Die Bedeutung sinnlicher Erfahrungen beim naturwissenschaftlichen Experimentieren

Zwischen Risiko und Resilienz



Bei der Formulierung „naturwissenschaftliches Experimentieren“ denken sicherlich die meisten von uns eher an Versuche mit chemischem oder physikalischem Hintergrund und weniger an Experimentiermöglichkeiten in der Fauna und Flora. Der Grund ist naheliegend: Aus ethischen Aspekten sind wir in der Tierwelt lediglich auf die Beobachterrolle zurückgedrängt und Experimente aus der Welt der Pflanzen sind limitiert, zum einen, weil sie oft lange dauern und zudem auf bestimmte Jahreszeiten angewiesen sind. Trotz dieser Einschränkungen wurden noch vor einigen Jahren biologische Themen in Kita und Grundschule häufig behandelt, während die handlungsorientierten chemisch-physikalischen Themen ein Schattendasein führten, obwohl Kinder grundsätzlich „durch Begreifen begreifen“ und für sie alle Themen ihres Umfelds gleich bedeutsam sind.

Chemische und physikalische Experimentierangebote in der Kita auf dem Vormarsch

Seitdem alle Bundesländer in ihren Bildungsvereinbarungen nun auch Themen der unbelebten Natur aufgenommen und viele pädagogische Fachkräfte in Fortbildungen und Eigenstudium mögliche Defizite der eigenen Ausbildung aufgeholt haben, rücken naturwissenschaftliche Experimente der Chemie und Physik vermehrt in die Kita – zur Freude der Kinder aller Bildungsschichten mit und ohne Förderbedarf. Gemeinsam mit Erfahrungen aus der Fauna und Flora wird so für alle eine vielperspektivische Sicht auf die Naturwissenschaften möglich.

Lern- und entwicklungspsychologische Aspekte für eine frühe Heranführung an naturwissenschaftliche Experimente

Bereits in den ersten Lebenstagen beginnen Säuglinge mit der Erkundung des sie umgebenden Umfelds etwa durch motorischen oder sinnlichen Kontakt. Motorik und sinnliche Erfahrung sind in den frühen Jahren der Zugang zur Welt. Auch Piaget hat die sensu-motorische Phase der Kinder zwischen null und zwei Jahren als die entscheidende Zeit für den Zugang zur Erfahrung der Umwelt angesehen. Die Bedeutung der sinnlichen Erfahrung hält weit über die frühen Lebensjahre hinaus an und wird auch in der Entwicklungspsychologie Erik Eriksons für die Zeit des Spielalters, in der die Kindergartenkinder voller Entdeckungs- und Wissensdrang ihre „Warum-Fragen“ stellen, und für die Zeit des Grundschulalters, in der das Werken eine besonders große Rolle einnimmt, hervorgehoben (Lück 2018, S. 34 ff.).

Sämtliche Reformpädagogen wie Pestalozzi, Petersen, Steiner und Montessori haben immer wieder die Rolle des Tuns und die Bedeutung der sinnlichen Erfahrung für das Lernen und Erleben betont. Auch das naturwissenschaftliche Experiment spielt bei der Heranführung an Naturphänomene wegen seiner Handlungsorientierung eine entscheidende Rolle und bietet darüber hinaus weitere Fördermöglichkeiten.

Naturwissenschaftliche Experimentierangebote in der Kita

Einem der ganz großen englischen Physikochemiker, Michael Faraday (1791-1867), wird folgendes Bonmot zugeschrieben: „Der einfachste Versuch, den man selbst durchführt, ist besser als das schönste Experiment, das man nur sieht.“ Mit seinen experimentell ausgerichteten Weihnachtsvorlesungen richtete er sich an die Londoner Bevölkerung und zog dabei ganz besonders auch Kinder in den Bann der Chemie und Physik (Day 1994, S. 409).

Gerade weil das Experiment eine so entscheidende Rolle bei der Hinführung zu Naturphänomenen hat, sind bei der Auswahl geeigneter Versuche eine Reihe von Aspekten zu berücksichtigen: Ohne Frage muss der Umgang mit den für die Durchführung der Experimente erforderlichen Materialien völlig ungefährlich sein. Zudem sollten die Experimente gelingen, wenn die Kinder die Phänomene beobachten sollen. Wichtig ist außerdem, dass die für die Durchführung der Experimente erforderlichen Materialien preiswert zu erwerben und leicht erhältlich oder sogar ohnehin in jeder Kindertagesstätte vorhanden sind, so z.B. Luft, Wasser, Salz, Zucker, Essig oder Teelichter.

Es ist förderlich, wenn die Versuche einen Bezug zur Alltagswelt der Kinder haben, um ihnen durch die Begegnung mit den Gegenständen eine Erinnerungsstütze zu bieten. Die Versuche sollten alle von den Kindern selbst durchgeführt werden können. Es hat sich bewährt, wenn die Experimente innerhalb einer überschaubaren Zeit von ca. 20 bis 25 Minuten abgeschlossen sind, um die Konzentrationsfähigkeit nicht zu sehr zu strapazieren, aber individuell gibt es große Unterschiede, was die Ausdauer der Kinder beim Beobachten und Hinterfragen betrifft.

Der sowohl für die pädagogischen Fachkräfte als auch für die Kinder schwierigste Teil des Experiments liegt in dessen Deutung, die in der Regel sprachlich formuliert wird, Anforderungen an das Abstraktionsvermögen der Kinder stellt, zugleich auch die Antworten auf die Warum-Fragen der Kinder liefert und ihnen ermöglicht, den Transfer von einem Phänomen zu einem anderen zu leisten. Die naturwissenschaftlichen Hintergründe zu den Versuchen sollten für Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter verständlich vermittelbar sein, um den Eindruck von Zauberei zu vermeiden. Dabei sollte an die bereits bestehenden Erfahrungen der Kinder angeknüpft werden und anhand von Analogien und Animismen der naturwissenschaftliche Hintergrund des Erlebten beleuchtet werden.

Kompetenzförderung durch sinnliche Erfahrung beim naturwissenschaftlichen Experimentieren

Das Experimentieren fördert Kindergartenkinder nicht nur in der Heranführung an naturwissenschaftliche Bildung, sondern zudem in vielfältigen anderen Kompetenzen: Neben dem Experimentieren, das durchaus Geschicklichkeit erfordert, sind visuelle, akustische und taktile Wahrnehmung gefordert. Gleichzeitig muss ganz genau beobachtet werden, und zwar zu einem vorgegebenen Zeitpunkt, denn ein wenig später ist vielleicht schon alles vorbei. Damit auch die anderen Kinder der Experimentiergruppe alles mitbekommen können, müssen sich alle für die Zeit des Experimentierens so ruhig wie möglich verhalten und dürfen den anderen nicht die Sicht nehmen. Damit spielen auch soziale Komponenten eine Rolle. Werden die Kinder aufgefordert, das Beobachtete zu formulieren, werden auch sprachliche Kompetenzen gefördert bzw. wird die sprachliche Ausdrucksfähigkeit nicht selten erweitert. Schon allein das Aufzählen der zum Experimentieren erforderlichen Gegenstände, die in der Regel bereits auf dem Experimentiertisch vorbereitet sind, bereitet manchem Kind Schwierigkeiten, wenn es den genauen Begriff Glas anstelle von Becher oder den Begriff Teelicht anstelle von Kerze wählen soll (Lück 2018, S. 119 ff.).

Frühe Naturwissenschaftsangebote für alle Kinder!

Bei der vermeintlichen Komplexität naturwissenschaftlicher Inhalte könnte der Verdacht aufkommen, dass eine frühe Heranführung an naturwissenschaftliche Experimente nur für einige wenige Kinder bildungsnaher Schichten förderlich sei, bei denen im Elternhaus naturwissenschaftliche Unterstützung zu erwarten ist. In zahlreichen Studien konnte belegt werden, dass Kinder aller sozialer Schichten von experimentellen Naturwissenschaftsangeboten profitieren. In einer jüngsten Studie, die im Folgenden vorgestellt wird, bestätigt sich erneut, dass insbesondere bei Kindern mit besonders hohem Unterstützungsbedarf naturwissenschaftliche Experimentierangebote auf besondere Akzeptanz stoßen.

Aufwachsen zwischen Risiko und Resilienz: Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter

Verschiedene Untersuchungen konnten diesen positiven Zuspruch von Kindern in besonderen Lebenslagen zu experimentellen Lernumgebungen bereits aufzeigen (Lück 2000; Langermann 2006). Entgegen den Erwartungen gelang es den im Elementarbereich untersuchten Kindern mit heil- oder sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, sich auf die Experimentierangebote einzulassen und sowohl Phasen der Durchführung als auch der Deutung aufmerksam zu verfolgen. Dabei zeigte sich neben der Erinnerung an die bereits durchgeführten Experimente vor allem das positive affektive Erleben während der konkreten Experimentierphasen als bemerkenswertes Ergebnis.

Die Kontingenz der Naturgesetze, also der immer gleiche und verlässliche Ablauf der Versuche und die daraus resultierende erlebbare Freude und Selbstwirksamkeit, sich als Urheber*in einer Handlung erleben zu können, werden als erste, vorsichtige Erklärungsansätze herangezogen (Langermann 2006). Dieses Erleben von Stabilität kann vor allem darum ein wichtiges Moment sein, da ein Kind mit Beeinträchtigungen oftmals Haltlosigkeit und Unsicherheit erfährt.

Besonderen Unterstützungsbedarf hat auch diejenige Gruppe von Kindern (ebenso Jugendlichen), die chronisch somatisch oder psychisch erkrankt sind. In der pädagogischen Literatur finden diese Kinder bisher kaum Beachtung, obwohl für etwa sieben Prozent aller Schüler*innen Erkrankungen wie beispielsweise Rheuma, Epilepsie, aber auch hyperkinetische Störungen diagnostiziert werden (Kölch & Nolkemper 2017). In den letzten beiden Jahrzehnten zeichnet sich eine deutliche Verschiebung des stationären Versorgungsbedarfs ab: Während bereits Anfang der 2000er Jahre immer weniger organische Krankheiten stationär versorgt werden mussten, ist hingegen eine Zunahme des stationären Versorgungsbedarfs von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten zu verzeichnen. Hierin ist gleichzeitig der relative Bedeutungsverlust der akuten Erkrankungen bei gleichzeitiger Zunahme chronischer gesundheitlicher Beeinträchtigungen gekennzeichnet (Ravens-Sieberer et al. 2007; Steffen et al. 2018; Warnke & Lehmkuhl 2011).

Die Entstehung psychischer Auffälligkeiten bereits in der frühen Kindheit lässt sich erklären mit Hilfe des Resilienz-Konzepts. Ein Aufwachsen unter widrigen oder aversiven Lebensumständen (sowohl intraindividuelle als auch umweltbezogene Faktoren wie beispielsweise Defizite in Emotions- oder Handlungsregulation oder defizitäre Formen der Eltern-Kind-Interaktion) erhöht die statistische Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Störung (Fingerle 2008; Hinz 2011). Allerdings führt das alleinige Vorhandensein einer solchen Risikoexposition nicht per se zu einem ungünstigen Entwicklungsausgang. Gleichzeitig muss die Ausgangslage mit nur einer niedrigen Ausprägung sogenannter protektiver Faktoren (auch: kompensatorische Faktoren, Ressourcen) kumulieren.

Differenziert in personale, familienbezogene, netzwerkbezogene sowie kulturell-gesellschaftliche Merkmale lassen sich hier eine Reihe von Schutzfaktoren ausmachen (Lösel & Bender 2008). Andersherum ausgedrückt: Verfügt das Kind beispielsweise über ein positives Selbstkonzept, erfährt einen positiven Erziehungsstil oder hat Zugang zu Bildungsangeboten, kann eine funktionale Adaption an diese aversiven Lebensumstände gelingen und ein günstiger Entwicklungsausgang erreicht werden: Dieses Kind wird als resilient bezeichnet (Noeker & Petermann 2008).

Je nach Schwere der psychischen Störung ist ein teil- oder vollstationärer Klinikaufenthalt bereits im (frühen) Kindesalter indiziert. Diese besondere Situation hebt jedoch keineswegs die Erziehungsbedürftigkeit und Bildungsfähigkeit des Kindes auf, ganz im Gegenteil: durch außerschulische wie schulische Bildungsangebote wird der Alltag rhythmisiert und strukturiert, das Kind wird aktiviert und kann sich bewähren, an persönlichen Zukunftsperspektiven arbeiten und sich durch das Erzielen von Erfolgen als selbstwirksam erleben (Wertgen 2013). Für die Beschulung im Krankheitsfall sind die sogenannten Schulen für Kranke oder Klinikschulen diejenige zuständige Institution, welche an die Kliniken der Kinderheilkunde angebunden sind. Bezogen auf das Land Nordrhein-Westfalen wird Klinikunterricht bei einem mindestens vierwöchigen (teil-)stationären Aufenthalt erteilt. Die Stundentafel ist in Umfang (ca. zehn Schulstunden pro Woche) und Fächerspektrum (in der Regel mit Fokus auf Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen) reduziert (Fesch und Müller 2014, MSW NRW 2005, Wertgen 2012 b).
Zwar stellt die Aufrechterhaltung von Unterricht im Krankheitsfall einen Schlüssel zur Teilhabe dar, da sie ungerecht verteile Zugangsmöglichkeiten vermeidet. Dennoch sind die geltenden Rahmenbedingungen durchaus kritisch unter der Frage nach Bildungsungerechtigkeit zu diskutieren (Wertgen 2012 a): So wird der mindestens vierwöchige Klinikaufenthalt nicht immer zu Beginn des medizinischen Behandlungsprozesses diagnostiziert; ebenfalls fraglich ist, warum naturwissenschaftliche Fächer nicht oder nur marginal im Fächerspektrum der Klinikschulen auftauchen, wenngleich doch der Aufbau einer naturwissenschaftlichen Grundbildung ein zentrales Bildungsanliegen darstellt (Prenzel et al. 2003).

Über den Beitrag hinaus, den ein basaler naturwissenschaftlicher Wissenskanon zur reflektierten Teilhabe an einer durch Technik und Naturwissenschaften geprägten Gesellschaft leistet, kann die Förderung naturwissenschaftlicher Kompetenzen bereits im frühen Kindesalter die Stärkung personaler Ressourcen wie hoher Selbstwirksamkeitserwartungen, Problemlösekompetenzen oder einem positiven Fähigkeitsselbstkonzept unterstützen (Pahl 2015, Schwippert u.a. 2020, Tenberge 2002).

Naturwissenschaftliche Experimente als (außer-)schulisches Bildungsangebot in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Ausgehend von der aufgezeigten Forschungslücke und der sich daraus ableitenden Forderung, naturwissenschaftliche Bildungsangebote auch in Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. den dortigen Schulen für Kranke zu verankern, werden im Folgenden die Umsetzung und Ergebnisse der Studie „Naturwissenschaftliche Bildung für (teil-)stationäre Patient*innen der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ skizziert (Zimmermann 2021). Ziel des Projekts war es, für Patient*innen der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Evangelischen Klinikums Bethel in Bielefeld im Alter zwischen sechs und 13 Jahren ein (außer-) schulisches Experimentierangebot zu realisieren. Vor dem Hintergrund der Bereitschaft, sich auf das Angebot einzulassen, sollten das positive Erleben während der Experimente gestärkt und Selbstwirksamkeitserfahrungen eröffnet werden. Neben diesem affektiven Beitrag ging es gleichzeitig um den Erwerb naturwissenschaftlicher Kompetenzen und damit insgesamt um den Aufbau bzw. die Stärkung protektiver Faktoren im Sinne des Resilienz-Konzepts.

Insgesamt wurden 16 differenzierte Experimentiereinheiten zu verschiedenen naturwissenschaftlichen Prinzipien oder Themen entwickelt (bspw. Löslichkeit oder Farben; in Anlehnung an Lück 2013, 2016, Pahl 2015). Die Angebote waren in sich abgeschlossen und unabhängig, um kurzfristig auf Neuaufnahmen oder Entlassungen seitens der Patient*innen reagieren zu können. Mit Methoden der qualitativen Sozialforschung (teilnehmende Beobachtung sowie problemzentriertes Interview; Breidenstein et al. 2015, Mayring 2016) wurden die Kinder während der Angebote begleitet, um durch die Gegenüberstellung von beobachtbarem Verhalten und Selbstauskünften ein umfassendes Bild von der Annahme und Bewertung der Experimentiereinheiten zeichnen zu können. Die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse erfolgte zunächst in Form von Einzelfallstudien in der Intention, den Untersuchungsgegenstand möglichst komplex abbilden zu können. Im Weiteren wurden störungsbildbezogene Fallgruppenvergleiche und schließlich die Gegenüberstellung der Ergebnisse aller 29 Einzelfallanalysen vorgenommen.

An dieser Stelle soll ein exemplarischer Blick auf zwei Einzelfälle sogenannter externalisierender Störungsbilder geworfen werden, da sich diese häufiger bei den jüngeren Patienten wiederfanden (Zimmermann 2021). PK4 war zum Zeitpunkt der vollstationären Aufnahme sechs Jahre alt und besuchte eine erste Klasse. Eine kumulierte Belastungsstörung des Sozialverhaltens und der Emotionen sowie eine einfache Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung stellten für ihn die Diagnosestellung dar. Sein auch in anderen Kontexten ambivalentes Verhalten war ebenfalls während der Experimentierangebote (sowohl außerschulisch als auch schulisch) beobachtbar: Einerseits waren immer wieder Impulsdurchbrüche und Phasen motorischer Ruhelosigkeit zu beobachten, andererseits zeigte er großes Interesse und eine kindliche Neugier an den mitgebrachten Experimenten.

Die Analyse der für PK4 gewonnenen Daten zeigt, dass er dem Experimentierangebot insgesamt eine hohe Akzeptanz entgegengebracht hat. Oft bewältigte er die Anforderungen der Durchführung, Beobachtung und Deutung des jeweiligen Experiments eigenständig. Dies ermöglichte ihm die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Störungsbildspezifische Verhaltensweisen prägten zwar die Angebote mit ihm, hielten ihn aber (größtenteils) nicht von der erfolgreichen Teilnahme ab.
P30 war Patient der Tagesklinik (teilstationäre Versorgungsform) und wurde im Laufe der Teilnahme neun Jahre alt. Als hauptsächliche Diagnose wurde eine hyperkinetische Störung gestellt. Die Experimentierangebote (schulisch) mit ihm wurden als herausfordernd erlebt, da er sich immer wieder als sehr impulsiv und ruhelos, mitunter ablehnend-oppositionell zeigte. Der Blick auf die Ergebnisse zeigt jedoch, dass P30 in den meisten Phasen des Angebots eine erfolgreiche Teilnahme möglich war. Vor dem Hintergrund seiner individuellen Möglichkeiten konnte er die Experimente zielgerichtet durchführen, beobachten und deuten. Erwartungsgemäß reagierte er zunächst in solchen Phasen unaufmerksam oder impulsiv, die ablenkende Reize beinhalteten. Dennoch schienen ihn die gewählten Themen zu interessieren, sodass sich P30 gut auf das Angebot einlassen konnte. Die positiven affektiven Reaktionen sprechen für seine Akzeptanz des Projekts.

Die Ergebnisse der beiden Einzelfälle spiegeln das Bild der gesamten Erhebung wider: Unabhängig des Störungsbilds und des Alters zeigten die Kinder und Jugendlichen vielfach positive affektive Reaktionen während der Experimentierangebote und verbalisierten in Abschlussreflexionen immer wieder positive Rückmeldungen. Die Bearbeitung der naturwissenschaftlichen Anforderungsbereiche (Reproduzieren: Durchführung des Experiments und Beobachtung; Wissen anwenden: Deutung des Phänomens; Transfer herstellen: Bearbeitung einer weiterführenden Fragestellung) gelang oft eigenständig oder mit Unterstützung.

Hierin können Hinweise gesehen werden, dass die Kinder vielfältige Gelegenheiten hatten, sich als selbstwirksam zu erleben. Insbesondere hat sich die Rolle sinnlicher Erfahrungen nicht nur beim Experimentieren selbst, sondern auch in der Deutungsphase als relevant herausgestellt: Die eigenständige Durchführung mit Hilfe einer kleinschrittigen Versuchsanleitung sowie die Nutzung handlungsorientierter Modelle und Analogien zur Erklärung der fachlichen Hintergründe konnte gerade für Kinder externalisierender Störungsbilder unterstützend wirken, ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf das Angebot zu lenken. Insgesamt kann das Anliegen des Projekts als bestätigt angesehen werden, ein naturwissenschaftliches Bildungsangebot in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. der dort angesiedelten Schule für Kranke umsetzen zu können und hierdurch die Patient*innen in der Stärkung personaler Ressourcen zu unterstützen.


Literatur

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