Unabhängige Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft erarbeiteten im zurückliegenden Jahr fünf Expertisen, die vom BMFSFJ gefördert wurden. Sie enthalten Handlungsempfehlungen für die Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität in unterschiedlichen Bereichen der Kindertagesbetreuung und sollen einen Impuls und wissenschaftlichen Beitrag für die Debatte rund um das Thema Qualität in der Kindertagesbetreuung geben. Im Gespräch mit Betrifft Kinder erläutert Susanne Viernickel, Professorin an der Alice Salomon Hochschule in Berlin, das für die Qualitätsentwicklung in KiTas zentrale Thema der Fachkraft-Kind-Relationen und Gruppengrößen. Zusammen mit Kirsten Fuchs-Rechlin von der Fliedner-Fachhochschule in Düsseldorf hat sie dafür in einer Expertise für das BMFSFJ eine Analyse und ein Berechnungsmodell vorgelegt.

 

 

  • Was ist das Anliegen Ihrer Studie?

viernickelWenn man einen bundesweit einheitlichen Standard für etwas festschreiben will, braucht man eine wissenschaftliche Absicherung. Deshalb haben wir recherchiert, welche Erkenntnisse es über die Wirkung von Personalressourcen und Gruppengrößen auf die Qualität der pädagogischen Prozesse und die kindliche Entwicklung gibt. Wir suchten nach einem Modell, mit dem die Relationen zwischen pädagogischer Fachkraft und der Anzahl von Kindern, die sie zu betreuen hat, vor Ort abgebildet wird und welche Gruppengrößen dabei zu empfehlen sind. Das wird gegenwärtig von Land zu Land sehr unterschiedlich geregelt.

 

  • Welche Grundlage haben die Länder für ihre Regelungen?


Ich kenne nicht die Begründungen dafür, wie die Länder ihre Personalschlüssel errechnen. Das ist historisch gewachsen, je nach pädagogischer Idee. Letztlich führt es dazu, dass in den alten Bundesländern die Relationen günstiger sind als in den neuen. Daran sind Ausgaben in den Länderetats gebunden, die nicht so einfach veränderbar sind, auch wenn man weiß, dass ein anderer Schlüssel besser wäre. Mein Eindruck ist, dass die Gesetze nach den vorhandenen Mitteln geschrieben werden. Und wer sich durchsetzt. Politik ist ein Aushandlungsfeld und es gibt keine lineare Beziehung zwischen Finanzen und Schlüssel. Hamburg hatte bis jetzt den schlechtesten Krippenschlüssel aller westlichen Bundesländer. Es ist aber eines der reicheren Länder.

 

  • Sie recherchierten, welche Befunde es über die Auswirkung von verschiedenen Bedingungen auf die kindliche Entwicklung und die pädagogische Qualität gibt. Wie wichtig ist dafür der Personalschlüssel?

Meiner Meinung nach ist er ganz entscheidend. In den Studien findet man dazu zwar nur kleine, allerdings sehr stabile Effekte. Das Setting bei den Untersuchungen war unterschiedlich. Es zeigt sich jedoch durchgängig, dass es bei einer günstigeren Relation Fachkraft und Kind feinfühligere Interaktionen zwischen beiden gibt. Die Pädagoginnen bieten anregenderes Material an und gehen besser auf die Bedürfnisse der Kinder ein. Deshalb ist der Personalschlüssel eine wichtige politische Stellschraube.

 

  • Herbert Renz-Polster schreibt in seinem neuen Buch »Die Kindheit ist unantastbar « bezogen auf die Krippe sinngemäß: Würden sie mit dem Personal ausgestattet sein, das für eine hochwertige Betreuung und Bildung notwendig wäre, wäre die Erwerbsarbeit für die Mütter für den Staat finanziell betrachtet ein Nullsummenspiel.


Das kann nicht sagen. Ich bin keine Bildungsökonomin. Natürlich ist das teuer. Das wissen alle, erst recht die Fachpolitiker. Sie wissen auch, dass man investieren muss, aber nicht ausschließlich. Um gute Bedingungen für die Entwicklung der Kinder zu schaffen, muss ein komplexes Gefüge überblickt werden. Es gibt dazu einen schönen Spruch von amerikanischen Wissenschaftlern: »Good thinks tend to go together«, also, da wo es eine gute Prozessqualität gibt, kommt vieles zusammen. Da, wo die Fachkraft-Kind-Relation gut ist und das Personal besser qualifiziert, gibt es ein sinnvolles pädagogisches Konzept, wahrscheinlich eine gute Teamqualität. Man darf das nicht vereinfachen. Wenn wir Milliarden in die Hand nehmen und einen großartigen Schlüssel anbieten würden, wären nicht auf einmal alle Probleme gelöst. Es würde auch weiterhin Qualitätsunterschiede geben. Zurzeit wird jedoch eindeutig zu wenig investiert, damit der hohe Anspruch an die Bildung, Erziehung und Betreuung der Jüngsten eingelöst werden kann.

 

  • Es gibt mindestens 15 unterschiedliche Positionspapiere, die beschreiben, wie der Personalschlüssel geändert werden muss. Verhindert nicht diese Zersplitterung die Wirkung? Oder ist es der stete Tropfen, der den Stein höhlt?


Das ist das Interessante dabei, wenn man an einer aufwendigen Expertise schreibt und sich durch die gesamte Literatur dazu arbeitet. Macht man eine Tür auf, sieht man dahinter drei neue. Man erkennt gut das Zusammenspiel der Kräfte, die etwas bewirken wollen. Wenn der Paritätische eine Empfehlung macht, will die Kirche nicht nachstehen und dann mischt sich auch der Deutsche Verein ein. Das hilft mir zu verstehen, wie Politik und gesellschaftliche Weiterentwicklung in unserer Demokratie funktionieren. Ich sehe da nicht zuerst eine Zersplitterung, sondern dass die Akteure, die dazu etwas zu sagen haben, sich auch Gehör verschaffen und gehört werden.

 

  • Das braucht einen langen Atem!


Ja. Ich dachte mitunter, als Wissenschaftlerin könne ich nicht viel bewirken. Das ist nicht richtig. Unsere bundesweite Studie »Schlüssel zu guter Bildung« konkretisierten wir auf Initiative der fachpolitisch aktiven Verbände der Stadt für Hamburg. Inzwischen stellte die Behörde einen Stufenplan vor, wie der Krippenschlüssel verbessert werden kann. Im Jahr zuvor war das noch abgelehnt worden, weil es hieß, die Beitragsfreiheit koste zu viel Geld.

 

  • In Brandenburg wird der Personalbedarf zu Beginn des Kita-Jahres bestimmt, auch wenn im Laufe des Jahres mehr Kinder aufgenommen werden. Manche Kitateams meinen, ihre Arbeit würde auf diese Weise nicht genügend geschätzt.


Es gibt es bessere und schlechtere Lösungen, auch finanziell aufwendige und günstige. Was würden die Teams sagen, wenn Kinder ausscheiden? Dann ist die Lösung doch besser. Oder? Das zeigt, wie wichtig es ist, zu überlegen, wie das System ausfinanziert, gesteuert, reguliert wird.

 

  • Was ist nun Ihr Vorschlag?


In unseren Überlegungen abstrahieren wir von allen länderspezifischen Regelungen. Unser Ziel war, ein Berechnungsmodell vorzustellen, mit dem die Fachkraft-Kind-Relationen in jeder beliebigen Gruppenkonstellation berechnet werden können. Für Kinder unter einem Jahr empfehlen wir einen Schlüssel von 1:2, im zweiten und dritten Lebensjahr von 1:4 und bei den älteren Kindern von 1:9. Einige Studien beschrieben auch so etwas wie Schwellenwerte: Was passiert in einer Gruppe mit jungen Kindern, in der der Schlüssel statt 1:3 eben 1:5 ist.

 

  • Was passiert dann?


Die Anzahl der Interaktionen nimmt ab, auch die Anzahl der freundlichen, die Kinder werden häufiger reglementiert.

 

  • Der gesetzlich festgelegte Schlüssel ist das eine, die Praxis das andere...


Deswegen müssen anteilig mehr Fachkräfte eingestellt werden. Jede Fachkraft fällt mal aus. Wie umfangreich das ist, zeigen Fehlzeitenrapporte: Urlaubszeiten sind tarifrechtlich festgelegt, dazu kommen Krankheiten, Fortbildungen. Dafür kalkulierten wir einen Anteil von 15 Prozent. Und noch etwas Neues rechneten wir ein: Zeiten für mittelbare pädagogische Arbeit, jene Arbeit, die gemäß den Bildungsplänen geleistet werden muss: z.B. Beobachtungen auswerten, Dokumentationen erstellen, Elterngespräche führen. In dieser Zeit sind die Fachkräfte nicht für die Kinder verfügbar. Diesen Anteil bezogen wir mit 16,5 Prozent ein. Beide Zahlen braucht man, um herauszufinden, wie viel Personal man anstellen muss. Dabei wird in einigen Bundesländern bereits jetzt bei den Berechnungen nicht nur das Alter der Kinder berücksichtigt, sondern auch besondere Lebenslagen der Kinder und Familien, wenn ein Kind von Behinderung bedroht bzw. behindert oder wenn die Herkunftssprache nicht deutsch ist. In unserem Modell wird jedes Kind gemäß seiner Merkmale – Alter, besondere Bedürfnislagen sowie gemäß seiner stundenweisen Anwesenheit – in die Berechnung einbezogen. Man kann damit bestimmen, wie viele Personalanteile man für dieses Kind braucht und kann das dann hochrechnen auf eine Gruppe und Gruppenkonstellationen.

 

  • Das ist interessant: Eine Berechnung, die vom Kind ausgeht. Was berechnen andere Modelle?


Diese rechnen schon auch vom Ansatz »Kind« aus, weisen dann aber fast alle einen Personalschlüssel aus. Bei uns geht es darum, mit wie vielen anderen das Kind sich im Alltag die Fachkraft teilen muss.

 

  • Die Politik hatte die Idee, den Personalschlüssel zu reduzieren, wenn Kinder nicht anwesend sind.

 

Das haben wir auch diskutiert. Dabei gehen wir davon aus, dass es sich um ein öffentliches Angebot zur Bildung, Erziehung und Betreuung handelt, das im KJHG festgeschrieben ist. Das Angebot muss deshalb zu jeder Zeit für alle Kinder verfügbar sein und die Mittel dürfen nicht gekürzt werden, weil zwei Kinder gerade fehlen. Oft gibt es gar keine Aushilfe oder aber erst zu einem späten Zeitpunkt, wenn eine Erzieherin länger krank ist... In Australien ist jede Kita verpflichtet, zu jeder Zeit einen bestimmten Personalschlüssel einzuhalten. Dort gibt es auch unangemeldete Kontrollen und dann interessiert nicht, ob eine Erzieherin sich vor einer Stunde ein Bein gebrochen hat. Die Leitung der Kita muss Ersatzpersonal beschaffen und den Schlüssel einhalten...

 

  • ... und hat aber die Ressourcen dafür.


Ja, das ist die andere Seite, die man bei solch einer Diskussion nicht außer Acht lassen darf. Dieses System ist so teuer, dass es sich in Australien kaum eine Familie leisten kann, ihre Kinder fünf Tage die Woche betreuen zu lassen. 120 Dollar am Tag können sich nur wenige leisten. Der Staat subventioniert das nicht ausreichend. Die Qualität ist dann gut, aber so teuer, dass an Beitragsfreiheit nicht zu denken ist.

 

  • Was geschieht mit Ihrem Vorschlag?


Er muss auch diskutiert werden. Wenn es zu einem Bundesqualitätsgesetz kommt, wäre es möglich, ein solches Modell mit Stufenplänen und Ausnahmeregelungen hineinzuschreiben. Dann hätten die Länder, Kommunen und einzelne Träger einen Anhaltspunkt, welcher Personaleinsatz erforderlich ist und wären verpflichtet, diese Schlüssel einzuhalten. Sicher muss der Bund auch in die Pflicht genommen werden, weil damit natürlich Mehrausgaben verbunden sind. Aus meiner Sicht ist es eindeutig notwendig, dass die Ressourcen im Bildungswesen umverteilt werden müssen. Dafür haben wir noch keine Lösung gefunden. Nun müssen alle anderen Akteure mit ins Boot genommen und es muss zusammen weitergedacht werden.

 

Zum Weiterlesen: Personalschlüssel / Fachkaft-Kind-Relation

 

Erstveröffentlichung unter dem Titel "Der Streit um den Schlüssel" in: Betrifft Kinder, 01-02 /2015, S. 25 -27. Übernahme mit freundlicher Genehmigung vom verlag das netz