Das Spannungsfeld, in dem sich vor allem Grundschullehrkräfte befinden - jedes Kind individuell, seinen Voraussetzungen, Interessen und Ansprüchen gemäß fördern zu wollen und sich gleichzeitig gültigen Standards und Selektionsaufgaben verpflichtet zu fühlen - ist schon länger Gegenstand bildungstheoretischer Diskussion. Über welche Perspektiven, Professionalisierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten verfügt aber die schulische Praxis?
Dieser Herausgeberinnenband ist die konsequente Fortsetzung des Buches „Jedem Kind gerecht werden? Sichtweisen und Erfahrungen von Grundschullehrkräften“ von Claudia Solzbacher, Birgit Behrensen, Meike Sauerhering, Christina Schwer (ebenfalls 2012 im Carl Link Verlag erschienen), in dem unter anderem die Einstellungen und der Umgang niedersächsischer Grundschullehrkräfte mit diesen Herausforderungen untersucht und dargestellt werden.

Erweiterte Perspektive

 

Den Auftakt des vorliegenden Buches bildet ein kurzer Überblick über die oben angesprochene Studie. Im weiteren Verlauf wird die Perspektive um unterrichtstheoretische und -praktische Aspekte erweitert. Diese werden, in fünf thematische Felder gegliedert und systematisch dargestellt.

 

  • Perspektiven und Orientierungen

 

Hier geht es um die zentrale Frage: Was bedeutet „individuelle Förderung“? Einstellungen und Ziele im Zusammenhang mit individueller Förderung stellen sich so heterogen dar, wie ihre Adressaten selbst. In diesem Band kommt auch das Thema der (Hoch-) Begabtenförderung nicht zu kurz. Die Grundschule als „gemeinsame Schule“ sieht sich mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, soll sie doch jedem Kind gerecht werden. Dies muss jedoch im Rahmen der (oft eingeschränkten) Gestaltungsmöglichkeiten der Einzelschule umgesetzt werden. Bedingungen und Möglichkeiten von Lernen und Lehren - auch in Hinblick auf die aus dem schulischen (Selektions-) Auftrag heraus entstehenden Spannungsfelder - werden in diesem Abschnitt aus unterschiedlichen Perspektiven (pädagogisch, sonderpädagogisch, psychologisch) betrachtet.

 

  • Gestaltung von Individueller Förderung in Unterrichtsprozessen – ressourcenorientiert und beziehungssensibel

 

Eine dementsprechend erkannte und akzeptierte Notwendigkeit, den eigenen Unterricht an die individuellen Ansprüche und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler anzupassen, stellt die Lehrpersonen vor neue Herausforderungen: Wie können fördernde Lernarrangements gestaltet, ihre Wirkungen erfasst und rückgemeldet werden? Welche diagnostischen und beratenden Kompetenzen sind dazu nötig und auf welche Weise kann man sie wertschätzend und unterstützend einsetzen? Mit diesen sehr konkreten Anforderungen an das pädagogische LehrerInnen-Handeln beschäftigen sich die Autorinnen im zweiten - und umfangreichsten - Themenfeld und berichten unter anderem aus der nationalen und internationalen Praxis.

 

  • Individuelle Förderung und Beziehungsgestaltung

 

Eine so beschaffene Lernkultur benötigt vertrauensvolle und kooperative Strukturen, nicht nur zwischen LernerInnen, sondern auch mit den Eltern der SchülerInnen. Die Auswirkungen auf die Selbstkompetenz und Entwicklung der Kinder unterstreicht die Bedeutung der pädagogischen Beziehung im Lern- und Förderprozess.

 

  • Individuelle Förderung und ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.  

 

Bereits in oben genannter Studie wurde deutlich: Lehrkräfte haben Bedarf an qualifizierter Fortbildung, um individuelle Förderung sicherer und konsequenter in den Unterrichtsalltag einzubinden. In diesem vierten Themenfeld blicken die AutorInnen auf denkbare Inhalte und Implementierungsmöglichkeiten solcher Grund- und Zusatzqualifikationen in der Aus- und Weiterbildung.

 

  • Individuelle Förderung und die Gestaltung von Zeit- und Lernräumen

 

Den Abschluss des Buches bildet die Betrachtung der Lernumgebung. Kann das Konzept der Ganztagsschule dazu beitragen, mehr individuelle Förderungsmöglichkeiten bereitzustellen? Und in welcher Wechselwirkung stehen Lernraum und Förderprozess zueinander? Antworten hierauf geben die beiden abschließenden Aufsätze.

 

Für Praxis und Wissenschaft

 

Den Herausgeberinnen gelingt es, mit dem Buch PraktikerInnen und WissenschaftlerInnen einen thematisch breiten Zugang zu einem reflektieren Umgang mit schulischer Heterogenität und der daraus abzuleitenden Forderung nach individueller Förderung zu ermöglichen. Ein Denk- und Entwicklungsanstoß, der nicht nur für die Grundschule - die sich als „Schule für alle“ in erster Reihe diesen Herausforderungen ausgesetzt sieht - immer mehr Bedeutsamkeit erlangt. Auch die aufnehmenden Schulen müssen ihre Rolle bei der individuellen Lernbegleitung überprüfen und weiterentwickeln, wie beispielsweise der Aufsatz von Lutz Thomas im vorliegenden Band zeigt.

 

Deutlich wird: Individuelle Förderung braucht nicht nur engagierte, sondern auch kompetente, kooperationsbereite und professionell handelnde LehrerInnen, damit langfristig aus der Herausforderung eine Selbstverständlichkeit wird.

 

Dipl.-Päd. Britt Nina Edelbruck
(Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Erziehungswissenschaft
AG Schulforschung/ Schulpädagogik)

  • Claudia Solzbacher, Susanne Müller-Using, Inga Doll (Hrsg.): Ressourcen stärken! Individuelle Förderung als Herausforderung für die Grundschule. Köln: Carl Link Verlag 2012, 423 Seiten, EUR 34,00, ISBN 978-3-556-06155-8.