Kindliche Wut verstehen und begleiten

Wie wir in Konflikten in guter Beziehung sein können.

Lina sitzt in der Kita-Garderobe auf dem Boden und schluchzt. Alle Kinder stehen bereits an der Tür, um in den Garten zu gehen, aber das Mädchen ist verzweifelt. Sie findet ihren Schal nicht und möchte ihre Jacke nicht anziehen. Ihre Bezugspädagogin Marion meint aber, es sei zu kalt draußen und daher besteht sie auf das Anziehen der Jacke! „Lina, die anderen Kinder sind nun auch fertig, komm, schnapp deine Jacke und los geht’s!“ Lina verschränkt die Arme und ruft laut und deutlich: „Nein!“

Wenn Kinder sich ärgern

Entgegen der Annahme, dass Kinder erst mit Beginn der Autonomiephase Ärger spüren, fand der Universitätsprofessor Michael Lewis 1993 bei acht Wochen alten Säuglingen in einem Experiment spannende Erkenntnisse. In einem Versuch hatte Lewis Babys eine Schnur am Arm befestigt. Wenn die Babys daran zogen, tauchte plötzlich beispielsweise ein freundliches Bild in Verbindung mit einer Melodie auf. Die Babys verstanden den Zusammenhang zwischen ihrer Armbewegung und dem Bild schnell und wiederholten dies mit Freude. Doch Lewis wollte wissen, wie die Babys reagieren, wenn nach dem Ziehen an der Schnur kein spannendes Ereignis für sie eintritt. Dann zeigten sich die Babys ärgerlich und zogen mit mehr Kraft an der Schnur als zuvor. Ihr Ärger verfolgt demnach einen Sinn und hat das Ziel, durch die „Ärgerkraft“ das vorherige Ereignis wiederherzustellen. Sehen sie dann, dass durch ihr Ziehen wieder die vorherige Melodie ertönt und das Bild sichtbar wird, verändert sich der Ärger und es taucht Freude im Gesicht der Babys auf.

Die Babys sind also zuerst frustriert darüber, dass sich etwas Schönes verändert und reagieren daraufhin verärgert. Der Ärger ist keineswegs feindselig oder wie wir schnell annehmen „böse“, sondern dient bereits bei so jungen Kindern der Selbstbehauptung (vgl. Lewis 1993). Das spannende ist, dass Kinder schon in einem so jungen Alter, also mit circa zwei Monaten spüren, dass sie selbst etwas bewirken können. Mit zunehmendem Alter nehmen auch die Freude und Entdeckerlust zu. Bei sechs bis achtmonatigen Babys kann beobachtet werden, dass diese beginnen, anderen an den Haaren zu ziehen, zu kratzen oder zu beißen. Wir können davon ausgehen, dass dies aus Interesse geschieht, nicht aber um etwas oder jemanden zu schädigen. Interpretieren wir es als Botschaft, tun wir den Kindern damit Unrecht. Mit zunehmendem Alter wächst auch das Bedürfnis nach Autonomie, häufig auch Trotzphase genannt. Dabei geht es den Kindern darum, ihr Bedürfnis nach eigenem Tun und selbstständigem Handeln auszuprobieren.

Autonomie: Verteidigung statt Widerstand

Lina schaut zur Tür und ist hin und hergerissen. Angst, dass sie allein zurückbleibt, lässt ihr Herz schneller schlagen. Sie ist auf die Bindung zu ihrer Pädagogin und den Kindern angewiesen. Und dann sieht sie die Jacke und spürt, dass sie sich um nicht in der Welt tragen möchte. Sie kratzt so fürchterlich und die Ärmel sind von innen nass. Sie steckt on einem tiefen inneren Konflikt und weiß nicht weiter!

Das Streben nach Autonomie ist ein Grundbedürfnis, welches sich im Zuge der Abnabelung immer weiterentwickelt. Beginnen Kinder im Kleinkindalter zunehmend ihren Willen zu äußern, wird dieser schnell als widerwillig und anstrengend empfunden. Strenge und Strafen gefährden dabei leicht die Beziehung.

Kinder geraten in dieser Zeit leicht selbst in einen inneren Konflikt, den Fachkräfte achtsam begleiten sollten. Die Kinder fühlen sich zeitweise zerrissen: Sie haben das Bedürfnis sich verbunden zu fühlen und gleichzeitig streben sie nach Selbstwirksamkeit. Sie möchten Dinge probieren und entscheiden, ohne sich dabei zu stark von ihrer Bezugsperson zu lösen.

Das Wort Trutz ist die mittelhochdeutsche Form von Trotz und leitet sich von der Trutzburg ab, die im Mittelalter dazu dienen sollte, sich zu verteidigen und „Trutz“ zu bieten vor dem Fremden. Verstehen wir also die Autonomiebestrebung des Kindes, welches oft mit heftiger Frustration und auch aggressiven Handlungen einhergehen kann, als wichtige Kraft des Selbstschutzes, statt als Widerstand, birgt dies eine große Chance für ein achtsames Miteinander.

In der Autonomiephase kämpft ein Kind für sich und nicht gegen jemand. Diese Betrachtungsweise hilft den Fachkräften das Verhalten eines Kindes nicht als Angriff zu bewerten. Kinder gehen in der Regel keine Konflikte ein, um ihr Gegenüber zu testen, sondern um die eigenen Grenzen zu wahren und sich selbst treu zu bleiben.

Fühlen sich Kinder unverstanden und übersehen, gelangen sie leichter in einen Erregungszustand, den sie nicht mehr selbst beeinflussen und kontrollieren können. Einige Kinder trifft es so hart, dass sie in regelrechte Weinkrämpfe verfallen. Die veraltete Annahme, ein Kind würde „Theater machen, um den Willen durchzusetzen“ sollte zwingend umgedeutet wer-den, denn ein Kind befindet sich in der Regel in Not und ist auf haltgebende Unterstützung angewiesen. Wie stark ein Kind reagiert, ist zusätzlich abhängig vom individuellen Charakter, dem angeborenen Temperament und der Gefühlsstärke.

In beziehungsvollem Kontakt

Fachkraft Marion atmet tief durch und kniet sich zu Lina herunter. Sie erkennt die Not des Kindes und legt sanft ihre Hand auf Linas Schulter und sagt liebe-voll: „Weißt du Lina, mir ist wichtig, dass du warm bist und gesund bleibst, und du möchtest die Jacke absolut nicht anziehen?“ Lina schaut Marion erleichtert an und zeigt ihr den nassen Ärmel. Marion versteht und schaut im Kleiderfach nach. Daraufhin zeigt sie ihr eine kuschlige Fleecejacke und sagt: „Können wir die mit rausnehmen und wenn du frierst, dann ziehst du sie an?“ Lina lächelt und steht auf.

Marion ging es nicht darum Recht zu behalten oder das Kind zu belehren. Vielmehr möchte sie das Kind in ihrem Denken und Sein verstehen. Sie nimmt die Kinder als gleichwürdige Individuen wahr und respektiert ihre Gefühle und Bedürfnisse wie ihre eigenen. Natürlich hat sie den Kindern gegenüber einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, an dem sie die Kinder teilhaben lässt. Und gleichzeitig ist es ihr wichtig, dass die Kinder an allen möglichen Bereichen des Lebens beteiligt werden, sich selbstwirksam fühlen und eigene Erfahrungen im geschützten Rahmen sammeln können.

Sie nimmt die Kinder ernst, ohne dabei die Führung zu verlieren. Sinnbildlich fungiert sie als Leuchtturm, der den Kindern den Weg weist. Sie erkennt ihre Entwicklung an und weiß, dass Kinder ein Recht darauf haben in jeder Situation zu lernen und sich zu entwickeln, ohne sich für ihre Entscheidungen „falsch“ zu fühlen.

Als der Wind auf dem Spielplatz immer kälter wurde, lief Marion zu Lina und sagte: „Lina, ich empfinde es nun ohne Jacke zu kalt und habe Sorge, du könntest dich erkälten. Zieh bitte die Jacke drüber, du kannst sie auch gern offen lasse“.

In den vielzähligen Situationen, in denen Kinder in Konflikte geraten, sie durch tiefe Gefühle überströmt werden und sich aggressiv zeigen – also für sich kämpfen – sind sie auf Menschen angewiesen, die versuchen, das kindliche Verhalten zu entschlüsseln und ihnen Wege aufzeigen, wie sie ohne sich selbst oder andere zu verletzen, kommunizieren können.

Sie benötigen Vorbilder, die ihnen gewalt-freie Strategien aufzeigen und sich trauen, mit den Kindern in Kontakt zu treten – auf Augenhöhe und straffrei. So ist ein gemeinsames Wachsen in guter Beziehung möglich, ohne dabei über richtig und falsch nachzudenken. Vielleicht wissen wir manchmal nicht wie wir Situationen lösen können, dann fokussieren wir uns darauf, wie wir es in guter Beziehung erleben können. Aus einem gut gelösten Konflikt gehen alle Beteiligten als Gewinner und gestärkt hervor! Dieses Grundgefühl tragen Kinder in sich und tragen diese Wertschätzung in die Welt!


Literatur:

  • Hohmann, K. (2022), „Gemeinsam durch die Wut. Wie ein achtsamer Umgang mit kindlichen Aggressionen die Beziehung stärkt“ (Edition claus Verlag).
  • Wedewardt L. und Hohmann, K. (2021), „Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten in Krippe, Kita und KindertagespflegeKindertagespflege|||||Kindertagespflege oder Tagespflege umfasst eine zeitweilige Betreuung von Jungen und Mädchen bei Tagesmüttern oder Tagesvätern. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 ist die Tagespflege neben der Tagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen eine gleichwertige Form der Kindertagesbetreuung. “, (Verlag Herder).
  • Hohmann, K. (2022), „Augenhöhe statt Strafen. Beziehungsstark in Kita, Krippe und Kindertagespflege“, (Verlag Herder)
  • Lewis, Mi. (1993): The development of anger and rage. In: R. Glick und S. Roose (Hrsg.): Gage, Power, and Aggression. New Haven und Londen (Yale Univ. Press), 148-168

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus dem "Rundbrief Netzwerk Kita und Gesundheit Niedersachsen Nr. 18


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