KindheitMythen sind so alt wie die Menscheit selbst. Im antiken Griechenland erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Auch in der heutigen Gesellschaft sind Mythen allgegenwärtig und zeigen oftmals nur stark verzerrte Abbildungen von Realitäten. „Mythen wie die von der liebevollen „Kindergartentante“, die den ganzen Tag mit den Kindern spielt, bastelt und singt und dabei auch noch genug Zeit findet, um in Ruhe Kaffee zu trinken und mit den Kolleginnen zu schwatzen“ (Bamler et al 2010a: 204 zitiert in: Wustmann et al 2013: 7). Es ist an der Zeit, Mythen und Begrenzungen im Arbeitsfeld der Elementarpädagogik aufzuzeigen und zu überwinden. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistet dieser Sammelband, der sich dem Thema Kindheit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nähert.


Oben aufgeführte Erzählungen, die gesamtgesellschaftlich sowohl von Politik und Medien, als auch von Müttern und Vätern sowie anderen Erziehungsberechtigten stetig (re)produziert werden, gilt es durch Professionalisierung innerhalb des Arbeitsfeldes der Elementarpädagogik, demnach durch den professionellen Habitus aller AkteurInnen dieses Feldes, entgegen zu wirken. Die Welt in der Mädchen und Jungen, inter- und transexuelle Menschen aktuell aufwachsen, ist durch Diversität gekennzeichnet. Gleiches gilt für die Anforderungen an ErzieherInnen und PädagogInnen des Feldes, die stetigen Wandlungen der Gesellschaft unterliegen. Daher sind sie aufgefordert ihre Professionalität selbst weiter auszubauen und auf diese Weise die Professionalisierung des eigenen Berufsfeldes aktiv mitzugestalten. Sie selbst müssen mit der Aufklärung derartiger Mythen beginnen und zu KonstrukteurInnen der eigenen Professionalisierung werden.

Umfassender Beitrag zur aktuellen ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.  sdebatte

Der vorliegende Sammelband ist als hilfreiche Unterstützung in diesem Prozess zu würdigen. Dem Leser und der Leserin werden multidimensionale Perspektiven geboten, indem bei der Auswahl der Texte ein weites Spektrum abgedeckt wird, ohne den eigentlichen Forschungsschwerpunkt  aus den Augen zu verlieren. Als Ergebnis einer öffentlichen Ringvorlesung der Karl-Franzens-Universität in Graz, initiiert von Professorin Cornelia Wustmann, Leiterin des Arbeitsbereichs Elementarpädagogik am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft, leistet dieser Sammelband einen umfassenden Beitrag zu aktuellen (inter)nationalen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. en über das Forschungsfeld der elementaren Bildung, Erziehung und Betreuung und der damit verbundenen Professionalisierungsdebatten. Die Besonderheit macht hierbei vornehmlich den internationalen Charakter dieser Veranstaltung und damit auch dieses Sammelbandes aus, der auf der Zusammenarbeit namenhafter ForscherInnen aus Deutschland und Österreich fußt.

 
Pointierter historischer Rückblick

Der Aufbau des dreiteiligen Sammelbandes beginnt mit einer umfassenden und zugleich komprimierten Einleitung, die über einen pointierten historischen Rückblick der Elementarpädagogik zur Gründung universitärer Ausbildungsebenen für ElementarpädagogInnen in Deutschland und Österreich ab dem Jahr 2004 führt. Im Zentrum der Ausführungen steht vor allem die Gründung des ersten Lehrstuhls für Elementarpädagogik  an der Universität in Graz im Jahre 2010, die zur Realisierung der genannten Ringvorlesung und somit des vorliegenden Sammelbandes führte. „Von daher war es dem Arbeitsbereich ein großes Anliegen, eine Ringvorlesung zu gestalten, auf die dieser Band ausbaut, welche die Elementarpädagogik in ihren sozialwissenschaftlichen Bezügen zeigt und sich mit den zahlreichen Mythen um die Elementarpädagogik auseinandersetzt“ (S.7).

Im weiterführenden ersten Teil „Kindheitsforschung: Kritische Ein- und Ausblicke“ stellt zunächst Bernhard Koch einen Überblick über das elementarpädagogische Forschungsfeld in Österreich dar, wobei er logisch strukturiert die positiven Entwicklungen von 2006 bis heute aufzeigt. Diese Entwicklungen werden durch den Beitrag von Karin Bock vertieft, die unter Bezugnahme von Biographieforschung und Forschung der Kindheit mögliche sozialpädagogische Forschungsperspektiven in der Kindheitsforschung transparent macht.

Herausforderungen und Chancen

Im zweiten und zugleich ausführlichsten Teil „Elementarpädagogische Settings, AdressatInnen und AkteurInnen: Forschungsergebnisse und Herausforderungen“ werden die Herausforderungen und Chancen des Aufwachsens von Mädchen und Jungen, inter- und transexueller Menschen in der diversen Welt aufgezeigt und kritisch analysiert. Hierbei wird ein weites Spektrum geboten, welches über den „Abschied von der Normalfamilie – Familie als Plural“ (Karl Lenz) und „Geschlecht und DiversitätDiversität|||||siehe Diversity in ihrer Intersektionalität als Herausforderung einer geschlechterbewussten Pädagogik der Kindheit“ (Petra Focks)  zu weiteren diskursiven Themen wie „Kinder brauchen Männer – Zur Rolle der Männer in der pädagogischen Arbeit mit Kindern“ (Josef Christian Aigner) führt. Auch zeitlich beständige Diskussionsträger wie „Übergänge zwischen Familie und Bildungseinrichtungen im Lichte des Transitionsansatzes“ (Wilfried Griebel) und „Lebensweltorientierung im Kindergarten – Eine elementarpädagogische Einrichtung aus sozialpädagogischer Sicht“ (Anita Giener-Grün, Anke Karber) werden im Hinblick auf sich stetig wandelnde Herausforderungen neu kontextualisiert, analysiert und (re)konstruiert.

Quo vadis Ausbildung?

Der dritte Teil „Ausbildung: Zurück in die Zukunft?“ widmet sich theoretisch fundierten Überlegungen zur Neustrukturierung und (neuen) Anforderungen der Ausbildungsebene von ElementarpädagogInnen. Hierbei gilt es vor allem anzumerken, dass sich zwei der drei aufgeführten Fachbeiträge ausschließlich auf das Ausbildungsmodell in Österreich beziehen. Hervorzuheben ist der Beitrag „Professionalisierung weiterentwickeln heißt selbst professionell denken und handeln – Anforderungen an die Ausbildung“ (Maria-Eleonora Karsten), der Professionalisierungstendenzen, -chancen, und –sackgassen für Österreich und Deutschland aufzeigt, analysiert und daraus entwickelte Anforderungen an ein Ausbildungssytem für ElementarpädagogInnen und alle darin mitwirkende AkteurInnen stellt.

Blick auf die verschiedenen Realitäten der Elementarpädagogik

Ziel der Herausgeberinnen ist die Darstellung und Diskussion diverser Realitäten heutiger Elementarpädagogik und die damit stetig verändernden und wachsenden Anforderungen an alle AkteurInnen des Feldes. Für diese, sowohl für PraktikerInnen als auch WissenschaftlerInnen, bietet dieser Sammelband eine große Auswahl an professionsrelevanten Themenfeldern, die vernetzt miteinander in Beziehung gesetzt werden. Jeder einzelne Fachbeitrag dieses Sammelbandes folgt einer verständlichen Struktur, die logisch aufeinander abgestimmt ist. Unterstützt werden die interessanten Fragestellungen und konstruktiven Aussagen vielfältig mit Fallbeispielen, Grafiken und Übersichten, die die Verständlichkeit der Inhalte positiv unterstützt, sodass diese Lektüre auch für Interessenten außerhalb des Arbeitsfeldes Elementarpädagogik gewinnbringend ist. Von historischen Rekonstruktionen über Gegenwartsanalysen bis hin zu Zukunftsprognosen wird die Vielfältigkeit der Elementarpädagogik nicht nur thematisch facettenreich aufgezeigt. Besonders gelungen ist hierbei die Aufarbeitung bereits seit Jahrzehnten diskutierter Themenfelder auf der Grundlage neuester Forschungsergebnisse und – Ansätze. Auf diese Weise wird Diversität der (Lebens-)Welten von Mädchen und Jungen, inter- und transexuelle Menschen verdeutlicht und den LeserInnen wertvolle Impulse zum (Weiter)Denken und Ausgestalten gegeben.

Impulse zum Weiterdenken und Ausgestalten

Wie Beispielsweise der Beitrag von Wilfried Griebel, der neue Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten der Übergangsgestaltung zwischen Familie und Bildungseinrichtungen analysiert und weiterführend auf aktuelle Forschungsprojekte zum Themenfeld hinweist. Hervorzuheben ist an dieser Stelle auch der Aufsatz von Anita Giener-Grün und Anke Karber, der sich dem Themenfeld der Lebensweltorientierung im Kindergarten unter der Betrachtung des Verhältnisses von Elementarpädagogik und Sozialpädagogik nähert. „Mit diesem Fokus wird auch nach dem konkreten Eingebundensein der Prozesse rund um Bildung, Betreuung und Erziehung in gesellschaftliche Verhältnisse gefragt sowie nach sozialen und materiellen Lebensbedingungen, in denen Mädchen und Buben aufwachsen, lernen, sich entwickeln und bilden“ (S.133). Auf diese Weise werden neue Zusammenhänge gelungen hergestellt und professionell ausgestaltet.

Defizite die kritisch reflektiert werden sollten, zeigen sich in den Beiträgen von Petra Focks und Josef Christian Aigner. Obwohl auch diese einen hohen wissenschaftlichen Charakter aufweisen, sich aktuellster Forschungen bedienen und wesentliche Ergebnisse zur Professionalisierung der Elementarpädagogik aufzeigen, sind grundlegende Ausführungen leider zu kurz gedacht. So untersucht Petra Focks die Herausforderungen bestehender Geschlechterdiversitäten, indem sie vornehmlich das weibliche und das männliche Geschlecht in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses stellt. Weitere existierende Geschlechter, wie beispielsweise Transexualität oder Intersexualität, werden an dieser Stelle weitestgehend ausgeblendet. Doch gerade diese Vielfältigkeit von Geschlecht und Sexualität der Gesellschaft mit ihren Herausforderungen und Chancen sind Bestandteil heutiger Bildung, Betreuung und Erziehung und müssen daher in Professionalisierungsdiskursen einbezogen werden. Kritisch ist auch dem Beitrag von Josef Christian Aigner zu begegnen, der sich für mehr Männer im Kindergarten ausspricht und dadurch „...ein hohes Innovationspotential für die Elementarpädagogik ...“ (S.128) erwartet. Obwohl er sich klar dafür ausspricht, dass es nicht Ziel sei „irgendwelche“ stereotypische Männer in das Arbeitsfeld einzubringen und unterschiedliche Männertypen herausarbeitet, stellt sich dem Leser und der Leserin doch die Frage, welche zusätzlichen Kompetenzen ein Mann vorweisen muss, als allein seine Geschlechterzuschreibung. Dies gilt es im Kontext der Profesionalsierung von Bildung, Betreuung und Erziehung vertiefend zu erarbeiten und zu diskutieren. Aigner verweist auf aktuelle Studien, deren Ergebnisse diesbezüglich eventuell einen weiteren Beitrag leisten können.

Professionalisierung als Ko-Konstruktion

Den Herausgeberinnen ist mit diesem Sammelband ein Werk gelungen, das allen PraktikerInnen, WissenschaftlerInnen und weiteren Interessierten ein breites thematisches Spektrum an Herausforderungen des Aufwachsens von Mädchen und Jungen, inter- und transexuelle Menschen in der diversen Welt bietet und damit einhergehende Anforderungen an  Professionalisierungsbestrebungen im Bereich Bildung, Betreuung und Erziehung aufzeigt. Durch die Aktualität der Inhalte und den hohen wisschenschaftlichen Charakter dieses Bandes, leistet es einen wesentlichen Beitrag zu den nationalen und internationalen Diskussionen zur Elementarpädagogik. Die Besonderheit ergibt sich vor allem durch die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Österreich, in der nicht quantitative Vergleichsstudien erzielt werden sondern gemeinsam ein qualitativer Beitrag zur Professionalisierung der elementaren Bildung, Betreuung und Erziehung geleistet wird. Somit regt es die/den Leser/in an neue sozialwissenschaftliche Zusammenhänge herzustellen und sich selbst innerhalb dieser (Professionalisierungs-)Diskussionen als AkteurIn wahrzunehmen und diese konstruierende Rolle aktiv auszugestalten.
 

Sabrina Jankowski M.Ed.


 

  • Wustmann, Cornelia/ Karber, Anke/ Giener, Anita (Hrsg.) (2013): Kindheit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Grazer Universitätsverlag. Graz. 212 Seiten.Wustmann, Cornelia/ Karber, Anke/ Giener, Anita (Hrsg.) (2013): Kindheit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Grazer Universitätsverlag. Graz. 212 Seiten.