Psychomotorik – ein Weg in die Gruppe

Die Brückenfunktion von psychomotorischen Bewegungsangeboten in Kindertageseinrichtungen

Nun steht Mats im Bewegungsraum schon wieder am Rand und will nicht mitmachen. Fordert die pädagogische Fachkraft ihn auf teilzunehmen, zieht er sich in die letzte Ecke zurück und bringt möglichst viel Abstand zwischen sich und die anderen Kinder. Im Gruppenraum zeigt er ein ähnliches Verhalten. Er sitzt zwar wenigstens am Tisch und mit etwas Überredungskunst auch im Stuhlkreis, aber er beteiligt sich nicht an den Gesprächen und nimmt keinen Kontakt zu anderen Personen auf. Raus in den Garten möchte er überhaupt nicht. Da alle Fachkräfte mit in den Garten gehen und kein zusätzliches Personal da ist, kann Mats nicht drinbleiben und steht direkt an der Tür zum Garten und weint. „Ach ja, die Corona-Kinder“, sagt die Kollegin kopfschüttelnd.

Da ist Fynn schon ganz anders. Er ist gerne überall dabei, spricht viel und sucht den Kontakt zu den pädagogischen Fachkräften, bringt sich im Sitzkreis ein, entwickelt viele Spielideen und hat ein hohes Bewegungsbedürfnis. Ist die pädagogische Fachkraft jedoch gerade beschäftigt, versucht er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Aufmerksamkeit zu bekommen. Erst an den Kleidern zupfen dann zerren, Stimme erheben bis hin zum Schreien. Mit anderen Kindern entstehen schnell Konfliktsituationen. Wer darf bestimmen, was gespielt wird? Wer bekommt welches Spielmaterial und wie viel davon? „Aber ich brauche doch alle Bauklötze für meine Burg!“ schreit Fynn und holt sich diese, auch wenn sie in den Bauwerken von anderen Kindern verbaut sind. „Ach ja, die Corona-Kinder“, sagt die Kollegin seufzend, nachdem die Bauklötze aufgeräumt und die Kinder auf dem Weg zum Mittagessen sind.

Beweggründe für herausforderndes Verhalten

Sicherlich gab es schon vor Corona ähnliche Situationen, in denen Kinder emotional und sozial herausgefordert waren, aber vor allem die Heftigkeit der Emotionen, mit denen Kinder wie „Mats“ und „Fynn“ zu kämpfen haben, ist auffällig und mit der dünnen Personaldecke nur schwer zu bewältigen. Verschiedene Studien zeigen, dass insbesondere sehr junge Kinder durch die Corona-Pandemie stark belastet wurden. Dies zeigt sich nun deutlich im Alltag der Kindertageseinrichtungen. Aktuell berichten viele Fachkräfte von Situationen dieser Art, da sie vermehrt auftreten und deutlich mehr Kinder Schwierigkeiten haben, ihren Weg in die Gruppen zu finden.

Verhaltensweisen wie sie Mats und Fynn zeigen, sind oft durch starke Bedürfnisse begründet, welche die Kinder versuchen zu erfüllen. Deshalb lohnt es sich, nach dem „Wozu macht das Kind das?" zu fragen. Oder anders ausgedrückt: „Für welches Problem stellt das gezeigte Verhalten bereits eine (wenn auch problematische) Lösung dar?“ (Arnold, 2007, S. 148). Herausfordernde Verhaltensweisen können aus dieser Perspektive als Aufforderung zum Dialog gesehen werden und schon das Verständnis, dass ein Verhalten nicht grundlos ist, kann die Situation bereites entlasten (vgl. Keßel, 2018, S. 130). Verstehen zu wollen, was die Beweggründe für herausfordernde Verhaltensweisen sind, heißt in Beziehung gehen, heißt sich gemeinsam auf den Weg machen. Und es bedeutet, Hypothesen zu (Grund-)Bedürfnissen und Entwicklungsthemen zu finden, um passfähige Angebote machen oder Impulse geben zu können.

Besonders im Spiel zeigen Kinder, was sie bewegt und in Bewegung werden Entwicklungsthemen von Kindern sichtbar. Deshalb können psychomotorische Zugänge neue Perspektiven eröffnen und Wege bieten für einen anderen Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen und Konflikten.

Psychomotorische Angebote als Wegbereiter

Volkamer und Zimmer (1986, S. 52) gehen davon aus, dass Kinder, die ein herausforderndes Verhalten zeigen, häufig ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Körper haben „und daraus resultierend wenig Vertrauen in ihre Fähigkeiten besitzen, den Anforderungen ihrer materiellen und sozialen Umwelt gerecht werden zu können. Diese Kinder leiden häufig unter einem mangelnden Selbstbewußtsein und haben ein unrealistisches Selbstbild.“Die Stärke psychomotorischer Angebote ist es, über Bewegung und Spiel in Kontakt zu kommen und positive Beziehungen zu Kindern aufzubauen, die es in anderen Situationen schwer haben in Kontakt zu kommen.

Psychomotorische Förderung verfolgt somit zum einen das Ziel, über Bewegungserlebnisse zur Stabilisierung der Persönlichkeit beizutragen und den Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes zu unterstützen, zum anderen soll jedoch auch Raum geboten werden, damit Kinder sich mit Bereichen befassen können, die sie herausfordern (motorisch, sensorisch, emotional, sozial). So ist es Kindern möglich über das Medium Bewegung sich mit sich selbst und ihrer materialen und sozialen Umwelt auseinanderzusetzen (vgl. Zimmer, 2022, S.22ff).

Wenn Kinder wie Mats sich zurückziehen und erst mal nicht mitmachen möchten, wird dies in psychomotorischen Settings akzeptiert, da die Freiwilligkeit eines der grundlegen Prinzipien psychomotorischen Arbeitens ist. Auch durch eine passive Teilnahme und Beobachtung kann Mats viele Eindrücke aufnehmen und für sich Entwicklungsimpulse mitnehmen. Dennoch wird Mats nicht alleingelassen. Er wird im Auge behalten und evtl. kann Blickkontakt aufgenommen werden, um herauszufinden, ob es Mats in seiner Beobachterrolle gut geht. Durch Beziehungsangebote kann die Fachkraft über Spielrollen (mit dem Rollbrett vorbeifahren und laut überlegen, ob es hier vielleicht eine Eisdiele gibt, in der man bei der Hitze mit leckerem Eis versorgt wird) oder über bewegungsorientierte Brückenangebote werden Mats immer wieder Möglichkeiten geboten, einen Weg ins Spiel und zur Gruppe zu finden. Beispiele für bewegungsorientierte Brückenangebote könnten ein Weg aus Teppichfliesen sein, der direkt an dem Platz von Mats vorbeiführt, eine Straße aus Balancierhölzern, die direkt vor seinen Füßen endet oder der Höhleneingang, der sich ganz in der Nähe von Mats befindet. Hierbei ist es wichtig, feinfühlig vorzugehen, keinen Druck aufzubauen und auf die Körperspannung und -sprache von Mats zu achten, um über den vorsprachlichen Dialog den richtigen Zeitpunkt und die passenden Angebote für Mats zu finden.

Was Kinder bewegt – Entwicklungsthemen verstehen

Da Psychomotorik nicht anleitend und direktiv ausgerichtet ist und mit dem Medium Bewegung arbeitet, bietet sie Spielräume an, in denen sich individuelle Beziehungsthemen in besonderem Maße zeigen können. „Menschen inszenieren ihr Leben, ihre Themen wie auch ihre Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen im leiblichen Spiel“ (Richter, 2012, S. 100).
Im Verstehenden Ansatz der Psychomotorik nach Seewald (2007) wird die Bewegung als „Bedeutungsphänomen“ aufgefasst. Somit sind Bewegungen nicht nur zielgerichtete Handlungs-abfolgen, sondern es gilt zu verstehen, was für subjektive Bedeutungen in der Bewegung liegen könnten. So werden die emotionalen und symbolischen Dimensionen der Bewegung hervorgehoben und die Psychomotoriker*innen und über das Spiel- und Bewegungsverhalten können Entwicklungsthemen des Kindes sichtbar werden.

So könnte bei Fynn zunächst die Vermutung nahe liegen, dass er es gewohnt ist, eventuell bedingt durch die Corona-Zeit, durchgängig die Aufmerksamkeit von Erwachsenen zu bekommen und keine Spielsachen mit anderen Kindern teilen zu müssen. Die Schlussfolgerung wäre dann vielleicht: dies ist in einer Kindertageseinrichtung nun nicht mehr möglich und Fynn muss lernen, Aufmerksamkeit und Spielzeug zu teilen. Im verstehenden Arbeiten in der Psychomotorik würden gefragt werden, welche Entwicklungsthemen sich in dem Verhalten von Fynn widerspiegeln. Eine Hypothese wäre, dass Fynns Entwicklungsthemen „Sehen und gesehen werden“ sowie „Nehmen und Geben“ sein könnten. Dies sind Beziehungsthemen, die von Seewald (2007) in Anlehnung an die psycho-sozialen Krisen von Erikson (1979) im ersten Lebensjahr verortet werden. Wenn Fynn diese Themen im ersten Lebensjahr nicht erfolgreich bearbeiten konnte (vielleicht mussten die Eltern Homeoffice und Kinderbetreuung gleichzeitig stemmen), werden diese Themen Fynn weiterhin beschäftigen. Er zeigt damit über sein Spiel- und Bewegungsverhalten seine Überforderung mit der Situation in der Gruppe. Psychomotorische Angebote, die Fynn die Möglichkeit bieten, diese Themen zu bespielen wären z.B. Fang- und Versteckspiele, bei denen hauptsächlich die Fachkraft in der Fänger- oder Sucherrolle sein sollte, damit sich Fynn gesehen und gefunden fühlt. Gleichzeitig kann die Fachkraft die Spielanlässe so gestalten, dass Fynn sich sicher fühlt und positive Erfahrungen aus den Spielen mitnehmen kann. Bei Fangspielen ist z.B. besonders wichtig, Varianten ohne Ausscheiden zu spielen, da sonst das Thema nicht gesehen – nicht dazu gehören im Vordergrund wäre und dies wiederum zu einer Verstärkung der Krise und nicht zu einer erfolgreichen Bewältigung beitragen würde.

Fazit – warum gerade Psychomotorik?

In psychomotorischen Angeboten geht es mehr um Begleitung als um Anleitung. Die Spiel- und Bewegungsideen der Kinder stehen im Vordergrund, werden gesehen, aufgegriffen und gemeinsam weiterentwickelt. Dennoch benötigen einige Kinder mehr Unterstützung, um mit anderen positiv ins Spiel zu kommen und über einen längeren Zeitraum im Spiel zu bleiben. Eine wertschätzende und ressourcenorientierte Begleitung, die sich an den Stärken der Kinder orientiert und jedem einzelnen Kind in einer Gruppe zugewandt ist, schafft eine Atmosphäre des Willkommen-Seins für alle Kinder und ist die Basis für eine entwicklungsförderliche Beziehung zum Kind. Dabei ist es wichtig, dass die Interessen und Wünsche der Kinder berücksichtigt und damit die Kinder als Individuen ernst genommen werden. Bei psychomotorischen Angeboten ist es üblich, Inhalte und Verlauf vorzubereiten. Dennoch ist der tatsächliche Verlauf der Stunde nicht festgelegt, da er sich im Dialog mit den Kindern prozessorientiert entwickelt. Durch diese großen Partizipationsmöglichkeiten für jedes einzelne Kind wird das Angebot für die Kinder zu „ihrem“ Angebot, wodurch die große Bedeutsamkeit der Angebote entsteht. Sie empfinden sich selbst als wirksam und haben auf diese Weise auch Möglichkeiten, die eigenen, persönlichen Themen einzubringen und zu bespielen (vgl. Martzy & Keßel 2019, S. 95).

Bei der Umsetzung von psychomotorischen Angeboten für Kinder ist eine psychomotorische Fort- oder Ausbildung empfehlenswert, wenn nicht sogar erforderlich. Um Kinder verantwortungsvoll begleiten zu können, sind Kenntnisse über psychomotorische Prinzipien, Konzepte und Ansätze und über die Bedeutung einer psychomotorischen Haltung notwendig. Denn je intensiver Kinder mit ihren Entwicklungsthemen in Berührung kommen und sich mit Fragen zu sich selbst auseinandersetzen, desto wichtiger wird die professionelle Begleitung, um den Raum passend zu gestalten, eine geeignete Rahmung zu gewährleisten und bei Bedarf Schutz zu bieten (vgl. Broxtermann & Martzy, i. D.). Weiterbildungen für pädagogische Fachkräftesind beispielsweise über Seminare der Deutsche Akademie – Aktionskreis Psychomotorik e.V. (dakp) möglich. Inhouse-Fortbildungen zum Thema Psychomotorik sind empfehlenswert, um das ganze Team ins Boot zu holen.

Literaturverzeichnis

  • Arnold, R. (2007). Aberglaube Disziplin. Heidelberg: Carl Auer.
  • Broxtermann, J. & Martzy, F. (im Druck). Familie bewegt. Dortmund: modernes lernen.
  • Erikson, E. H. (1979). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Hammer, R. (2004). Der verstehende Ansatz in der Psychomotorik. In H. Köckenberger & R. Hammer (Hrsg.), Psychomotorik – Ansätze und Arbeitsfelder (S. 164-186). Dortmund: modernes lernen.
  • Keßel, P. (2018). Umgang mit herausforderndem Verhalten und Konfliktsituationen – ein Beispiel psychomotorischer Arbeit im frühkindlichen Bildungskontext. In Althof, K. & Gebken, U. (Hrsg), Bewegung, Spiel und Sport für alle. Tagungsband zum 2. Essener Kinder- und Jugendsportkongress (S. 127-133). Hildesheim: Arete.
  • Martzy, F. & Keßel, P. (2019). „Im Prinzip psychomotorisch“ – Wie können Spiel- und Bewegungsangebote mit Kindern beziehungs- und entwicklungsfördernd begleitet werden? Nifbe Onlinetext #6, „Kita-Einstieg“ Fachtexte (S. 95-94). Zugriff am 08.Oktober 2023 unter https://www.nifbe.de/images/nifbe/Infoservice/Kita-Einstieg_Fachtexte_neu.pdf
  • Richter, J. (2012). Spielend gelöst. Systemisch-psychomotorische Familienberatung: Theorie und Praxis. Göttingen: V&R.
  • Schilling, F. (1986). Ansätze zu einer Konzeption der Mototherapie. Motorik, 9 (1), 59-67.
  • Seewald, J. (2007). Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. München: Reinhardt.
  • Volkamer, M. & Zimmer, R. (1986). Kindzentrierte Mototherapie. Motorik 9(2), 49-58.
  • Zimmer, R. (2022). Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. (15. Gesamtaufl.). Freiburg: Herder.

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Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung von
KiTa-Magazin 2-2023, S. 6-9


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