pädagogischen Angebote so (variabel) gestalten, dass sie für unterschiedliche kulturelle Hintergründe passend sind – und so zur Bildungsgerechtigkeit beitragen.

Wichtig dafür ist also zum einen das Wissen um unterschiedliche kulturelle Entwicklungspfade. Zum anderen kommt aber auch einer kultursensitiven Haltung eine zentrale Bedeutung zu. Das heißt konkret, dass pädagogische Fachkräfte offen und interessiert auf die Wünsche und Hintergründe der Eltern eingehen. Bei abweichenden Vorstellungen sollte geschaut werden, dass ein gemeinsamer Weg gefunden wird, der für alle Beteiligten gangbar ist. Das gegenseitige Verständnis spielt dabei eine wichtige Rolle. Weiterhin sollten Fachkräfte auf unterschiedliche Handlungsstrategien zurückgreifen können, um im Austausch eine für alle passende Lösung zu finden.

So kann es zum Beispiel für eher autonomieorientierte Kinder sehr passend sein, ein offenes Angebot zu erhalten, da sie dies schon gewohnt sind, während ein Kind mit einem verbundenheitsorientierten Hintergrund möglicherweise eher direkte pädagogische Angebote gewohnt ist. Beim zweiten Kind passt das offene Angebot nicht, es braucht ein anderes Angebot, damit es sich wohlfühlen und vollumfänglich partizipieren kann. Hier kann es passender sein, ein Angebot in dem Sinne zu machen: „Guck mal, du könntest das hier ausmalen.“

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 1-2021, S. 36-39