Klaus Kokemoor, der als Inklusionsberater, Supervisor und Therapeut arbeitet, zeigt uns in seinem Buch nun auf, wie die Inklusion von Kindern mit besonderen Verhaltensweisen gelingen kann und stellt dem folgende Hypothese voran: „Es gibt kein Kind, das aus dem Rahmen fällt, wenn wir für das Kind einen geeigneten Rahmen entwickeln.“ Im Sinne der Inklusion müsste so jedem Kind die Möglichkeit gegeben werden, einen guten Kontakt zu sich selbst und zu anderen zu entwickeln und an Bildungs- und Entwicklungsprozessen aktiv teilzuhaben. Dafür sollten wir uns „der Perspektive des Kindes mit all seinen Facetten annähern, um einen Handlungsrahmen zu entwickeln, der das Kind mit seinem Sein, seiner persönlichen Geschichte und seinen individuellen Entwicklungsmöglichkeiten einschließt“.
Systemischer Ansatz
Über das Buch hinweg beleuchtet Klaus Kokemoor im systemischen Ansatz die zentralen Aspekte für den Umgang mit herausfordernden Kindern – von der grundlegenden Bindung und Beziehung sowie der Ressourcenorientierung und der Ermöglichung von Selbstwirksamkeit über das pädagogische Konzept und eine „Allianz mit den Eltern“ bis hin zu einer professionellen Haltung, in der die Beobachtung und Reflexion entscheidend sind. Denn Veränderungsmöglichkeiten sind ihm zufolge weniger direkt über das Kind als vielmehr „zunächst im System, der pädagogischen Konzeption, in den örtlichen Bedingungen, in dem pädagogischen Team sowie den begleitenden Erwachsenen zu finden“.Konkrete Grundlage für das Buch bilden mit Video aufgezeichnete Beispiele aus der Beratungspraxis von Klaus Kokemoor in KiTas und Grundschulen. Er zeigt sich hier als ein überzeugter Vertreter der Marte-Meo-Videointeraktionsanalyse, die nach seiner Erfahrung „eine fundamentale Wirkung auf die Entwicklungsprozesse von Kindern sowie deren Begleiter haben“. Die Videosequenzen bieten ihm gemeinsam mit den pädagogischen Fachkräften immer wieder die Möglichkeit einer intensiven Fallanalyse und die Chance des Innehalten, der Konzentration und des Perspektivwechsels – weg von einer Defizitorientierung, raus aus der Ohnmacht und dem emotionalen „Genervtsein“ hin zu einem Blick auf die Ressourcen des Kindes und die eigenen Handlungsmöglichkeiten.
Plastische Fallbeispiele
Über Video-Fallbeispiele führt Kokemoor so zunächst auch in die entwicklungspsychologischen Grundlagen ein. Für das Kind seien der Dialog mit seinem Umfeld und ein „intensives Resonanzerleben“ entscheidend für den Reifungsprozess. Für den Aufbau eines positiven Selbstbildes brauche das Kind „die Grunderfahrung einer emotionalen Geborgenheit“, die es ihm erlaube die Welt zu erkunden und Selbstwirksamkeit zu spüren. Essentiell sei für das Kind immer wieder das Gefühl „Ich werde gesehen und meine Initiativen haben für den anderen eine Bedeutung.“ In diesem Sinne sei schon das Erkennen, Beschreiben und Benennen der kindlichen Initiativen und Bedürfnisse durch Eltern oder pädagogische Fachkräfte ein „starker Impuls, eine Veränderung beim Kind einzuleiten.“Auch im pädagogischen Konzept sollte sich entsprechend das Grundbedürfnis des Kindes nach Bindung und die Berücksichtigung seiner ganz individuellen Interessen wiederspiegeln sowie das Kind als Akteur seiner eigenen Entwicklung verstanden werden. Grundsätzlich empfiehl Klaus Kokemoor: „so viel Freiheit, Mitbestimmung und Mitgestaltung von Kindern wie möglich, so wenig Regeln wie eben nötig.“
Im Konzept sollte ihm zufolge auch klar und transparent formuliert werden, wie die Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Eltern geregelt ist und welche Haltung und Ausrichtung der Bildungseinrichtung dahinterstehen. Wichtig sei eine „Kommunikation auf Augenhöhe“ und die „Verständigung auf eine Kultur des gemeinsamen Agierens“. Ziel müsse eine „Allianz zum Wohle des Kindes sein.“ Auch in der Zusammenarbeit mit Eltern gelte dabei der Grundsatz „Ich kann den anderen nur verändern, wenn ich zunächst bereit bin, mich selber zu verändern“. In diesem Sinne sollten pädagogische Fachkräfte sich im Elterngespräch auch von Erwartungen, Befürchtungen oder Vorurteilen lösen und mit Offenheit, Interesse und Neugier ins Gespräch gehen. Im Idealfall würde diese sich eine belastende Situation oder ein belastendes Verhalten auch einmal aus der Perspektive der Eltern anschauen. Auch in der Elternarbeit setzt Kokemoor dabei auf Videobeispiele, in denen auch die Stärken und Ressourcen des Kindes zum Vorschein kommen können.
Stärken und Ressourcen wahrnehmen
Dies sieht er ebenso als vielversprechenden Ansatz für die Zusammenarbeit im Team: „Wenn wir den Blick auf die Entwicklungspotenziale des Kindes richten, besteht die Chance, auch die Potenziale des Teams zu aktivieren.“ Es gehe dabei nicht darum, schwieriges Verhalten einfach auszublenden, sondern darum, „uns unserer Handlungsfähigkeit bewusstzuwerden, um dem Gefühl der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen.“Grundsätzlich hält Klaus Kokemoor die genaue Beobachtung für einen entscheidenden Faktor im Umgang mit herausfordernden Kindern. Sie sei ein Weg, um eindimensionale Betrachtungsweisen wie die Fixierung auf ein bestimmtes negatives Verhalten zu vermeiden und das ganze Spektrum der Ausdrucksweisen eines Kindes in den Blick zu nehmen: „Die aktive und intensive Beobachtung von Kindern hat nach meiner Erfahrung den stärksten Einfluss auf die Haltung der Erwachsenen dem Kind gegenüber. Sie trägt durch seine [!] Wechselwirkungsprozesse maßgeblich zur Unterstützung der Entwicklungsprozesse von Kindern bei.“ Als Beispiel einer ressourcenorientierten und auf die Aspekte „Engagiertheit“ und „emotionales Wohlbefinden des Kindes“ fokussierende Beobachtungsmethode stellt er auch den „Early Excellence“-Ansatz vor. Grundlage für das Beobachten, für das intensive Zuhören und dem Nachspüren des kindlichen Interesses sowie einer entsprechenden Resonanz der pädagogischen Fachkräfte sei dabei „eine professionelle Haltung, die dem Kind den Stellenwert einräumt, Akteur seines eigenen Bildungsprozesses zu sein.
Beziehungsgestaltung als zentraler Schlüssel
„Das Kind, das aus dem Rahmen fällt“ ist in seiner Mischung aus plastischen Praxisbeispielen und theoretischen Hintergründen ein beeindruckendes und oftmals auch tief berührendes Fachbuch für pädagogische Fachkräfte in KiTa und Schule. Er zeigt sehr konkrete Handlungsmöglichkeiten auf und stellt die ganz basale, aber im Alltag doch höchst anspruchsvolle Beziehungsgestaltung in den Mittelpunkt: „Wenn die Beziehungen aller Beteiligten von gegenseitigem Respekt, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit geprägt sind, schaffen die Erwachsenen einen Beziehungsrahmen, der dem Kind wiederum die Möglichkeit gibt, der Umwelt und seinen Mitmenschen mit Respekt und Aufmerksamkeit zu begegnen und seine natürlichen Ressourcen zu nutzen.“Aus dem Buch spricht eine Haltung des Autors, die von einem tiefen Respekt gegenüber der Einzigartigkeit jedes Kindes und seinen Entwicklungspotenzialen getragen ist. Klaus Kokemoor macht überzeugend klar, dass herausfordernde Kinder einen Grund für ihr Verhalten haben und uns eine Botschaft übermitteln wollen: „es ist wichtig, uns immer wieder vor Augen zu führen, das hinter einem wiederholt auftretenden, schwierigen Verhalten oft das tiefe Bedürfnis nach Halt, Geborgenheit, Nähe und Kontakt steckt.“ Entscheidend sei es, diese Hilferufe eines Kindes zu hören, zu reflektieren, zu interpretieren und schließlich entsprechende Angebote zu machen. Dies braucht natürlich Zeit – Zeit, die in der Hektik des KiTa-Alltags mit seinen schwierigen Rahmenbedingungen allerdings oftmals fehlen dürfte.
- Klaus Kokemoor: Das Kind, das aus dem Rahmen fällt. Wie Inklusion von Kindern mit besonderen Verhaltensweisen gelingt. fischer & gann 2018, 298 S., 25 Euro
Karsten Herrmann