Mein Freund, der Baum

Philosophieren mit Kindern

Wie oft geben wir Kindern im Alltag die Möglichkeit, über ihr Leben nachzudenken – und das auch mitzuteilen? Unser Autor zeigt an eindrücklichen Beispielen, wie Kinder zum Erzählen über sich selbst angeregt werden und erfahren können: Es ist wichtig für andere, an meinen Erfahrungen teilzuhaben.

Warum redet Tim in der Geschichte des niederländischen Philosophen Berrie Heesen mit einem Baum? Oder warum beantworten neunzig Prozent der Fünftklässler eines Gymnasiums die Frage, ob man mit einem Stein befreundet sein könne, uneingeschränkt mit Ja? Ganz zu schweigen von den meisten Kindergartenkindern, für die es gar keine Frage ist, dass man mit einem Baum befreundet sein kann. Die Gründe dafür, die Kinder in nachdenklich-philosophischen Gesprächen offenbaren, geben einen ersten Hinweis darauf, warum es manchen schwerfällt, Geschichten von sich selbst zu erzählen.

Beginnen wir mit Tim: Er vermisst seinen Freund Ali. Darum redet er mit dem Baum. Er redet unentwegt und findet es gar nicht schlimm, dass der Baum nichts erwidert. Das erwartet Tim auch gar nicht. Er will nur seine eigenen Gedanken loswerden. Was sagt uns diese kleine Geschichte? Kinder reden gern mit Dingen, zum Beispiel mit Kuscheltieren. Häufig ist Reden eine Form des Internalisierens alltäglicher Erfahrungen. Durch Reden wird verarbeitet, was wir erlebt haben. Tim weiß die Haltung des Baumes, zuzuhören und nicht zu widersprechen, sehr zu schätzen. Wobei irgendwann bei ihm das Bedürfnis entsteht, sich Gedanken über den Lebensalltag des Baumes zu machen und sich in dessen Rolle zu versetzen. Es entsteht Neugier gegenüber dem „Gesprächspartner“.

Kinder, die sich vorstellen können, mit einem Stein oder Baum befreundet zu sein, erwähnen in der Begründung nicht selten den Umstand, dass sie diesem Gegenstand alles sagen könnten, weil er bekanntlich nichts weitererzählt.

Was kann ein Löwe?

Wie könnten Kinder angeregt werden, anderen Geschichten von sich zu erzählen und im Sinne des Philosophierens als Reflexion über das eigene Leben ins Nachdenken zu geraten, wobei dieses in der Gewissheit geschieht, jeweils über aufmerksame Zuhörer zu verfügen?

Folgendes kann hier im Kita-Alltag weiterhelfen: Eine moderierende Person legt ein Seil gerade im Raum aus und erklärt, dass es sich um eine Lebenslinie handele. Sie heftet möglichst viele symbolhafte Bildkärtchen an das Seil, etwa Zuckertüte, Fahrrad, Brottasche, Geburtstagskarte oder Geburtstagstorte. Den Vorschulkindern wird erklärt, dass die Bilder für wichtige Lebensereignisse stehen. Die Kinder werden gebeten, jedem Bild ein Ereignis zuzuordnen, an das sie sich erinnern können und das für ihr bisheriges Leben bedeutsam war. Dann werden die Kinder aufgefordert, eine Geschichte zu dem jeweiligen Bildereignis zu erzählen.

Wichtig ist dabei, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Kinder nur das erzählen, was sie selbst erlebt haben. Angesichts des wachsenden Medienkonsums selbst bei Kindern im Kindergartenalter kommt es zunehmend vor, dass Kinder, statt in dieser Situation von sich selbst zu erzählen, mediale Erlebnisse wiedergeben.

An die Erzählungen der Kinder kann die Moderatorin ein Gespräch anschließen über die zeitliche Abfolge bestimmter Ereignisse im Lebenslauf der Kinder und die Erinnerung daran:

  • Warum erinnert ihr euch besonders an dieses Ereignis?
  • Wie habt ihr euch in dieser Situation gefühlt?
  • Hätte die Geschichte auch anders verlaufen können? Wie?
  • Was hättest du tun können, damit es anders gekommen wäre?
  • Versucht einmal, eine Geschichte zu erfinden, die also nicht wirklich stattgefunden hat, in der ihr eine wichtige Rolle spielt.
  • Welche Geschichte findet ihr besser, die wirkliche oder die erfundene? Warum?


Nicht alle Kinder ergreifen die Gelegenheit, eine an die Bildkarte anknüpfende Geschichte zu erzählen. Die Moderatorin bietet den Kindern eine weitere Chance, indem sie einen Beutel mit verschiedenen Gegenständen ausschüttet und die Kinder bittet, ein Ding auszuwählen, das ihnen besonders gefällt. Auf ein Zeichen werden alle Kinder in der Runde aufgefordert, ihren Gegenstand in die Hand zu nehmen und ihm eine Geschichte zu erzählen.

Ein weiteres Beispiel, wie Kinder angeregt werden können, von sich zu erzählen, stammt unmittelbar aus der Schatzkiste des Philosophierens mit Kindern. Der Kindergruppe wird das Bilderbuch „Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte“ von Martin Balscheit vorgelesen, um über ein Thema zu philosophieren, dessen Bedeutung nicht nur in der kindlichen Lebenswelt fast täglich wächst: Wann bin ich ein guter Leo, wann eine gute Lea? Was muss ich dafür können, was nicht?

Doch bis zu dieser Fragestellung ist es noch ein weiter Weg. Zunächst einmal bedarf es eines Einstiegs, der die Kinder herausfordert, etwas von sich zu erzählen. Es beginnt deshalb mit drei Fragen: Was kannst du gut? Was kannst du nicht gut? Was würdest du gern können, was du bisher nicht kannst? Nachdem die Kinder diese Fragen beantwortet haben, kommt noch eine weitere Fragerunde, die den ersten Bezug zum Buch herstellt, hinzu: Was kann ein Löwe gut, was kann er nicht gut, was würde er gern können? Was kannst du besser als ein Löwe? Während die meisten Kinder, meiner Erfahrung nach, früher stets eifrig auf diese Fragen antworteten, zuckten viele in den vergangenen Jahren mit den Schultern und begnügten sich mit der Aussage: „Weiß nicht.“

Welche Gründe könnten das unterschiedliche Verhalten von Kindern in der Entwicklung ihrer Bereitschaft, Geschichten von sich zu erzählen, erklären? Pädagogische Fachkräfte und Grundschullehrkräfte, mit denen ich gemeinsam über dieses Phänomen beriet, warfen unter anderem die Frage auf, warum Kinder, die manchmal seit ihrem dritten Lebensjahr unablässig beobachtet, getestet und bewertet werden, noch selbst darüber nachdenken sollen, was sie gut oder nicht gut können, wo dieses doch regelmäßig von anderen übernommen wird?

Kann es sein, dass die Motivation, etwas von sich zu erzählen, nicht zuletzt davon abhängt, inwieweit das Kind Anlass zu der Vermutung hat, dass seine Gesprächspartner es ernst nehmen, ihm sorgfältig zuhören und sich nicht in der Position der Besserwissenden gefallen? Mit anderen Worten: Inwieweit beeinflussen Gesprächserfahrungen von Kindern, überwiegend mit Erwachsenen, deren Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbst als Gegenstand von Erzählungen zu erproben?

Erzählungen ohne Worte

Ein Plakat, das ich in verschiedenen Kitas und Grundschulen zu Gesicht bekam, verdeutlicht ein erstes Problem: ein Kind an der Hand seiner Mutter, Titel „Sprich mit mir!“, Studien des Bundesfamilienministeriums sowie des Statistischen Bundesamtes liefern ein erschreckendes Bild über den zeitlichen Umfang, der in den Familien für Gespräche mit Kindern zur Verfügung steht. Wie oft also erhalten Kinder in ihrem Lebensalltag die Gelegenheit, im Gespräch von sich zu erzählen? Hinzu kommt, dass Gespräch nicht gleich Gespräch ist. Manches, was unter diesem Begriff daherkommt, verdient den Namen nicht.

Wir unterscheiden im Wesentlichen drei Sorten von Gesprächen: das organisatorische Gespräch, das Erlebnisgespräch und das Nachdenkgespräch. Während das organisatorische Gespräch recht häufig vorkommt, gehört das Nachdenk-Gespräch zu den eher seltenen Formaten. Die organisatorischen Gespräche erscheinen häufig in Form von Planungsgesprächen, die wiederum oft als Selbstgespräche in Gestalt mehr oder weniger freundlicher Anweisungen stattfinden. Anregender für Erzählungen von sich erscheinen daher Erlebnis- und Nachdenkgespräche. Hier kann ein Wirgefühl entstehen, da Kinder merken, wie wichtig es für andere sein kann, an ihren Erfahrungen teilzuhaben und das Erfahrene möglicher weise gemeinsam zu deuten, zu hinterfragen und so das Tor für eine Selbstreflexion zu öffnen – womit wir wieder beim Philosophieren mit Kindern angelangt sind.

Der Philosoph Michel de Montaigne befindet: „Die nützliche und natürlichste Übung unseres Geistes ist, nach meinem Geschmack, das Gespräch.“ Und Philosoph Hans-Ludwig Freese erläutert: „Er hat dabei das auf Erkenntnis gerichtete Gespräch im Auge gehabt und nicht so sehr die belanglose Unterhaltung. Die Bedeutung von nichttrivialen Gesprächen zwischen Erwachsenen und Kindern für deren geistige und seelische Entwicklung kann gar nicht überschätzt werden. Kinder, mit denen wenig geredet wird, bleiben in ihrer allgemeinen geistigen, sprachlichen und emotionalen Entwicklung zurück. Wir verfügen heute über reiche wissenschaftliche Literatur, die den überwältigenden Einfluss der Gesprächskultur der Familie auf die Entwicklung von Kindern belegt.“

Der spanische Philosoph Fernando Savater ergänzt diese Aussage um den humanen Aspekt: „Mit jemandem zu reden und ihm zuzuhören bedeutet daher, ihn wie eine Person zu behandeln, zumindest zu beginnen, ihn menschlich zu behandeln.“

Aus der Erfahrung im Philosophieren mit Kindern, bei dem das Gespräch als zentrales Medium fungiert, lässt sich noch ein wesentlicher Grund ableiten, der es Kindern erschwert, von sich selbst zu reden. Ob in der Familie, in der Kindertageseinrichtung oder insbesondere in der Schule sehen sich Kinder vorwiegend Fragen ausgesetzt, die einen peripheralen, nebensächlichen Charakter aufweisen, und deshalb nicht zum Erzählen herausfordern. Peripherale Fragen zielen auf oberflächliche Kenntnis, auf Einzeleindrücke und auf oberflächliches Daten- und Faktenwissen. Zahlen werden memoriert, Begriffe und Namen als Etiketten auswendig gelernt.

Ganz anders verhält es sich hingegen mit Fragen im Bereich des existenzialen Erkennens, die das eigene, menschliche Dasein betreffen und somit einen philosophischen Ansatz für die Entwicklung entsprechender Denkbewegungen darstellen. Eine Erfahrung, eine Gegebenheit, eine Frage oder ein Wort berühren das eigene Selbstsein gegenüber der Welt derart, dass sich die ganze Person angesprochen und zu einer Antwort gerufen fühlt. Die Beziehung zur „Welt da draußen“ wird zu einem Geschehen, das die existenzial Betroffenen involviert, sodass sie sich ihm nicht entziehen können: „Ich bin gemeint!“ Der Bezug zum Philosophieren als Haltung, Methode und Inhalt ist unverkennbar.
Ein Beispiel aus dem Bereich des Philosophierens über Identität mag dieses verdeutlichen. Der Einstieg erfolgt über das Thema „Wie bin ich?“ und verläuft entlang weiterer, möglicher Fragen wie:
  • Bin ich, so wie ich bin, mit mir zufrieden?
  • Was kann ich an mir ändern, was nicht? Welche Gefühle kann ich empfinden und äußern, welche nicht?
  • Wie sehen mich die anderen? Ich bin so – andere sind anders.
  • Manchmal wäre ich gern wie ... Warum will ich manchmal anders sein?


Dieses Erkennen, das sich in den Erzählungen der Kinder widerspiegelt, kann zu „innerer Ich-Bildung“ und zu nachhaltigen Einstellungen beitragen, sie ist eine wichtige Quelle der Persönlichkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Philosophische Fragestellungen fokussieren den existenzialen Bereich von wesentlichen Mensch- und Lebensthemen. Schließlich ein kurzer Text aus dem Buch „Im Zwölfminutenwald“ von Franz Zauleck, der zum Philosophieren über das Verhältnis von „Schönem und Nutzen“ einlädt, aber ebenfalls nur mittels der Erzählungen von Kindern gelingen kann:


Drachen
Dörte und Anton hatten einen schönen Drachen. Selbst gebaut, ohne Hilfe. „Er hat nur einen Fehler“, sagte Dörte, „er fliegt nicht.“ Holgers Drachen hatte sein Papa gebaut. „Er fliegt wundervoll“, rief Holger, „aber er sieht langweilig aus.“


Die Kinder erzählen nach dieser Geschichte auf entsprechende Fragen hin, was sie bereits gebaut haben, wie das geschah, was sich als schwierig oder einfach erwies, wie das Werk ihnen und anderen gefallen oder nicht gefallen hat, was man damit machen konnte, ob es aus ihrer Sicht schön war oder einfach nur nützlich. Diese Erzählungen ließen sich auch im Sinne des Denkens in Bildern als Standbildbau inszenieren. Eine Situation wird von der Moderatorin vorgegeben, etwa „Ich überlege, was ich eigentlich bauen will“, und auf ein Zeichen hin versteinern die Kinder zu einem Menschen, der genau dies tut.

Alle weiteren, in den Erzählungen der Kinder vorkommenden Geschehnisse werden auf die gleiche Weise dargestellt. Der pädagogische Nebeneffekt dieser Methode: Hier kommen auch jene Kinder zu Wort, denen es an der für Erzählungen erforderlichen Sprachgewandtheit mangelt. Womit bewiesen wäre, dass sich Geschichten von sich selbst auch ohne Worte, lediglich durch Mimik und Gestik, auch mittels Symbolisierung von Begriffen erzählen lassen, gelegentlich eindrucksvoller, verständlicher und berührender als durch den Gebrauch von Sprache. ◀


LITERATUR
  • FREESE, HANS-LUDWIG (2000): Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente. Berlin: Ullstein/Beltz/Quadriga.
  • SAVATER, FERNANDO (2007): Tu was du willst. Ethik für die Erwachsenen von morgen. Frankfurt am Main: Campus Verlag

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
TPS 12-2019, S. 8-10






Verwandte Themen und Schlagworte