Elternratgeber gibt es inzwischen wie Sand am Meer. Sie suggerieren gerne den Eltern, nur einem bestimmten Konzept konsequent folgen zu müssen, und schon schreit ihr Baby nicht mehr, schläft wunderbar durch und gedeiht prächtig. Wenn das Erfolgsrezept nicht aufgeht, suchen die Eltern die Schuld oft bei sich selbst oder versuchen ihr Glück mit dem nächsten Erfolgsrezept sprich Ratgeber.

Allein aus diesem Grund sticht der neue Ratgeber „Babysprechstunde“ wohltuend bescheiden aus der Ratgeberfülle hervor. Er gestattet der mündigen Leserin, dem mündigen Leser – bereits im Vorwort –, beschriebene Aspekte durchaus anders zu sehen und zu bewerten und ermutigt Eltern, auch auf ihre eigenen Ideen zu hören.

 

Dabei wäre dieser Vorspann gar nicht nötig, denn das neue Buch von Jörn Borke, Ariane Gernhardt und Katharina Abs ist durchweg vollkommen ideologiefrei und die Verschiedenheit von Familien akzeptierend geschrieben. Hier kommt den Autoren einerseits ihr breiter forschungswissenschaftlicher Hintergrund von kulturvergleichender Psychologie, Entwicklungs- und Evolutionspsychologie zu Gute und andererseits der tägliche Kontakt mit vielen, ganz unterschiedlichen Eltern mit ganz unterschiedlichen Sorgen und familiären Kontexten, den sie in ihrer Osnabrücker Babysprechstunde seit vielen Jahren erleben.

 

Das Buch will Anregungen geben, einen der vielen „ausreichend guten“ Wege für eine erfolgreiche Elternschaft zu gehen. Und so findet sich trotz der Kompaktheit des Ratgebers eine Vielzahl von Themen, die Eltern in den ersten Lebensjahren ihres Kindes umtreiben (eigentlich müsste das Buch also „Baby- und Kleinstkindsprechstunde“ heißen): vom Übergang zur Elternschaft, über Säuglingsschreien, Schlafen, Stillen/Füttern, Klammern und Trotzen bis hin zu aktuellen Fragen zur außerfamiliären Betreuung, die ja in Westdeutschland in den letzten Jahren zunehmend früher beginnt.

 

Falsche Ängste werden genommen

Die Autoren, die vom Lehrstuhl der Entwicklungsforscherin Heidi Keller kommen, die in vielen unterschiedlichen Kulturen kindliche Entwicklung und Elternverhalten untersucht hat, gehen mit einer offenen Weltsicht auf Entwicklungsgeschwindigkeiten und -wege zu. Kein Kind und keine Familien sollte sich bemühen, den gleichen Schritt zu gehen wie alle Anderen auch, wer immer diese anderen Normierten auch sein mögen. Der Ratgeber nimmt auch falsche Ängste, wie die in westlichen Ländern weit verbreitete Angst, sein Kind durch zu viel körperliche Nähe und zu viel Antwortbereitschaft zu verwöhnen und damit zu einem Tyrannen zu machen, der später allen auf der Nase herumtanzt. Diese Angst ist leicht genommen, wenn man den Blick über den Tellerrand wagt und feststellt, dass in vielen anderen nichtwestlichen Kulturen es als kindeswohlgefährdend gilt, wenn man beispielsweise sein Baby alleine und nicht im Familienbett schlafen lässt. Dieses co-sleeping fördert die Stabilität zentraler Körperfunktionen des Säuglings, wie Atemrhythmus, Herzschlag und Wärmeregulation. Auch frühes exzessives Schreien lässt sich aus evolutionsbiologischer und kulturvergleichender Perspektive als Anpassungsverhalten an überfordernde frühe Autonomieansprüche besser verstehen und eigene Verwöhnängste leichter aufgeben.

 

„Notfallkoffer“ für schwierige Situationen

Die wichtigsten aktuellen Forschungsergebnisse der letzten Jahre werden locker in den Text eingeflochten, so dass die ratsuchenden Eltern nicht irritiert oder überfordert werden. Es geht aber auch immer wieder um Antworten auf die Frage „Was mach ich jetzt mit meinem Baby?“, die jede Mutter oder Vater in einer realen Sprechstunde auch so stellen würde. Neben beruhigenden und verständnisvollen Aussagen, wie es Kern einer gute Beratung ist, die auf der Basis der Benennung einer breiten Normalität an Entwicklungswegen beruht, finden sich praktische Hilfen, die als „Notfallkoffer“ für die psychologische Erstversorgung dienen sollen. So z.B. die Beschreibung eines inneren selbstmitfühlenden Dialogs für überforderte Eltern oder andere Strategien zur Überbrückung kritischer Phasen mit dem Kind, wie der Suche nach konkreten Entlastungsmöglichkeiten. Gleichzeitig werden immer wieder Grenzkriterien und innere Zustände benannt, bei deren Erreichen man die Hilfe psychologischer Beratungsstellen in Anspruch nehmen sollte.

 

Ich würde nicht bei jedem Ratschlag mitgehen: so ist beispielsweise die Empfehlung schreiende Babys durch enges Wickeln (Pucken) zu beruhigen nicht unumstritten. Aber es wäre unseriös zu behaupten, dass es unter Entwicklungsforschern immer eine einhellige Meinung gibt.

 

Aber noch einmal zur Erinnerung: die Eltern sind eingeladen, auf ihre eigenen Ideen zu hören und zu beurteilen, ob die einzelnen Ratschläge zu ihnen und ihrer Familie passen. Und kluge Ratschläge finden sie hier viele und vor allem eine Weltoffenheit und ein Panoramablick, der in der Ratgeberlandschaft seinesgleichen sucht.

 

 Dr. Joachim Bensel (Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen)

 

  • Borke, J., Gernhardt, A. & Abs, K. (2010). Babysprechstunde. Antworten auf die wichtigsten Fragen rund ums Baby. Freiburg: Kreuz.