Alle Kinder sind Matheforscher

Numeracy im Kindergarten

Analog zum LiteracyLiteracy|||||Literacy in der frühen Kindheit und im Übergang zur Schule ist ein
Sammelbegriff für kindliche Erfahrungen und Kompetenzen rund um Buch-,
Erzähl-, Reim-und Schriftkultur
-Ansatz, der Erzähl-, Schreib- und Lesekompetenzen eines Kindes anbahnt, gibt es den bislang weniger bekannten Numeracy-Ansatz. Er regt Kinder gezielt zu Erfahrungen mit Zahlen, Mengen, Formen und Lösungsfindungen an und unterstützt die natürliche Neugier auf mathematisches Verstehen der Welt, die jedes Kind in sich trägt.

Mathematik prägt unseren Alltag. Sowohl Jungen als auch Mädchen sind bereits lange vor Schulbeginn von mathematischen Zusammenhängen fasziniert. Sie erkunden begeistert Zahlen, Formen und Muster.

BK Numeracy 250Die vierjährige Anna, zum Beispiel, lässt kaum eine Möglichkeit zum Zählen von Bäumen, Autos oder Punkten auf Marienkäfern aus und kann bereits sicher über 50 hinaus zählen. Blumenmuster mag sie besonders gern. Max, fünf Jahre alt, sortiert mit enormer Ausdauer die Fahrzeuge und Bausteine im Gruppenraum nach Farben, Formen und anderen Details und kennt fast alle Verkehrszeichen. Er weiß genau, ob sie wie ein Dreieck, Viereck oder Sechseck aussehen. Zählen kann er noch nicht so gut, deshalb vermeidet er den Gebrauch von Zahlen. Fynn hingegen hat bereits als Vierjähriger enorme Freude am Rechnen. Seine Lieblingsbeschäftigungen sind Sudokus, Zahlenrätsel und Fragen, wie z.B. »Wie viele verschiedene Aufgaben findest du zur Zahl 20?«. Hierbei ist es für ihn ein Leichtes alle vier Rechenoperationen anzuwenden.

So wie Anna, Max und Fynn verfügt jedes Kind über ganz besondere Stärken und vielfältige mathematische Kompetenzen, die es selbstbewusst zeigt. Alle Kinder sind autonome wissbegierige Lerner von Geburt an und eignen sich Lerngegenstände (auch mathematische) aktiv an. Diese konstruktivistische Sichtweise betont neben der Eigenständigkeit des Kindes ebenso seine Neugier und seinen Forscherdrang von Natur aus.



Frühe mathematische Bildung umfasst Möglichkeiten zum/zur:
  • Eins-zu-eins-Zuordnung
  • Zählen und Abzählen
  • Erkennen der Unveränderbarkeit von Mengen
  • Bilden von Reihenfolgen
  • räumlichen Orientierung
  • Vergleichen, Sortieren und Ordnen
  • Entdecken von Zahlen in der Umwelt
  • indirekten Rechnen
  • Erkennen von Mustern
  • Erfassen und Wahrnehmen von
  • Größen (Länge, Gewicht, Zeit, Volumen, Geld, Flächeninhalt)



 

Mathematik in der Kita?


Mathematik im Elementarbereich bedeutet nicht, Kindern schon vor der Schule die Zahlen oder das Rechnen »beizubringen«. In der frühen mathematischen Bildung geht es vor allem um den Erwerb mathematischer Basiskompetenzen, die es den Kindern ermöglichen, Mathematik in ihrer Welt zu entdecken. Das heißt, dass Kinder Vorgänge in ihrer Alltagswelt mit ihren bisherigen mathematischen Erfahrungen in Einklang bringen. Mathematik im Elementarbereich bedeutet also das mathematische Denken der Kinder zu begleiten und weiter zu entwickeln.

Hierfür bedarf es
  • einer professionellen pädagogischen Fachkraft,
  • eines anregungsreichen Lernumfelds,
  • gehaltvoller Aktivitäten und Interaktionsprozesse
  • sowie eines ganzheitlichen und komplexen Verständnisses von Mathematik.

Mathematik ist kein statisch abgeschlossenes System von Definitionen, Formeln und Beweisen, sondern eine sich dynamisch entwickelnde Wissenschaft, in der Problemlöseprozesse, mathematisches Tätigsein und entdeckendes Lernen eine wesentliche Rolle einnehmen.

Mathematik ist also mehr als die Beschäftigung mit Zahlen, das Zählen und das Rechnen von Aufgaben. Sie umfasst einerseits Inhaltsbereiche, wie Raum und Form; Zahl und Struktur; Maße, Zeit und Geld sowie Daten, Zufall und Wahrscheinlichkeiten und schließt andererseits wesentliche Prozessziele mit ein: Kreativ sein und Probleme lösen; Kommunizieren und Argumentieren; Begründen und Prüfen sowie Ordnen und Muster nutzen. Hinzu kommen mathematische Denk- und Handlungsweisen, wie z.B. das Klassifizieren und Vergleichen. Das mathematische Lernen im Kindergarten soll genau diesem komplexen und ganzheitlichen Verständnis von Mathematik Rechnung tragen.

Der Numeracy-Ansatz


»Numeracy« kann allgemein mit Alltagsmathematik übersetzt werden und bezeichnet Kompetenzen, die benötigt werden, um auf mathematische Anforderungen in alltäglichen Situationen angemessen zu reagieren. Das meint, dass Kinder sich auf eine Weise mit Mathematik befassen, die den Anforderungen ihres gegenwärtigen und zukünftigen Lebens entsprechen. Darin eingeschlossen sind natürlich auch spätere Herausforderungen des Mathematikunterrichts, jedoch nicht in erster Linie. Die Kinder erkennen und verstehen nach und nach die Rolle und Bedeutung der Mathematik in ihrer Welt.

Alltagsmathematik wird vor allem durch Spiel, durch Nachahmung und durch Eigenaktivität angeeignet. Numeracy-Kompetenz zeigt sich im verständnisvollen Umgang mit Mathematik und in der Fähigkeit mathematische Begriffe als »Werkzeuge« in einer Vielzahl von Kontexten einzusetzen. Dieses Verständnis von Mathematik entspricht dem im englischen Sprachraum bekannten »Numeracy-Ansatz« und kann mit dem im Bereich Sprache bereits seit längerem diskutierten und in der Praxis zunehmend akzeptierten »Literacy-Ansatz« verglichen werden.

Die Gestaltung und Begleitung frühkindlicher mathematischer Bildung, die einem solchen Verständnis folgt, sollte dementsprechend drei Bereiche umfassen:
  • Mathematik im Alltag,
  • Mathematik im Spiel und
  • Mathematik innerhalb offen gestalteter Lernangebote.

Nachfolgend sollen alle drei Bereiche exemplarisch erläutert werden.

Mathematik im Alltag

Beobachtungen im Alltag von Kindertageseinrichtungen zeigen eindrucksvoll, dass Kinder oft auf natürliche Art und Weise Mathematik betreiben. Mathematik im Alltag ist z.B. in vielfältigen Ritualen im Tagesablauf zu finden, nämlich:
  • im Morgenkreis die anwesenden Kinder zählen,
  • bei den Mahlzeiten den Tisch decken,
  • zu Geburtstagsfeiern Süßigkeiten verteilen,
  • vor dem gemeinsamen Kochen einkaufen gehen und mit Geld bezahlen,
  • beim Kuchenbacken die Zutaten abmessen und abwiegen,
  • beim Zähneputzen die Zeit der Sanduhr einhalten,
  • am Morgen das Datum und den Wochentag bestimmen,
  • ein Türchen im Adventskalender aufmachen,
  • beim Aufräumen Spielsachen ordnen und sortieren,
  • beim Wimmelbücher anschauen Raum-Lage-Beziehungen verwenden (neben, unter, rechts von ...)
  • sich bei der Körperpflege im Spiegel beobachten,
  • beim Spaziergang Formen von Verkehrszeichen erkennen oder Naturmaterialien sammeln, zählen, sortieren.


Die Situationen ergeben sich also im Alltag. Im engen Zusammenhang mit dem Beobachten und Dokumentieren kommt es nun darauf an, als pädagogische Fachkraft angemessen und mathematikspezifisch darauf zu reagieren. Die Lernbegleiter sollten z.B.

  • ein Gespür für mathematische Momente entwickeln, um bestimmte Situationen als mathematisch bedeutsam erkennen zu können,
  • diese Momente im Alltag der Kinder begleiten,
  • die mathematischen Ideen der Kinder einordnen und in Äußerungen der Kinder mathematisch bedeutsame Inhalte erkennen,
  • mathematisch nachfragen und produktiv reagieren,
  • mit Kindern über mathematische Sachverhalte in einen Dialog treten und ko-konstruktive Bildungsprozesse der Kinder untereinander moderieren.

Dementsprechend können Kinder also auf vielfältige Weise für Mathematik in ihrem Alltag sensibilisiert werden und zum mathematischen »Begreifen« ihrer Umwelt angeregt werden.



Materialien mit mathematischem Potential:
  • Bausteine in verschiedenen Formen und Farben
  • Gleiches Material in großer Menge, z.B. je 1000 Eisbecher, Eislöffel, kleine Holzwürfel, 1-Cent-Münzen ... (vgl. K. Lee, 2010)
  • Muggelsteine
  • Geobretter, Tangram, Pentominos
  • gemeinsam gesammelte Knöpfe, Wäscheklammern, Toilettenpapierrollen, Joghurtbecher, Schraubverschlüsse von Tetrapacks, Büroklammern...
  • Legeplättchen in verschiedenen Formen und Farben (Dreiecke, Vierecke, Kreise)
  • Verpackungsmaterialien
  • Naturmaterialien (Nüsse, Kastanien, Steine, Muscheln, Zapfen ...)
  • Spielwürfel in verschiedenen Ausführungen







Hilfsmittel zum Forschen und Entdecken:
  • vielfältige Messinstrumente (Waagen, Messbecher, Maßbänder, ...)
  • Zeichengeräte (Lineale, Schablonen, Zirkel ...)
  • Spiegel
  • Stifte (Bleistifte, Buntstifte ...)
  • Material zur Erforschung von Zahlenräumen und zum Schätzen
  • Taschenrechner
  • mathematische Spiele
  • Baumaterialien (Pappen, Schachteln, Röhren ...)
  • Nachschlagewerke und Sachbücher
  • Kindersuchmaschinen im Internet



 

Mathematik im Spiel

Im Elementarbereich herrschen informelle und non-formale spielerische Lernformen vor. Mathematische Bildung wird möglich, wenn die Kinder – vor allem im Freispiel – von sich aus mathematisch aktiv werden, z.B. wenn sie
  • in Rollenspielen, wie z.B. »Kaufmannsladen «, Zahlen- und Größenangaben verwenden,
  • bei Bau- und Legespielen mit Formen und Bausteinen agieren,
  • in Gesellschaftsspielen würfeln und Figuren setzen,
  • sich bei Bewegungs- und Versteckspielen im Raum orientieren,
  • bei Abzählreimen Zahlen verwenden,
  • Perlen und Knöpfen auffädeln,
  • beim Malen Muster oder Mandalas gestalten,
  • beim Spielen etwas ausschneiden und falten,
  • auf Fliesen hüpfen oder (Mais-)Labyrinthe durchlaufen,
  • die Wippe nutzen oder um die Wette laufen,
  • Sand oder Wasser in verschiedene Gefäße umfüllen.


Aktivitäten mit mathematischem Bezug sollten von den Lernbegleitern zunächst wahrgenommen werden und zu gegebener Zeit (um Spielaktivitäten auch nicht zu stören oder vorschnell zu unterbrechen) durch geschickte Impulse bzw. anregende offene Fragestellungen zu weiteren Denk- und Handlungsprozessen anregen. Dabei sollten die Kinder immer wieder Möglichkeiten erhalten, eigenen Denkwegen zu folgen und sich vertiefend mit mathematischen Phänomenen zu beschäftigen. Sie benötigen dazu Interaktionen mit einer Person, »die das mathematische Prinzip hinter ihrer Tätigkeit gemeinsam mit ihnen erschließt.« (Fthenakis u.a. 2009, S. 47). Eine solche Begleitung erfordert sowohl fachliche Professionalität als auch Sensibilität.

Mathematische Lerngelegenheiten ergeben sich jedoch nicht immer (was sie auch nicht müssen) und nicht jede Alltags- bzw. Spielsituation ist gleichermaßen mathematisch ergiebig. Ferner lassen sich natürlich auch Unterschiede zwischen den Kindern feststellen.

Manche Kinder finden zahlreiche Anregungen in ihrer Umwelt und werden von sich aus mathematisch tätig, ohne dass sich Erwachsene einmischen müssten. Andere Kinder jedoch benötigen stärker Impulse, Ermunterungen bzw. Anregungen für das Sammeln mathematischer Erfahrungen. Dementsprechend sollte eine kindorientierte mathematische Bildung auch bewusst initiierte offene mathematische Lernsituationen einschließen.

Mathematik innerhalb offener Lernangebote

Hiermit sind keinesfalls lehrgangsorientierte Förder- und Trainingsprogramme gemeint, bei denen größtenteils eine »Verschulung« beobachtbar ist, die defizitorientiert ausgerichtet ist und die Kinder als passive Konsumenten sieht. Das entspricht nicht dem hier vertretenen Numeracy-Ansatz. Er orientiert sich vielmehr an der offenen Arbeit, dem Lernen innerhalb von Projekten sowie in (Lern)Werkstätten bzw. an besonderen Settings, wie »Kinder erfinden Mathematik « (vgl. Lee, 2010) oder dem Einsatz offener mathematischer Spiel und Lernfelder (vgl. Fuchs, 2015).

Sie alle zeichnen sich neben der fachlichen Orientierung durch eine Orientierung am Kind und seinen Lernprozessen aus, das heißt, dass jedes teilnehmende Kind sich entsprechend seinem individuellen Entwicklungs- und Lernstand sowie seinen speziellen Interessen bei der Bearbeitung eines ausgewählten Rahmenthemas einbringen kann. Eine solche Sichtweise stellt mathematische Aktivitäten in den Mittelpunkt, die den Kindern erlauben, mathematische Konzepte zu konstruieren, zu reflektieren und sich kommunikativ auszutauschen. Sie können Lernbegleiter jedoch einerseits vor enorme fachliche Herausforderungen stellen und andererseits die stetige Reflektion eigener Lernerfahrungen verlangen.

Von Freispielsituationen grenzen sich offene Lernangebote dahingehend ab, dass Lernbegleiter problemorientierte Aktivitäten zu einem Thema mit vorher bewusst ausgewähltem Material anregen. Idealerweise können die Kinder zwischen verschiedenen offenen Spiel- und Lernfeldern (auch aus anderen offenen Angeboten) wählen. Das Thema selbst sollte durch eine gewisse Komplexität gekennzeichnet sein und Möglichkeiten des bildungsbereichsübergreifenden Lernens bieten. Jedem Kind steht ausreichend Zeit zur individuellen Auseinandersetzung mit dem Material sowie mit eigenen und angeregten Fragestellungen zur Verfügung.

Während sich mathematische Lernprozesse in Freispielphasen spontan aus den Handlungen und Ideen der Kinder entwickeln, werden sie in offenen Spiel- und Lernfeldern auf der Grundlage von Beobachtungen durch nicht einengende Anregungen, Impulse oder Problemstellungen initiiert. Solche offenen Lernformen sind durch eine Ausgewogenheit zwischen Lernen auf eigenen Wegen (Selbstbildung, Eigenkonstruktion) und Von- und Miteinanderlernen (soziale Interaktion, Ko-Konstruktion) gekennzeichnet. Der Auswahl geeigneter Materialien mit einem gewissen mathematischen Potential und einem hohen Aufforderungscharakter zum Forschen, Entdecken und Experimentieren kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu (siehe Kasten: Materialien mit mathematischem Potential). Offene Spiel- und Lernfelder sollten folgende Merkmale aufweisen:


Offenheit bzgl. vielfältiger Ideen und Vorgehensweisen
Die Kinder haben die Möglichkeit, das Thema bzw. das mathematische Problem auf unterschiedliche Weise zu bearbeiten, z.B. sich intuitiv heranzutasten, ausdauernd zu probieren oder systematisch vorzugehen (vgl. Problemlösestile nach Fuchs, 2006). Dabei können sie mit Material handelnd tätig sein (= enaktiv), Bilder zur Visualisierung malen (= ikonisch) oder auf mit Zahlen, Formen oder Figuren im Kopf operieren (= formal-symbolisch, vgl. die drei Repräsentationsebenen nach Brunner et al., 1971).


Offenheit bzgl. der Kreativität und der Vielfalt möglicher Entdeckungen
Das Thema, das Material oder anregende Impulse der Fachkraft sollten die Kreativität der Kinder unterstützen bzw. herausfordern und damit im Zusammenhang vielfältige (mathematische) Entdeckungen ermöglichen. Dies setzt eine offene und wertfreie Haltung der pädagogischen Fachkraft
gegenüber den Ideen der Kinder voraus. Die Fachkraft ist herausgefordert, unerwartete Situationen bzgl. origineller Ideen der Kinder (zunächst) auszuhalten und zu einem geeigneten Zeitpunkt zu hinterfragen bzw. selbst darüber zu reflektieren und im Idealfall aufzugreifen und auszubauen.

Offenheit bezüglich der Wahl von Hilfsmitteln
Den Kindern sollten zur Bearbeitung der Thematik verschiedene Materialien bzw. Hilfsmittel zur Verfügung stehen, die sie je nach Vorgehensweise bzw. Ideen individuell nutzen können aber nicht müssen (siehe Kasten: Hilfsmittel zum Forschen und Entdecken).

Eine Offenheit bzgl. der Dokumentation und Ergebnispräsentation
Die Kinder sollten alters- und entwicklungsgemäß verschiedene Anregungen zur Dokumentation und Präsentation ihrer Entdeckungen erhalten, z.B. das Aufmalen oder Abzeichnen, das Fotografieren, Eintragen in Tabellen, ins Forschertagebuch oder Weltentdeckerbuch, das Aufbauen von Ausstellungen, das Herstellen von Postern usw.

Eine Offenheit bzgl. der Kommunikation
Die Fachkraft sollte die Kinder zur Kommunikation untereinander und zur Interaktion miteinander anregen. Dies bietet sich während der Forscherphase aber auch in der Präsentations- und Auswertungsphase an. Hierbei können die Kinder je nach Alter, Entwicklungsstand und Interesse zum Vergleichen, Ordnen, Begründen, Argumentieren und Prüfen angeregt werden (vgl. Rathgeb-Schnierer 2012).

Eine Offenheit bzgl. der Teilnahme und Verweildauer der Kinder
Die Kinder sollten oft die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, ob und wie lange sie teilnehmen.

Trotz der genannten sechs Aspekte bezüglich der Offenheit mathematischer Spiel- und Lernfelder ist es empfehlenswert, bestimmte Rahmenbedingungen einzuhalten. Dazu gehören Struktur gebende und immer wiederkehrende Abläufe (Rituale), die den Kindern einerseits die notwendige Sicherheit und andererseits die größtmögliche Freiheit bieten. Hierfür wird von den Lernbegleitern sowohl ein großes Maß an Flexibilität und Spontanität als auch ein sensibles und angemessenes Zeitmanagement gefordert. Für den konkreten Ablauf offener Spiel- und Lernfelder hat sich deshalb eine dreigeteilte Schrittfolge bewährt: eine Einstiegsphase, eine Forscherphase sowie eine Präsentations- und Auswertungsphase.




Keine Angst vor Mathematik!

Die Einstellung und Haltung der Lernbegleiter zur Mathematik ist prägend für die mathematische Bildung der Kinder. Um die mathematischen Lernprozesse der Kinder im Alltag angemessen und authentisch begleiten zu können, sollten die pädagogischen Fachkräfte deshalb
  • selbst keine Angst vor Mathematik haben,
  • die Bereitschaft zeigen, sich (neu) auf Mathematik einzulassen,
  • im Idealfall eigene positive Erfahrungen mit mathematischen Problemstellungen gesammelt haben bzw. offen für neue mathematische Erfahrungen sein,
  • Freude, bestenfalls Begeisterung, am Mathematiktreiben erleben können und
  • sich selbst Zeit nehmen, die Faszination, die von Mathematik ausgeht, bei den Kindern und vielleicht auch bei sich selbst, zu spüren.


 

Fazit


Alle Kinder sind Matheforscher im Sinne des hier beschriebenen Numeracy-Ansatzes. Sie sollten viele Gelegenheiten bekommen, entdeckend und auf ihren eigenen Wegen sowie im Austausch mit anderen Mathematik zu erleben und zu entdecken. Es erscheint hierbei sinnvoll ein individuell geprägtes Verhältnis zwischen dem Nutzen mathematikhaltiger Alltags- und Spielsituationen sowie dem Schaffen offener mathematischer Lerngelegenheiten herzustellen. Letztere sollten – dem konstruktivistischen Lernansatz folgend – in erster Linie kindorientiert gestaltet werden.

Frühe mathematische Bildung ist sowohl von der Professionalität der pädagogischen Fachkräfte als auch von ihren Einstellungen und Haltungen dem Kind und der Mathematik gegenüber abhängig. Damit alle Kinder mathematische Kompetenzen zeigen und entwickeln können, brauchen sie folglich professionelle pädagogische Fachkräfte, ein anregungsreiches Lernumfeld, gehaltvolle Aktivitäten und Interaktionsprozesse, die sie herausfordern, mit Hilfe von Mathematik Probleme zu lösen und die Welt zu erkunden.




Leitideen einer frühen mathematischen Bildung nach dem Numeracy-Ansatz

Mathematische Spiel- und Lernaktivitäten sollten
  • die Kinder anregen, Mathematik in ihrer Welt und in ihrem Alltag zu entdecken und zu erforschen,
  • Neugier und Begeisterung der Kinder für Mathematik aufrechterhalten und stärken,
  • den Kindern Möglichkeiten eröffnen stets aktiv, kreativ und kooperativ zu sein,
  • innerhalb anregender mathematischer Lernumgebungen stattfinden,
  • lernmethodische und Problemlösekompetenzen der Kinder stärken,
  • immer als selbstgesteuerte konstruktive Prozesse verstanden werden, die es den Kindern ermöglichen,
  • eigene Ideen und Vorgehensweisen zu realisieren,
  • die individuellen Vorerfahrungen und Interessen der Kinder einbeziehen,
  • die Kinder zum mathematischen Denken und Handeln anregen,
  • die Kinder zur Kommunikation über Mathematik herausfordern,
  • sich an den mathematischen Grundideen orientieren,
  • durch eine ausgewogene Balance zwischen dem Nutzen mathematikhaltiger Alltags- und Spielsituationen und dem Schaffen offener mathematischer Lerngelegenheiten gekennzeichnet sein,
  • mathematische Basiskompetenzen in vielfältiger Weise berücksichtigen und
  • dazu beitragen, die Potentiale und Begabungen aller Kinder, einschließlich kleiner Matheasse zu entfalten und zu fördern.




Lese-Tipp

Das Buch »Alle Kinder sind Matheforscher « enthält zahlreiche Beispiele für die praktische Umsetzung offener Spiel- und Lernfelder mit authentischen Eigenproduktionen von Kindern sowie nähere Ausführungen zum Thema.
Mandy Fuchs: Alle Kinder sind Matheforscher. 224 Seiten, Kallmeyer 978-3-78004800-4 Euro 29,90




 

Literatur


  • Bruner J. S.; Oliver, R. & Greenfield, P. M. (1971): Studien zur kognitiven Entwicklung. Stuttgart: Klett Cotta
  • Fthenakis, Wassilios E., Schmitt, Annette; Daut, Marike; Eitel, Andreas; Wendel, Astrid (2009): Natur-Wissen schaffen. Band 2: Frühe mathematische Bildung. Troisdorf
  • Fuchs, Mandy (2006): Vorgehensweisen mathematisch potentiell begabter Dritt- und Viertklässler beim Problemlösen – Empirische Untersuchungen zur Typisierung spezifischer Problembearbeitungsstile – Begabungsforschung. Schriftenreihe des ICBF Münster, Bd. 4
  • Fuchs, Mandy (2015): Alle Kinder sind Matheforscher – Frühkindliche Begabungsförderung in heterogenen Gruppen. Seelze
  • Lee, Kerensa (2010): Kinder erfinden Mathematik – Gestaltendes Tätigsein mit gleichem Material in großer Menge. Weimar u.a.
  • Rathgeb-Schnierer, Elisabeth (2012): Mathematische Bildung. In: Kucharz, Diemut u.a.: Elementarbildung. S. 50-85. Weinheim/Basel


Erstveröffentlchung in Betrifft Kinder 08-09/2015, S. 22 - 27. Übernahme mit freundlicher Genehmigung vom Verlag Das Netz