In ihrem Buch „Bildung und Erziehung in Deutschland“ nimmt das Autorenteam rund um Fabienne Becker-Stoll und Bernard Nagel sowohl die rahmengebenden Bildungs- und Orientierungspläne der Länder als auch zentrale Inhalte und neue wissenschaftliche Erkenntnisse der Elementarpädagogik in den Blick.

Mit den flächendeckend eingeführten Bildungs- und Orientierungsplänen sieht Bernard Nagel zunächst einmal den Bildungsauftrag von Kindertagesstätten eindeutig formuliert und in diesem Sinne die frühe Bildung als Fundament für das Bildungssystem.

 

In den Bildung- und Orientierungsplänen der zweiten Generation wird die Bildung ihm zufolge dabei durchgängig als sozialer Prozess konzeptualisiert: „Kinder, Pädagogen, Eltern und andere Personen werden als Ko-Konstrukteure von Weltverständnis und kindlicher Bildungsbiographie betrachtet.“ Eine Schlüsselrolle nehme so in der frühen Bildung die Qualität der Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen sowie der Kinder untereinander ein. Statt der Bildungsinstitution und vorgegebener Lerninhalte stehe das Kind und der Lernprozess im Mittelpunkt. Exemplarisch wird dies beispielsweise im hessischen Bildungsplan umgesetzt, der von 0-10 Jahren gilt und eine Reihe von „Bildungs-Dimensionen“ wie „Starke Kinder“ oder „Kinder als aktive Lerner, Forscher und Entdecker“ definiert und diesen konkrete „Lernfelder“ zuordnet.

 

Fehlende Konsistenz im Bildungsverlauf

 

Ein Grundproblem in Deutschland sieht Nagel jedoch in der noch weitgehend fehlenden Konsistenz des Bildungsverlaufs – spätestens mit dem Übergang in die Grundschule droht ein dramatischer Bruch im Hinblick auf das bis dahin gültige Bildungsverständnis und die sich daran anschließenden Bildungsziele. Hier mahnt er als ersten Schritt die Entwicklung von „Kommunikations- und Kooperationsmodellen“ zwischen beiden Bereichen an. Weitergehend müsse aber eine „Fokussierung auf individuelle Bildungsverläufe“ vorgenommen werden, „in denen die kindliche Bildungsbiographie und weniger die Bildungsinstitution in den Mittelpunkt rückt.“
Neben den Rahmenbedingungen hat sich in den letzten Jahren - insbesondere durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse - auch der inhaltliche Kern der Elementarpädagogik gewandelt. So werden heute, wie Ingrid Prameling Samuellson zeigt, das lange Zeit in Praxis und Wissenschaft getrennt betrachtete Spielen und Lernen als gleichwertige Dimensionen in der frühkindlichen Bildung angesehen: „Ein spielend-lernendes Kind konstruiert Sinn, kommuniziert und interagiert auf zwei Ebenen und nutzt die Variation als Quelle des Lernens im Spiel. Wissen wird damit zu einem persönlichen Bezug zwischen dem Kind und seiner Welt.“

 

Ohne Bindung keine Bildung
 

Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des Bayrischen Staatsinstituts für Frühpädagogik, stellt in ihrem Beitrag grundlegend klar, dass ohne Bindung keine Bildung und ohne Emotion keine Kognition stattfinden kann: „Am Anfang eines jeden Bildungsprozesses steht die emotionale Geborgenheit in der sicheren Bezugspersonen-Kind-Beziehung.“ Weiter führt sie aus: „Frühkindliche Bildung gelingt dann, wenn Kinder als aktive Lerner betrachtet werden, die pädagogische Fachkraft auf die individuelle Entwicklung des einzelnen Kindes eingeht, Spielen als wertvolle Aktivität des Kindes verstanden wird und Lerngelegenheiten sinnvoll in den Alltag des Kindes und ihrer Initiativen eingebunden werden.“
Ausgehend von dieser Grundlage werden im vorliegenden Buch weitere elementarpädagogische Themenfelder aufgefächert und neue wissenschaftliche Erkenntnisse sowie Praxisbeispiele dazu präsentiert – von der eine zentrale Rolle spielenden „Förderung lernmethodischer Kompetenzen“ über „Familie als Bildungsort“ oder „Mathematik und Naturwissenschaften im Elementarbereich“ bis zum „Übergang Kindergarten – Grundschule.“
Das Buch liefert so eine Fülle von interessanten Einblicken und Erkenntnissen zum Stand der Bildung und Erziehung in Deutschland und beleuchtet dankenswerter Weise auch einmal die Entwicklung und Einführung der den Rahmen vorgebenden Bildungs- und Orientierungspläne der Länder. Für deren erfolgreiche Umsetzung identifiziert Bernhard Nagel fünf entscheidenden Punkte: „die Relevanz der Inhalte, die Akzeptanz in der Gesellschaft, die Strategie der Implementierung, die Bereitschaft der Verantwortungsträger und die Fachkompetenz des pädagogischen Personals.“ Hinzuzufügen wäre eine weiterer entscheidender Punkt: Ausreichende Finanz- und Zeit-Ressourcen für die Kitas und das unter starkem (Reform-) Druck stehende pädagogische Fachpersonal!
 

Karsten Herrmann

 

  • Fabienne Becker-Stoll, Bernhard Nagel: Bildung und Erziehung in Deutschland. Pädagogik für Kinder von 0 bis 10 Jahren. Cornelsen Scriptor, 222 S., 21,95 Euro