KrippenpädagogikMit Macht strömen derzeit die Kleinsten in die wie Pilze aus dem Boden schießenden neuen Krippen sowie in die zunehmend altersgemischten Kindergartengruppen. Angesichts der vielerorts noch immer langen Wartelisten, rankt sich die öffentliche Diskussion fast ausschließlich um die Frage, ob der ab dem 1. August 2013 greifende Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige eingelöst werden kann und ob dafür die vorgesehene 35prozentige Versorgungsquote ausreicht. Doch neben den quantitativen sind auch die qualitativen Herausforderungen des Krippenausbaus enorm – denn verlangt werden von den schon tätigen und in der Ausbildung befindlichen pädagogischen Fachkräften sicheres Grundlagenwissen und systematische Konzepte für die Erziehung, Bildung und Betreuung der Kleinsten mit ihren ganz eigenen Bedürfnissen.

Das im Cornelsen-Verlag erschienene „Grundwissen Krippenpädagogik“ bietet für diese neue Herausforderung eine umfassende Hilfestellung – von den gesetzlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen über die Entwicklungspsychologie, die Bindungstheorie und den Beziehungsaufbau bis hin zur Raumgestaltung und konkreten Ansätzen der Förderung in verschiedenen Entwicklungsbereichen reicht das breite Themenspektrum des von Prof. Dr. Norbert Heuß herausgegebenen Bandes.
 

Bild vom Kind

Zugrunde liegt dem Fachbuch ein Bild vom Kind als individuelles, eigenständig agierendes und denkendes Subjekt, das sich in Wechselwirkung von genetischen Grundlagen und sozialen Interaktionen entwickelt: „Kinder besitzen von Geburt an bestimmte Fähigkeiten der Realitätsverarbeitung, der Problembewältigung und Beziehungsgestaltung.“ Insofern ist Kindheit nicht mehr, wie lange Zeit üblich, als defizitäres Stadium zwischen Geburt und Erwachsenenwerden anzusehen, sondern als der entscheidende Schritt für die gesamte zukünftige Entwicklungs- und Bildungsbiographie des Kindes.
 

Krippe als „strukturelle zweite Heimat“

Einleitend unterstreichen die AutorInnen, dass die „Betreuung und Bildung von Anfang an“ heute zu den wichtigen Grundsätzen einer sich erneuernden Bildungs-, Sozial- und Familienpolitik gehöre. KiTas böten dabei – immer unter der Voraussetzung entsprechender und in der Realität nicht immer vorhandener Qualitätsstandards - eine „strukturelle zweite Heimat“ und einen „Schutzfaktor“ für Familien in belasteten Lebenssituationen. So erhöhe sich beispielsweise laut einer im Buch zitierten Bertelsmann-Studie für den Durchschnitt der Krippenkinder die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, von 36 auf 50 Prozent.
 

Bindung und Beziehung

Breiten Raum nehmen in diesem Buch in der Folge die entwicklungspsychologischen Grundlagen ein und die ersten drei Lebensjahre werden als eine Phase zentraler Entwicklungsaufgaben sichtbar. An vorderster Stelle steht hier der Aufbau einer effektiven Bindung, die wiederum Grundlage für die Bildungsprozesse initiierende Exploration ist: „Nur wenn ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit befriedigt ist, werden sich Kinder erkundend und kontaktfreudig Neuem in ihrer Umwelt zuwenden.“

In der Krippe ist es daher auch die entscheidende erste Aufgabe der ErzieherIn, eine neue Bezugsperson neben den Eltern des Kindes zu werden. Dafür sei eine „elternbegleitete, abschiedsbetonte und individuelle Eingewöhnung“ notwendig, wie sie beispielsweise das im Buch vorgestellte „Berliner Eingewöhnungsmodell“ vorsieht.

Bewegung, sinnliche Wahrnehmung und Spiel

Die Raumgestaltung in der Krippe, so führen die AutorInnen aus, sollte ebenso dem Bedürfnis des Kindes nach Sicherheit und Geborgenheit gerecht werden wie auch zugleich zur Exploration und Selbststätigkeit anregen. Die Bewegung und die sinnliche Wahrnehmung stellen sich dabei in den ersten Jahren als die zentralen Entwicklungsmotoren dar: „Lernen ist untrennbar mit dem Begreifen, der unmittelbaren Sinnestätigkeit und eigentätigen Formen des Betrachtens, Erkennens und Handelns verknüpft. … Es sind die Wahrnehmungen, die im handelnden Umgang mit den Dingen zu Erfahrungen werden.“

In diesem Sinne komme es darauf an, dem Kleinkind auf einem breiten Spektrum eine möglichst anregungsreiche Lernumgebung mit vielfältigen sinnlichen und motorischen Erfahrungsmöglichkeiten anzubieten: „Entscheidend sind hier weniger gezielte Lernangebote, spezifische Materialien und Programme, sondern vielmehr Gelegenheiten zu alltäglichen und alltagsnahen, authentischen Erfahrungen mit allen Sinnen.“

Neben der Bewegung und der sinnlichen Wahrnehmung wird auch das Spielen in seinen verschiedenen Stufen  als „zentraler Modus kindlicher Welterschließung und eine der zentralsten, komplexesten und wichtigsten Bildungsbeschäftigungen in der frühen Kindheit“ ausgeführt. Spielen und Lernen zeigen sich dabei als untrennbar verbunden.

Strukturierter Tagesablauf

Hervorgehoben wird in dem Buch auch die Bedeutung eines überschaubaren, geregelten Tagesablaufs, durch den das Kleinkind die notwendige Sicherheit und emotionale Stabilität gewinnt, um für die ganz unterschiedliche Lernerfahrungen in der Krippe offen zu sein. Als klassische Schlüsselsituationen werden hier das Bringen und Abholen, die Körperhygiene, das Essen sowie Schlafen und Ruhe näher in den Blick genommen.

Professionelle Haltung

Abschließend thematisieren die AutorInnen auch noch die professionelle Haltung der ErzieherInnen in der Krippe und betonen: „Zum Kern von Professionalität gehört ein Selbstverständnis, das die Offenheit des pädagogischen Handelns und das Arbeiten in Ungewissheit als Aufforderung zur kontinuierlichen, fachlich fundierten Reflexion des eigenen Bildes vom Kind, des professionellen Selbstbildes sowie der pädagogischen Alltagssprache versteht.“ Dafür müsse auch zwingend das implizite alltägliche Handlungswissen explizit und damit erst bewusst und der Reflexion zugänglich gemacht werden. Kernkompetenzen der Krippen-ErzieherInnen seien dabei:

  • Feinfühligkeit und sensitive Responsivität
  • Erfahrungen gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit
  • Ressourcenorientierte Grundhaltung
  • Forschende Haltung

Resümee

Das „Grundwissen Krippenpädagogik“ überzeugt durch sein breites Spektrum, eine gute Strukturierung und ist zugleich wissenschaftlich fundiert und praxisorientiert – dazu tragen auch die (Reflexions-) Übungen am Ende eines jeden Artikel bei. So bietet das Buch sowohl eine gute Grundlage für Ausbildung und Lehre wie auch für das Selbststudium von ErzieherInnen und Leitungskräften.

Karsten Herrmann
 

  • Grundwissen Krippenpädagogik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Hrsg. von Norbert Heuß. Cornelsen: Scriptor, 272 S., 25,50 Euro