Empirische Forschung im frühkindlichen Bereich noch marginal
Zum fachlichen Auftakt nahm Prof. Dr. Susanne Viernickel von der Alice Salomon Hochschule die frühpädagogische Forschungslandschaft in Deutschland grundsätzlich in den Blick. Sie kam zu dem Schluss, dass die frühe Bildung in der empirischen Bildungsforschung bisher nur „eine marginale Rolle“ gespielt habe und wir „ noch nicht viel wissen über die Zusammenhänge von Erfahrungen der Kinder in der KiTa und ihrer Kompetenzentwicklung“.
Durch die „massive gesellschaftliche Aufwertung“ der KiTas als Bildungseinrichtung sah sie jedoch „Grund für vorsichtigen Optimismus“. Mit der von 2010 bis 2012 unter der Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Tietze durchgeführten NUBBEK-Studie liege so die erste bundesweite Erhebung vor, die die Qualität der Bildung, Betreuung und Erziehung in Kindergärten und Krippen sowie in altersgemischten Gruppen, in Tagespflegestellen und Familien systematisch analysiert habe. Auch sei die frühkindliche Bildung in dem von Prof. Dr. Hans-Günther Roßbach koordinierten Nationalen Bildungspanel „NEPS“ als 1. Stufe fest verankert. Ziel dieses „wissenschaftlichen Großprojektes“ ist es, Längsschnittdaten zu Kompetenzentwicklungen, Bildungsprozessen, Bildungsentscheidungen und Bildungsrenditen in formalen, nicht-formalen und informellen Kontexten über die gesamte Lebensspanne zu erheben.
Niedersachsen und nifbe mit „Vorreiterrolle“
Daneben seien bundesweit auch zunehmend „hochschulische Forschungszentren“ gegründet worden und auf Landesebene „nimmt das Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung mit seinen vier Forschungsstellen und der direkten Verbindung von Forschung und Praxis eine Vorreiterrolle ein.“
Die „außerhalb der etablierten Großstrukturen der Forschungsförderung angesiedelte AWiFF-Förderlinie“ sah Viernickel nun als einen weiteren wichtigen Schritt nach vorne in den frühpädagogischen Professions- und Professionalisierungsforschung. Ziel der Projekte seien neben der Bestandsaufnahme und (vergleichenden) Analyse auch die Identifikation von Zusammenhängen und die Entwicklung bzw. Evaluation von Konzepten und Methoden im frühpädagogischen Feld gewesen. Im Fokus hätten neben den Strukturen und Rahmenbedingungen die Programmatiken, die Akteure, Prozesse und Dynamiken sowie die Didaktik und Methodik gestanden.
„Wissen wir, was wir wissen?“
Zum Abschluss ihres Vortrags richtete Susanne Viernickel noch drei (selbst-) kritische Fragen an die versammelte Forschungs-Community: „Wissen wir genug? Wissen wir, was wir wissen? Glauben wir nur, dass wir etwas wissen?“ Sie forderte anhand dieser Fragestellungen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse stärker verbreitet und diskutiert sowie aufeinander bezogen werden müssten. Hierzu seien auch „verstärkte Investitionen in Transfer und Transferkonzepte“ sowie in „Wissensmanagement und Systematisierung“ notwendig. Die erhobenen Daten müssten dazu auch verstärkt in „zentrale Forschungsinformationssysteme“ eingespeist werden. Kritisch hinterfragte sie auch die „Begrenzungen und Fehleranfälligkeiten von wissenschaftlichen Methoden und Design“ und damit die Belastbarkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Hilfreich könne hier eine „Triangulierung von Daten und Methoden“ sein.
Das Feld im Blick der AWiFF-Projekte
In sieben Panels wurden dann die zum Teil noch vorläufigen Forschungsergebnisse der 16 AWiFF-Projekte vorgestellt. Deutlich wurde hier ein großer Fächer von Fragestellungen, Settings und Methoden, mit denen das Feld der frühkindlichen Bildung von der KiTa-Praxis über die Aus- und Weiterbildung bis hin zur Fachberatung und den Trägern in den Blick genommen wurde. Mit den Panels wurden die Projekte unter folgenden Bereichen geclustert:
- Kindheitspädagogische Studiengänge. Ein neues Qualifikationsprofil auf dem Arbeitsmarkt.
- Professionelles Handel – Reflexion – Reflexivität. Drei Blickwinkel auf die pädagogische Praxis.
- Kita-Personal: Arbeitsbedingungen, Berufsprofile und DiversityDiversity|||||Im Deutschen wird der Begriff auch auch als Vielfalt benutzt und meint besonders, dass soziale Vielfalt konstruktiv genutzt wird. Im Diversity Management wird besonders auf eine positive Wertschätzung der individuellen Verschiedenheit eingegangen, um eine produktive Gesamtatmosphäre zu erreichen.-Management
- Anforderungs-und Kompetenzprofile des Lehrpersonals in der Weiterbildung für frühpädagogische Fachkräfte
- Wie lässt sich Kompetenzentwicklung in unterschiedlichen (Aus-) Bildungsbereichen erfassen und fördern?
- Professionelles Handeln in der Kita unter bereichsspezifischer Perspektive
- Tun – unterstützen – fördern? Perspektiven auf professionelles Handeln in der Kita
Fokus „Alltag in der KiTa“
Im zuletzt genannten Panel stand ein gleichnamiges und kurz „TUF“ genanntes Verbundprojekt der Universität Osnabrück (Prof. Dr. Hilmar Hoffmann) und der Hochschule Vechta (Prof. Dr. Anke König) im Fokus. In einer ersten Projektphase hatte es sich zum Ziel gesetzt, so Prof. Dr. Hilmar Hoffmann, „den Alltag von ErzieherInnen tatsächlich einmal sichtbar zu machen“. Dies sei auch im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit von Programmatiken, Modellen und Konzepten eine Grundvoraussetzung. „Die Fachpraxis bietet uns viele Lösungsmöglichkeiten an und Wissenschaft muss diesen Schatz stärker heben“ unterstrich Hoffmann.
Im „TUF“-Projekt wurden in einer ersten Phase 16 pädagogische Fachkräfte (SozialassistentInnen, ErzieherInnen, GruppenleiterInnen) in 12 Einrichtungen über den Tag hinweg beobachtet und ihre Tätigkeiten in 5-Minuten-Rhythmen detailliert erfasst. Rund 13.000 (!) Tätigkeitsmerkmale resultierten aus dieser offenen Fremdbeobachtung. Diese wurde durch die Selbstbeobachtung der ErzieherInnen anhand eines offenen Erzählimpulses ergänzt und über eine sukzessive Kategorisierung zu Tätigkeitsschwerpunkten entlang der Gruppenform (Krippe, Kindergarten) und der Funktion (Leitung, Gruppenkraft) verdichtet.
In einer zweiten Phase wurden in einer niedersachsenweiten Erhebung 66 Einrichtungsleitungen und 293 Gruppenfachkräfte aus 68 teilnehmenden Einrichtungen befragt. Neben den Tätigkeitsbereichen wurden hierbei auch die jeweilige Einstellung zum Beruf, Berufsanforderungen, Entscheidungsspielräume, die eigene Rolle und Belastungen sowie das Handeln in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen erhoben.
Wie das Projektteam erläuterte, waren die Tätigkeiten der pädagogischen Fachkräfte grundsätzlich durch „Vielfalt, Komplexität und Parallelität“ gekennzeichnet. Rund 50 Prozent der Tätigkeiten hatten dabei unmittelbaren Bezug zum Kind. Die übrigen großen Tätigkeitsbereiche bildeten die Elternarbeit, die Büroarbeit und hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Mit nur relativ leichten Unterschieden verteilten sich die unterschiedlichen Tätigkeiten dabei auf das ganze Team. „Es herrscht im Team ein Gefühl der Gleichberechtigung und jede macht mehr oder weniger alles und auch die KiTa-Leitung schwingt noch den Putzlappen“ fasste Hilmar Hoffman zusammen.
"Vielfalt, Komplexität und Parallelität"
Ein engerer Fokus wurde in dem Projekt u.a. auch auf die Aspekte „Arbeitszufriedenheit“ und auf den Bildungsbereich „Sprachbildung / Sprachförderung“ gelegt. Zum ersten Aspekt konnten die ForscherInnen „trotz hoher Anforderungen“ eine relativ hohe Arbeitszufriedenheit ermitteln. Die Kita sei ein „motivierendes und aktives Lernen unterstützendes Berufsfeld“. Zentrale Faktoren für die Arbeitszufriedenheit seien neben einem guten Betriebsklima der hohe Entscheidungsspielraum von pädagogischen Fachkräften und ihre Aufgabenvielfalt in einem tendenziell gleichberechtigten Miteinander. Dies sei auch zu bedenken, wenn eine stärkere Ausdifferenzierung der Tätigkeiten in der KiTa z.B. durch Funktionsstellen gefordert werde.
Unter der Frage, inwieweit Bildungsreformprozesse tatsächlich in der Kita angekommen sind, wurden die Tätigkeitsprofile auch hinsichtlich des Bildungsbereiches Sprachbildung und Sprachförderung untersucht. Prof. Dr. Anke König und ihr Team konnten insgesamt eine „Dominanz der Sprache in den Bildungsbereichen“ ermitteln, allerdings mit „einer großen Heterogenität zwischen den Fachkräften und den Kitas“. Die auch von der Forschung mittlerweile favorisierte alltagsintegrierte Sprachförderung genieße dabei die „höchste Akzeptanz in der Praxis“.
Resümierend stellte Anke König fest, „dass die entsprechenden Reformprozesse an der Oberflächenstruktur des Elementarbereichs angekommen sind“. Sie stießen bei den Pädagogischen Fachkräften auf Resonanz und - bei gleichzeitiger „hoher Lernbereitschaft“ - auf die Überzeugung die alltagsintegrierte Sprachförderung tatsächlich umzusetzen. Hierbei sei allerdings „eher ein intuitives als ein wissenschaftsbasiertes Verhalten“ zu konstatieren.
Fachberatung mit „diffusem Profil“
Die Fachberatung als zentrale Stellschraube für die weitere Professionalisierung der Kitas stand im Fokus des Projektes „Die Rolle von Fachberatung im System der Entwicklung von Qualität in der frühen Bildung“ der Hochschule RheinMain. Mit problemzentrierten / leitfadengestützten Interviews und der Aufzeichnung sowie Analyse von Beratungsgesprächen sollte hier das Selbstverständnis und die Praxis der Fachberatung untersucht werden. So wie die ForscherInnen am Anfang vor dem „diffusen Profil und Auftrag“ der Fachberatung standen, so konnte auch im Ergebnis „keine Einheitlichkeit“ festgestellt werden. Es gelang dem Forscherteam aber, die unterschiedlichen Ansätze in folgende „3 Habitusformationen“ zu clustern:
Strukturbezogener Habitus
- Hier herrscht ein sachlich-distanzierter und eher interventionstischer Modus der Interaktion vor. Verbunden damit ist häufig eine Dienst- und Fachaufsicht und ein Selbstverständnis des Monitoring. Häufig ist dieser Habitus bei studierten jungen FachberaterInnen anzutreffen.
Praxisberatender und kontrollvermeidender Habitus
- Hier überwiegt ein emotional-zwischenmenschlicher, dialogischer und zugewandter Modus der Interaktion. Dieser Habitus ist auf die Beratung fokussiert, kommt insbesondere in den östlichen Bundesländern vor und grenzt sich bewusst von der (eher autoritären) ehemaligen Fachberatung der DDR ab.
Erratischer Habitus
- Hier zeigt sich ein stark wechselnder Modus der Interaktion. Die oftmals aus der Kita kommenden FachberaterInnen mit diesem Habitus sind durch ein „oszillierendes Selbstverständnis“ geprägt und stellen sich stark auf ihr jeweiliges Gegenüber ein. Der Prozess wird gemeinsam mit den zu Beratenden gestaltet.
Grundsätzlich konnten das Forscherteam in der Ausrichtung der Fachberatung „einen Widerspruch zwischen Beratung und Organisationsentwicklung bzw. Qualitätsmanagement“ festhalten. In einem weiteren Schritt sollen jetzt aus dem Projekt heraus auf die unterschiedlichen Habitusformen ausgerichtete Qualifizierungsbausteine erarbeitet und erprobt werden.
Forschung nicht überfordern
Während die beiden zuvor vorgestellten Projekte schon deutliche Anknüpfungspunkte in die Praxis boten, wurde bei anderen einmal mehr deutlich, wie lang der Weg von ersten Forschungsergebnissen und ihrem sorgsam definierten und abgesicherten theoretischem Rahmen bis hin zu konkreten Praxisimplikationen sein kann. Exemplarisch zeigte sich dies an den für die Professionalisierungs-Debatte zentralen Aspekten wie „Wissen“, „Selbstreflexivität“ oder „Kompetenz“. Wie können diese komplexen und oszillierenden Begrifflichkeiten verbindlich definiert, mit welchen Vorannahmen und Methoden kann ihr Vorhandensein oder auch Nicht-Vorhandensein belastbar und plausibel in der KiTa-Praxis erhoben werden? Hier stellten sich mehr Fragen für den zukünftigen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. und Forschungsprozess als dass schon für die Praxis relevante Antworten gegeben werden konnten. Forschung zeigte sich so als das berühmte und durchaus mühselige „Bohren dicker Bretter“. In diesem Sinne wurde auf der Tagung auch mehrfach davor gewarnt, sie durch die stetige Frage nach dem direkten Mehrwert für die Praxis schlichtweg zu überfordern.
ErzieherInnen als „BildungsexpertInnen für die ersten Jahre“
Zum Abschluss der Tagung zeigte Prof. Dr. Thomas Rauschenbach noch „Zukunftsperspektiven auf Professionalisierung“ auf. Er konstatierte, dass das „Bildungsparadigma“ in den KiTas in den Vordergrund getreten und die „Anforderungen und der Erwartungsdruck an Pädagogische Fachkräfte“ enorm gestiegen sei – von der Diagnose und Dokumentation über die Sprachförderung bis zur Inklusion und sozialräumlichen Vernetzung. Im Kernprofil würden ErzieherInnen nun zu „BildungsexpertInnen für die ersten Jahre“. Anstelle des Konzeptes der „Geistigen Mütterlichkeit und der Fürsorge“ sei „die interaktive Arbeit mit dem Kind als eine besondere Form der personenbezogenen Dienstleistung“ getreten. Eine zentrale Forschungsfrage sei hier, wie eine erfolgreiche interaktive Arbeit zwischen Kindern und Pädagogischen Fachkräften gestaltet und Kinder am besten zu Ko-Konstrukteuren ihrer eigenen Bildung und Entwicklung werden könnten.
Im teilweise erbittert ausgefochtenen Streit um die Akademisierung des ErzieherInnen-Berufs plädierte Rauschenbach auch im Hinblick auf die noch lange Zeit unverzichtbaren quantitativen Ressourcen der Fachschulen dafür, das Potenzial für eine „Akademisierung der Ausbildungsorte“ näher in den Blick zu nehmen. Ebenso seien Seiten- und Quereinstiege in das Berufsfeld noch viel zu wenig erforscht. Abschließend würdigte er das „AWiff“-Programm als den „Beginn einer frühpädagogischen Professions- und Professionalisierungsforschung in Deutschland.“