Entwicklung von MINT-Kompetenzen in der frühen Kindheit

Co-Autorin: Rahel Kästner


Die Diskussion um Bildung und Bildungsinhalte in Kindertageseinrichtungen wird intensiv und anhaltend geführt. Dabei ist unstrittig, dass frühe Lernerfahrungen große Bedeutung für die individuelle Entwicklung von Kindern besitzen. Dem Erwerb mathematischer und naturwissenschaftlicher Kompetenzen wird in unserer technologiebasierten Informationsgesellschaft zunehmend Bedeutung beigemessen. So gehören Mathematik und Naturwissenschaften inzwischen auch zu den fest etablierten Bildungsinhalten in Kindertageseinrichtungen. Während es sich bei den Naturwissenschaften um ein in den Bildungsplänen der Bundesländer etabliertes Bildungsfeld handelt, gehört die frühkindliche Bildung im Bereich Mathematik – ähnlich wie die sprachliche Bildung – zu den grundlegend zu erwerbenden Fähigkeiten. Mathematik wird in den meisten Bildungsplänen als wesentliches Element frühkindlicher Bildung aufgegriffen; aber nur in wenigen Bundesländern erhalten pädagogische Fachkräfte genauere Hinweise, welche Kompetenzbereiche zur mathematischen Bildung gehören und wie sie diese in Einklang mit frühpädagogischen Prinzipien im Alltag umsetzen können (Fthenakis et al. 2009).

Ganz selbstverständlich gehört Mathematik zum Fächerkanon der Grundschule, über zentrale Inhalte des Mathematikunterrichts dort besteht weitgehend Konsens. Für mathematische Bildung vor der Schule gilt dies nicht in gleichem Maße, am wenigsten im Krippenbereich. Hinsichtlich Relevanz, Inhalten und Umsetzung gibt es kontroverse Meinungen. Nach Gasteiger (2017) steht frühe mathematische Bildung im Spannungsfeld zwischen „Kind- und Fachorientierung“. Konzeptionen, Materialien oder Methoden früher mathematischer Bildung werden diskutiert.

Die konkrete Umsetzung liegt weitgehend in der Verantwortung der Kindertageseinrichtungen bzw. der dort tätigen pädagogischen Fachkräfte. Aus wissenschaftlicher Sicht herrscht national und international Konsens darüber, wie wichtig es ist, Kindern bereits früh mathematische Lerngelegenheiten in alltäglichen Situationen zu eröffnen und ihre Lernprozesse in diesem Bereich zu begleiten und entwicklungsangemessen zu unterstützen. Darüber hinaus wird immer wieder betont, dass frühes mathematisches Lernen der Forderung nach Anschlussfähigkeit im Übergang zur Grundschule genügen soll. Grundlegende mathematische Fähigkeiten, wie Zählen oder Mengenerfassung, haben Einfluss auf andere Bildungsbereiche wie auch auf die weitere schulische Entwicklung im Bereich Mathematik (Krajewski & Schneider 2009).

Fasst man die in der Literatur aufgeführten Prädikatoren arithmetischer Vorläuferfertigkeiten zusammen, werden übereinstimmend Klassifikations- und Seriationsleistungen, Mengenerfassung und -vergleiche, Zählfertigkeiten, Gedächtnisleistungen sowie räumliche und zeitliche Orientierung genannt. Dieses Vorwissen hat einen ganz entscheidenden Einfluss auf die späteren Leistungen im Mathematikunterricht der Grundschule.

Der naturbezogene Bildungsbereich wird in den Bildungsplänen unterschiedlich bezeichnet (z. B. Naturwissenschaft, Natur, naturwissenschaftliche Grunderfahrungen), weitestgehend Konsens herrscht bezüglich der übergeordneten Ziele früher naturwissenschaftlicher Bildung. Sie beziehen sich auf unterschiedliche Dimensionen und beinhalten vielfältige Sinneserfahrungen, ein erstes grundlegendes naturwissenschaftliches Wissen, Motivation und Interesse sowie das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, etwas herauszufinden (Steffensky 2018). Es sollen erste fundamentale Erfahrungen im Umgang mit Objekten, Lebewesen, Situationen oder Phänomenen gesammelt werden. In den Bildungsplänen geht es darum, Natur zu erleben, sie zu pflegen, zu erforschen, zu kennen, über Natur zu philosophieren, ihr emotional zu begegnen, Natur zu verantworten und mit ihr zu gestalten.

Die einleitenden Überlegungen führen zu der Frage, ob Kindern vor der Schule ein ihrer Entwicklung entsprechender Zugang zu mathematischen und naturwissenschaftlichen Phänomenen überhaupt möglich ist und wenn ja, auf welche Weise die Vermittlung frühkindlicher Mathematik- und Naturwissenschaftserfahrung in Kindertageseinrichtungen sinnvoll ist.

Entwicklungspsychologische Voraussetzungen

Kinder in Krippe und Kindergarten staunen über Naturphänomene, sie zählen begeistert, teilen Dinge mit anderen Kindern, stellen Vergleiche an – Mathematik und Naturwissenschaften wecken ihr Interesse. Das alles sind Hinweise auf einen günstigen Vermittlungszeitpunkt entsprechender Wissensinhalte. Für eine fundierte Begründung ist allerdings die Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, genauer der Kognitionsentwicklung, unerlässlich.

Bereits Säuglinge verfügen über Kompetenzen in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften. Ihr Wissen differenziert sich im Verlauf des Kleinkind- und Vorschulalters stark. Indem der Weg von früh angelegtem Kernwissen nachvollzogen und bedeutsame Entwicklungsmeilensteine identifiziert werden, lässt sich verstehen, an welcher Stelle im Entwicklungsprozess sich ein individuelles Kind oder Kinder einer bestimmten Altersgruppe typischerweise mit ihrem Entwicklungstand befinden. Erst diese Art der Analyse ermöglicht eine entwicklungspsychologisch fundierte Formulierung von Lernzielen und entwicklungsangemessenen pädagogischen Maßnahmen zum Erreichen von Entwicklungszielen in Inhaltsbereichen wie Naturwissenschaften oder Mathematik.

Vertreter bereichsübergreifender Entwicklungstheorien wie Piaget und Wygotski gehen davon aus, dass sich im Laufe der Entwicklung grundlegende qualitative Veränderungen im Denken vollziehen, die sich über alle Inhaltsbereiche gleichermaßen erstrecken, also auch Mathematik und Naturwissenschaften. Diese grundlegenden Entwicklungsschritte werden als kognitive Umstrukturierungen des Denkens verstanden, die daran erkannt werden können, welche Denkfähigkeiten ein Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt, um die Welt zu verstehen. Diese Denkschemata (siehe unten) und das daraus resultierende Verständnis können unabhängig von spezifischen Inhaltsbereichen z.B. beim Nachdenken über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge angewendet werden. Die klassischen Theorien fokussieren auf eine allgemeine Lernfähigkeit und domänenübergreifende Entwicklungsveränderungen.
Piaget beschreibt die geistige Entwicklung als Konstruktionsprozess, in dem Kinder Wissen insbesondere durch aktive Auseinandersetzung mit ihrer nächsten Umgebung aufbauen. Der Wissensübernahme durch erwachsene Bezugspersonen wird von Piaget kaum Bedeutung beigemessen. Neue Erfahrungen werden entweder in bereits Gelerntes eingeordnet (assimiliert) oder es kommt zu einer Anpassung vorhandener Vorstellungen als Reaktion auf neue Erfahrungen (Akkomodation). Diese Vorstellungen von bestimmten Objekten, Ereignissen oder Handlungen nennt Piaget Schemata. Noch heute sind Piagets theoretische Überlegungen einflussreich, die neuere Forschung hat allerdings gezeigt, dass Piaget die Konsistenz kindlichen Denkens über- und die kognitiven Fähigkeiten jüngerer Kinder unterschätzte. Richtig ist, dass Kinder vieles durch eigene aktive Auseinandersetzung mit der Umgebung lernen, aber nicht alles. Schon Säuglinge sind in der Lage, zum Beispiel durch Beobachtung bzw. die Imitation kompetenter Bezugspersonen zu lernen.

Das Lernen in sozialen Interaktionen ist Kern der Theorie Wygotskis: Kognitive Entwicklung von Kindern erfolgt durch gemeinsame Erfahrungen und den Austausch mit Erwachsenen und anderen Kindern – sozialer wie kultureller Kontext besitzen großen Einfluss auf ihre Entwicklung. Wygotski betont zudem die enge Verknüpfung von Denken und Sprache. Denkprozesse lassen sich auch aus Sicht der Informationsverarbeitungstheorien betrachten. Aus dieser Perspektive verändert sich die kognitive Grundstruktur anders als bei den domänenübergreifenden Theorien kaum. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass einerseits im Laufe der Entwicklung die Kapazität, neue Dinge abspeichern zu können, steigt, und sich andererseits die Prozesse rund um die Verarbeitung von Informationen zunehmend optimieren (im Sinne von schneller/mehr), so dass durch quantitative Veränderungen immer komplexere Denkformen möglich werden. Kognitive Entwicklung vollzieht sich nach dieser Vorstellung genetisch determiniert (Reifung), wobei der Umwelt und den Lernprozessen eine entscheidende Rolle für das bestmögliche Ausschöpfen der genetischen Veranlagung zuteil wird (Zusammenspiel von biologischen Anlagen und Erfahrung).

Anders als in den eingangs beschriebenen bereichsübergreifenden Theorien wird auch in bereichs- bzw. domänenspezifischen Theorien die Annahme vertreten, dass sich Denkstrukturen und Konzepte nicht qualitativ unterscheiden. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass bereits Säuglinge und Kleinkinder über intuitive Theorien und wissenschaftliche Konzepte verfügen (sogenanntes Kernwissen). Sie gehen davon aus, dass Veränderungen im kindlichen Denken in bestimmten Bereichen stattfinden und sich auf spezifische Inhalte beziehen. Angeborenes bzw. sehr früh erworbenes domänenspezifisches Wissen befähigt Kinder dazu, rasch weitere domänenspezifische Kenntnisse zu erwerben, vor allen Dingen im Bereich Numerik (s.o. Erfassung kleiner Mengen), über physikalische Objekte und Konzepte (z.B. Unterscheidung von Lebewesen und unbelebten Objekten, Zeit, Geschwindigkeit, Masse) und Menschen (z.B. die Vorhersage von Verhalten).

Um die domänenspezifische Informationsverarbeitung in Gang zu setzten, ist Input aus der Umwelt notwendig. Entscheidend für die Entwicklung von Wissen ist die sukzessive Anreicherung des früh vorhandenen Kernwissens. Allerdings scheint die bloße Akkumulation von Wissen nicht auszureichen. Daher wird davon ausgegangen, dass basierend auf dem Kernwissen, größere zusammenhängende begriffliche Systeme entstehen (intuitive Theorien), welche die Funktion haben, viele einzelne Phänomene eines Bereichs anhand weniger Grundprinzipien zu erklären (vgl. dazu u.a. Sodian 2018).

Im Gegensatz zu den genannten klassischen Entwicklungstheorien verfügen nach dem bereichsspezifischen Ansatz also bereits kleine Kinder über die Fähigkeit zur Konstruktion von Theorien, zur Überprüfung und Revision durch empirische Evidenz sowie zur Reflexion über diese wissenschaftlichen Aktivitäten. Wie Kinder Theorien bilden und weiterentwickeln, wird in verschiedenen bereichsspezifischen Theorien unterschiedlich gesehen.

Die Entwicklung des mathematischen Verständnisses in der frühen Kindheit

Wie lernen Kinder in der Sprache der Mathematik zu denken? Kinder begegnen früh mathematischen Phänomenen: Sie lernen, Dinge anhand ihrer Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zu kategorisieren, erfahren schon im Mutterleib und später dann in ihrer Familie den Wechsel von Tag und Nacht und weitere zeitliche Rhythmen bei Mahlzeiten und Tagesaktivitäten, sie entdecken gemeinsam mit Erwachsenen ihre räumliche Umgebung und dabei diverse Formen, Muster und physikalische Eigenschaften von Dingen (Fthenakis 2009). Diesen Lernprozessen zugrunde liegt wie oben beschrieben ein angeborenes, intuitives Basiswissen über mathematische Phänomene.

Der Bereich Mathematik umfasst weit mehr als den Umgang mit Mengen und Zahlen; u.a. die Beschäftigung mit (Un-)Ähnlichkeiten von Objekten, geometrischen Formen, räumlichen Beziehungen, Wahrscheinlichkeiten und dem Messen. Auch Muster und das Phänomen Zeit sind zentrale Inhaltsbereiche, die als Teil früher mathematischer Kompetenzentwicklung gelten (vgl. Gasteiger 2017). Die Entwicklung solcher Kompetenzen ist zudem untrennbar mit der Sprachentwicklung verknüpft.

Betrachtet man zunächst den Umgang mit Mengen und Zahlen (vgl. Zahlen-Größen-Verknüpfungsmodell; z.B. Krajewski, Grüßing, Peter-Koop 2009; Schneider, Küspert, Krajewski 2016), ist bekannt, dass Säuglinge schon in den ersten Lebenswochen in der Lage sind, Mengen zu unterscheiden – selbst dann, wenn Objekte unterschiedlich sind oder in Lage und Dichtheit unterschiedlich dargeboten werden (vgl. Antell & Keating 1983; Sophian 2008; Lorenz 2012). Kinder lernen zunächst – ausgehend von ihrem intuitiven Mengenverständnis –, welche Wörter für die Beschreibung von Zahlen („eins, zwei,…“) Mengen („viele, wenige,…“), Vergleichsworten („mehr, weniger,…“) und Operationen („dazutun, plus,…“) verwendet werden.

Neben dem Kennen und Aufsagen von Zahlworten ab einem Alter von circa zwei Jahren gehört zum Zählen, die Reihenfolge und Sortierung der Zahlen genau einzuhalten (= 1:1 Zuordnung). Vergleichbar mit dem Erlernen des Alphabets, lernen Kinder anfangs Zahlwörter auswendig aufzusagen. Erst im Alter von circa drei Jahren entwickelt sich das Verständnis, dass Vorwärtszählen auch mit Mehrwerden (= Ordinalitätsprinzip) einhergeht. So erfolgt auch eine Verknüpfung der Zahlen mit dazugehörigen Mengen, welche sich zunächst sehr unspezifisch auf grobe Kategorien („zwei und drei sind wenig“, „hundert und tausend sind viel“) bezieht, später jedoch eine punktgenaue Assoziation zwischen Zahlwort und entsprechender Menge („12 ist mehr als 11“) erlaubt (= Kardinalitätsprinzip).

Bei kleinen Zahlenräumen entwickelt sich bei Kindern damit einhergehend auch das Verständnis, dass Mengen in kleinere Teilmengen zerlegt werden können (= Teile-Ganzes-Schema) und dass sich eine Menge nur bei Hinzufügen oder Wegnehmen verändert und ansonsten konstant bleibt (= Prinzip der Mengeninvarianz). Schließlich beginnen Kinder in einem Alter von vier bis sechs Jahren, über einfache Rechenoperationen nachzudenken und beispielsweise zu verstehen, dass drei und drei immer sechs ist, egal, ob es sich um Autos, Puppen, Nüsse oder andere Dinge handelt.

Erfahrungen sammeln Kinder dazu zunächst beim Abzählen realer Objekte, später können sie die Objekte auch im Kopf repräsentieren. Erst dann gelingt es, Fragestellungen wie: „Was ist zwei plus drei“ sicher zu lösen. Dann lernen Kinder auch, sich im Zahlenraum durch Vorwärts- und Rückwärtszählen, durch Zählen von verschiedenen Startzahlen aus, Zählen in Schritten und das Ordnen und Vergleichen von Zahlen zu orientieren. Dabei hilft es ihnen, wenn die Begrifflichkeiten „vor“, „hinter“, „über“, „unter“ bereits im handlungsbezogenen Umgang gefestigt wurden. Sich in einem Raum zu orientieren, Situationen beschreiben zu können und mit Objekten gedanklich zu operieren, sind wichtige Vorerfahrungen für die Orientierung im Zahlenraum.

Eine wesentliche Grundlage für solche Orientierungsleistungen ist das räumliche Vorstellungsvermögen (= mentales Operieren mit Objekten), welches auf der Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung fußt. Wesentliche Teilbereiche der visuellen Wahrnehmung sind die visuomotorische („Auge-Hand“-)Koordination, die Figur-Grund-Wahrnehmung, die Wahrnehmungskonstanz, die Wahrnehmung der Raumlage und räumlicher Beziehungen (vgl. Schilling & Prochinig 2013).

Die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung und des räumlichen Vorstellungsvermögens bei kleinen Kindern wird im Wesentlichen durch eigenes „konkretes Tun“ geprägt: Kinder erfahren durch ihre Sinne (Augen, Hände, taktile Reize usw.) und die Koordination von Bewegungen zunächst das, was im Außen passiert; diese Erfahrungen werden internalisiert, so dass die räumliche Orientierung und das räumliche Vorstellungsvermögen es später ermöglichen, gezielt Formen und Körper wiederzuerkennen, auf Dinge zuzugehen, Orte wiederzufinden und auch Wege zu planen. (Schilling & Prochinig 2013).

Diese Kompetenzen ermöglichen es Kindern unter anderem, Muster und Strukturen überhaupt erst zu erkennen. Die Suche nach Gesetzmäßigkeiten, Beziehungen und Strukturen ist Kern des menschlichen Wesens und hilft dabei, sich in einer andernfalls „chaotisch“ anmutenden Welt zurechtzufinden. Benz et al. (2015) betrachten die Mathematik als „Wissenschaft der Muster“, welche sich durch Wiederholungen von Kombinationen, Reihenfolgen oder die Beziehung von Teil-Ganze-Mengen auf Basis vieler Erscheinungsformen (Zahlen, Grafiken, Bilder, Verhalten, Musik, Sprache und Bewegung) charakterisieren lässt. Wo Kinder zunächst selbst keine Strategien zur Strukturierung ihrer Umwelt erkennen, eignen sie sich diese durch Beobachtungen im Laufe der Zeit an, um sie letztendlich auch für die zielgerichtete Nutzung anzuwenden.

Ähnlich verhält es sich auch bei der Fähigkeit zum Sortieren und Klassifizieren. Kinder müssen lernen, Einzelheiten ihrer Umgebung Kategorien zuzuordnen, und Eigenschaften losgelöst vom Gesamtobjekt zu betrachten. Schon für Säuglinge ist es beispielsweise relevant, lebendige und menschliche Wesen von Unbelebten unterscheiden zu können. Das Bilden von Kategorien stellt eine große Abstraktionsleistung dar und ist eng mit der Sprachentwicklung verknüpft – so sortieren Kinder bspw. zunächst nach Farben und erst später nach anderen Eigenschaften wie Größe oder Form. Kinder lernen, innerhalb ihrer gebildeten Kategorien Beziehungen zwischen ansonsten unterschiedlichen Dingen herzustellen (= „erster wichtiger Schritt zum mathematischen Denken“).

Häufig wechseln Kinder zu Beginn spontan die Regel, nach der sie sortieren (beispielweise werden Autos erst nach Farbe, dann nach Größe sortiert). Erst später behalten Kinder ihre Sortierregel bei, mit Beginn der Grundschule sind sie in der Lage, Gegenstände nach mehreren Regeln bzw. Dimensionen gleichzeitig (z.B. Farbe und Größe) zu sortieren, und bisher fremde Sortierregeln zu erkennen (vgl. Benz et al. 2015).

Das Ordnen und Sortieren ist eine wichtige Vorläuferfähigkeit, um sich Wissen über Größen und das Messen von Längen, Flächen, Volumen, Gewicht, Zeit und Geld anzueignen. Dieses Wissen hilft Kindern, sich in ihrer Welt zu orientieren und stellt ein wesentliches Bindeglied zwischen der Arithmetik (Zahlen- und Mengenwissen) und der Geometrie (Wissen über Raum und Form) dar. Zahlen werden im Kontext von Größen zu Maßzahlen, das heißt sie dienen der Beschreibung von Sachverhalten (bspw. der Länge eines Schwimmbeckens, welches für das Seepferdchen durchschwommen werden muss).

Dieses Verständnis wird im Kindergarten angebahnt und in der Grundschule weiter ausgebaut. Hier spielt ebenso die Sprachentwicklung eine entscheidende Rolle: Kinder lernen zunächst, dass Größen Eigenschaften von Objekten sind (z.B. ein Zug ist lang) und erwerben so die Fähigkeit, zunächst zwei Objekte direkt miteinander zu vergleichen (z.B. der Vergleich, welcher von zwei Steinen schwerer ist). Später wählen Kinder dann selbstgewählte Maßeinheiten, um zwei oder mehrere Objekte miteinander zu vergleichen (z.B. wird die Höhe von zwei Tischen mithilfe einer Schnur verglichen), bevor sie im Grundschulalter dann standardisierte Maßeinheiten, wie Lineale, verwenden können (vgl. Benz et al. 2015).

Die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Verständnisses in der frühen Kindheit

In Spiel- und alltäglichen Routinesituationen draußen oder drinnen kommen Kinder mit einer Vielzahl naturwissenschaftlicher Phänomene in Kontakt. Sie stellen einen geeigneten Zugang zu Naturwissenschaften dar. Ihr Gegenstand sind die Beschreibung und vor allem die Erklärung der belebten (Biologie: Evolution, Vererbung, Ökosysteme, Lebewesen) und unbelebten Natur (Physik, Chemie und Teilbereiche der Geographie: Energie, Schwingungen/Wellen, Kräfte, Materie).

Viele naturwissenschaftliche Phänomene lassen sich beobachten, mit verschiedenen Sinnen erfahren und reflektiert erkunden. Steffensky (2018) beschreibt als Ziel solcher Bildungs- und Lerngelegenheiten die Entwicklung von Neugierde, Interessen und Motivation zur Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften sowie das Kennenlernen von Phänomenen, die im weiteren Bildungsverlauf aufgegriffen und ausdifferenziert werden können. Außerdem die Anbahnung von anschlussfähigen Vorstellungen, wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Lebewesen und nicht lebendigen Dingen.

Eng damit zusammen hängt das wissenschaftliche Denken. Wilkening und Sodian (2005, S. 137) definieren „Scientific Reasoning“ als die „Fähigkeit, Hypothesen zu generieren, zu testen sowie zu revidieren, und über diesen Prozess nachzudenken“. Weitere Aspekte des wissenschaftlichen Denkens bestehen im Problemlösen, im kausalen Denken (Ursache-Wirkungs-Verständnis) und Denken in Analogien (Dunbar & Fugelsang 2005).
Ab wann sind Kinder zu dieser Form wissenschaftlichen Denkens in der Lage bzw. welche Vorläuferfertigkeiten wissenschaftlicher Denkkompetenz in der frühkindlichen Entwicklung sind vorhanden, um naturwissenschaftliche Phänomene zu erfassen? Im Folgenden werden einige Meilensteine der prozeduralen (wissenschaftliches Denken) und konzeptuellen Ebene (inhaltliches Wissen) für den naturwissenschaftlichen Bereich skizziert:
  • Säuglingsalter (0-1 Jahre): Studien zum frühen Kausalverständnis zeigen, dass bereits sechs Monate alte Säuglinge über einfache Ursachen und Wirkungen von Ereignissequenzen nachdenken können. Sie stellen unterschiedliche Erwartungen u. a. an das Verhalten von Lebewesen und unbelebten Objekten und scheinen erste naturwissenschaftliche Kenntnisse, z.B. über fundamentale physikalische Prinzipien zu besitzen (siehe oben). So erwarten schon wenige Monate alte Babys, dass ein Objekt senkrecht zu Boden fällt, wenn sein Fall nicht gebremst oder durch ein anderes Objekt umgelenkt wird. Die bereichsspezifische Säuglingsforschung stellt dazu eine Fülle weiterer Untersuchungen zur Verfügung. Konkrete Erfahrungen und kommunikative Einbettung des Erlebten durch Bezugspersonen unterstützen die Entwicklung und das Lernen der Kinder bereits im ersten Lebensjahr.
  • Kleinkindalter (2-3 Jahre): Mit drei Jahren lässt sich bei Kleinkindern u. a. intuitives biologisches Wissen nachweisen. Obwohl diese frühen Kenntnisse noch defizitär sind, verstehen Kleinkinder bereits, dass einige spezifisch biologische Prozesse wie Atmung, Wachstum oder Selbstheilung nur bei Lebewesen und nicht bei Gegenständen vorkommen. Kinder sind also in der Lage, ihr frühkindliches Wissen zum beobachtbaren Verhalten belebter und unbelebter Objekte um ein differenzierteres funktionales Wissen einer vitalistischen Biologie anzureichern. Sie suchen jetzt nach Ursachen für Ereignisse, die dem Effekt zeitlich voraus gehen und zeigen erste Einsichten in kausale (= verursachende) Mechanismen. Schwierig ist es noch für sie, mehrere Objektzustände gleichzeitig zu repräsentieren und mit der korrekten kausalen Transformationsursache zwischen Anfangs- und Endzustand in Verbindung zu bringen. Das naturwissenschaftliche Wissen von Kleinkindern ist zudem fehlerbehaftet. Trotz verschiedener Fehlüberzeugungen (Misskonzeptionen) verfügen Kleinkinder jedoch bereits über inhaltliche Kenntnisse im biologischen oder physikalischen Bereich, die dem Wissen Erwachsener zumindest ähneln.
  • Vorschulalter (4-6 Jahre): Bereits im Alter von vier Jahren können Kinder zwischen fest und flüssig unterscheiden, wobei bei zähen Flüssigkeiten und elastischen, weichen Feststoffen Zuordnungsprobleme beobachtbar sind. Beim Übergang in die Schule können Kinder eine Flüssigkeit identifizieren, indem sie prüfen, ob die Substanz fließen kann oder den Vergleich der Flüssigkeit mit Wasser anstellen. Wasser ist der Prototyp für andere Flüssigkeiten. Vorschulkinder sind in der Lage Zustandsformen zu unterscheiden, Materielles (z.B. Bäume, Autos, Tiere) von Immateriellem (z.B. Dampf, Luft, Licht). Auch das Dichte-Konzept beginnt sich zu entwickeln und es können z.B. Prognosen über das Verhalten von Stoffen in Wasser getroffen werden. Im Vorschulalter erfüllen Kinder zentrale Voraussetzungen wissenschaftlichen Denkens: Sie verstehen fundamentale kausale Prinzipien und wenden dieses Kausalverständnis richtig an, wenn sie über Ursache und Wirkung nachdenken. Sie verstehen das Konzept der falschen Überzeugung und zeigen Ansätze zur bewussten Unterscheidung und Koordination von hypothetischen Annahmen und empirischen Evidenzen. Darüber hinaus wissen Kinder nun zunehmend, woher sie wissen, dass sie etwas wissen – sind sich also über den Ursprung ihres Wissens im Klaren. In dieser Entwicklungsphase beginnt zudem aus dem Denken mit Theorien allmählich ein Denken über Theorien zu entstehen. Noch ist das Wissen durch Misskonzeptionen und eine mangelnde Differenzierungsfähigkeit gekennzeichnet, dennoch beschreibt eine zunehmende Reihe von Studien das bereits vielfältig vorhandene Wissen, über welches Vorschulkinder bereits in naturwissenschaftlichen Domänen wie Biologie, Physik oder Chemie verfügen.

GrafikAbbildung 1 Bildungsprozesse im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften in Krippe und Kindergarten

Didaktische Überlegungen für die frühkindliche Bildung im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften

In Anbetracht der sich schon früh und zügig differenzierenden mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen im Altersbereich zwischen null und sechs Jahren, welche nicht zuletzt durch das große Interesse junger Kinder an der Beobachtung und der Produktion interessanter Effekte sowie an deren Erklärung durch eigenes Hinterfragen und Verstehen sichtbar werden, scheinen Kindertageseinrichtungen als erste Bildungsinstitutionen außerhalb des Elternhauses ein idealer Ort für den Beginn der mathematischen und naturwissenschaftlichen Bildung zu sein.

Entscheidend ist dabei die kindgerechte Aufbereitung von Bildungsinhalten. Während man zunehmend auf ein sich erweiterndes Kernwissen und -verständnis der Kinder zurückgreifen kann, bieten vorhandene Defizite und Fehlüberzeugungen fruchtbare Ansatzpunkte zur Erweiterung kindlichen Wissens und der verfügbaren prozeduralen Fähigkeiten im wissenschaftlichen Denken und Vorgehen. Pädagogische Fachkräfte sollten Kinder zudem auffordern, Erklärungen sprachlich zu formulieren, um den Prozess des Verstehens zu fördern und Fortschritte der Kinder mitverfolgen zu können (Carey 2000).

Eine mögliche Kommunikationsform stellt in diesem Zusammenhang auch das „sustained shared thinking“ (gemeinsam geteilte Denkprozesse) dar. Es beschreibt einen Dialog, in dessen Rahmen pädagogische Fachkräfte und Kinder bestrebt sind, ein Phänomen gemeinsam zu verstehen. Die Dialogform kann in vielen verschiedenen Alltagssituationen angewendet werden. Es geht dabei um die zugewandte Haltung von Fachkräften, gemeinsam mit Kindern etwas herausfinden zu wollen, Fragen zu stellen und mit Kindern zu imaginieren (was wäre wenn...). Warum- oder Wie-Fragen der Kinder können dabei als Ausgangspunkte genommen werden (vgl. Hopf 2012).

Die soziale Umwelt bestimmt entscheidend mit, was Kinder lernen und wissen. In allen menschlichen Kulturen werden Kinder beim Erwerb von Wissen unterstützt (vgl. Wood, Bruner, Ross 1976). Um Aufgaben zu vereinfachen oder deren Kernproblem hervorzuheben, werden simple Hilfestellungen und Hinweise gegeben, bis das Kind Aufgaben allein lösen kann (= Scaffolding). Häufig geschehen Unterweisungen auch beim Zuschauen und Dabeisein, wenn bestimmte Tätigkeiten verrichtet werden (= Co-Education).

Ahnert (2020) beschreibt, dass es darüber hinaus Fähigkeiten und Kenntnisse gibt, deren Erwerb in der jeweiligen Kultur so wichtig sind, dass direkte Unterweisung für notwendig erachtet wird. Wygotski setzte auf die Wirkung sozialer Vermittlung und hatte die Idee, Unterstützung an die Interessen des Kindes und an die Besonderheiten seines Entwicklungstandes anzupassen. Anregende Lernsituationen sollen dabei aber nicht nur auf das aktuelle Entwicklungsniveau des Kindes ausgerichtet werden, sondern vielmehr die „Zone seiner nächsten Entwicklung“ in den Blick nehmen. Danach muss die Bildungsvermittlung der kindlichen Entwicklung stets ein wenig vorausgehen. Was den Kindern zunächst in Zusammenarbeit und mit Hilfe erwachsener Bezugspersonen oder älterer Kinder gelingt, können sie kurze Zeit später dann selbstständig ausführen.
Aufgaben in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften sind so zu strukturieren, dass sie von Kindern schrittweise bewältigt werden können. Die jeweilige Aufgabenbewältigung kann vorgemacht werden (= Modeling), Kinder können gezielt angeleitet werden (= Coaching), durch gezieltes Nachfragen auf den richtigen Weg gebrachte werden (= Guidance), ihre Motivation durch Lob und Ermutigung aufrechterhalten werden (= Reinforcement). Zudem können Kinder selbst tätig sein. In letzterem Fall sollte ihnen von Zeit zu Zeit mitgeteilt werden, wie nah sie einem Ziel sind (= Feedback). Auch ist es wichtig, Kinder dabei zu unterstützen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Unbekanntes mit Bekanntem in Bezug zu setzten und Erklärungen zu finden. Neben der Planung von gezielten Bildungs- und Förderangeboten können Naturwissenschaften und Mathematik auch im Alltag so oft wie möglich aufgegriffen, thematisiert und versprachlicht werden. Für eine erfolgreiche Bildung und Förderung ist es neben dem im Beitrag beschriebenen entwicklungspsychologischen und der Ausschöpfung der abschließend skizzierten didaktischen Möglichkeiten unabdingbar, dass pädagogische Fachkräfte selbst eine interessierte und positive Haltung gegenüber naturwissenschaftlichen wie mathematischen Phänomenen besitzen und zeigen, welche sich – im Sinne eines Rollenmodells – auf die Kinder übertragen kann.

Literatur

  • Ahnert, L. (2020): Der Zusammenhang von Bildung und Bindung. In: J. Roos, S. Roux, Das große Handbuch frühe Bildung in der Kita. Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis. Köln, S. 111-120.
  • Antell, E., Keating, D. P. (1983): Perception of numerical invariance in neonates. Child Development, 54, 695-701.
  • Benz, C., Peter-Koop, A., Grüßing, M. (2015): Frühe mathematische Bildung. Mathematiklernen der Drei- bis Achtjährigen. Berlin.
  • Carey, S. (2000): Science education as conceptual change. Journal of Applied developmental Psychology, 21, 1, 13-19.
  • Dunbar, K., Fugelsang, J. (2005): Scientific Thinking and Reasoning. In: K. J. Holyoak, R. G. Morrison (Eds.), The Cambridge handbook of thinking and reasoning, pp. 705-725). Cambridge.
  • Fthenakis, W.E. (Hrsg.) (2009): Natur-Wissenschaften 2. Frühe mathematische Bildung. Troisdorf: EINS GmbH.
  • Gasteiger, H. (2017): Frühe mathematische Bildung – sachgerecht, kindgemäß, anschlussfähig. In: S. Schuler, C. Streit, G. Wittmann (Hrsg.), Perspektiven mathematischer Bildung im Übergang vom Kindergarten zur Grundschule. Wiesbaden, S. 9-26.
  • Hopf, M. (2012): Sustained Shared Thinking im frühen naturwissenschaftlich-technischen Lernen. Münster.
  • Krajewski, K., Grüßing, M., Peter-Koop, A. (2009): Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen bis zum Beginn der Grundschulzeit. In: A. Heinze, M. Grüßing (Hrsg.), Mathematiklernen vom Kindergarten bis zum Studium. Münster, S. 17-34.
  • Krajewski, K., Schneider, W. (2009): Early development of quantity to number-word linkage as a precursor of mathematical school achievement and mathematical difficulties: Findings from a four-year longitudinal study. Learning and Instruction, 19(6), 513-526.
  • Lohaus, A., Vierhaus, M. (2019): Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor. Berlin.
  • Lorenz, J.H. (2012): Kinder begreifen Mathematik – Frühe mathematische Bildung und Förderung. Stuttgart.
  • Lück, G. (2018): Handbuch der naturwissenschaftlichen Bildung in Kindertageseinrichtungen. Freiburg.
  • Schilling, S., Prochinig, T. (2013): Frühförderung Mathematik: Spiele und Lernanregungen für den Alltag. Schaffhausen.
  • Schneider, W., Küspert, P., Krajewski, K. (2016): Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen (2. aktualisierte und erweiterte Auflage). Stuttgart.
  • Sodian, B. (2018): Denken. In: W. Schneider, U. Lindenberg (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Weinheim, S. 395-422.
  • Steffensky, M. (2018): Frühe naturwissenschaftliche Bildung. Verfügbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/KiTaFT_Steffensky_2018-Fruehe_naturwissenschaftliche_Bildung.pdf (Abruf am 8.7.2021).
  • Wilkening, F., Sodian, B. (2005): Special Issue on “Scientific reasoning in young children”. Swiss Journal of Psychology. 64, 3, 137-217.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 4-2021, S. 6-13


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