VerbeekDie (Früh-) Pädagogik ist immer ein Stück weiter ihrer Zeit verhaftet und damit auch bestimmten Moden und Trends unterworfen. Umso wichtiger ist es, sie auch regelmäßig gegen den Strich zu bürsten. Dies unternimmt die Psychologin und Bildungswissenschaftlerin Veronika Verbeek in ihrem Buch „Die neue Kindheitspädagogik“, das bei Kohlhammer in der Reihe „Pädagogik kontrovers“ erschienen ist. Kritisch und zuweilen auch provokativ und wissenschaftlich fragwürdig hinterfragt sie hier vermeintliche Selbstverständlichkeiten, normative Setzungen und Ideologien.

Veronika Verbeek beleuchtet in ihrem Buch acht ihrer Ansicht nach derzeit vorherrschende „Leitkonzepte“ in der Frühkindlichen Bildung - von der „KiTa-Qualität“ und „Akademisierung“ über „Haltung“, „Selbstbildung“ und „Ressourcenorientierung“ bis hin zur „DiversitätDiversität|||||siehe Diversity“. Ihr erklärtes Ziel ist es, diese Leitkonzepte „so zu diskutieren, dass inhaltliche Widersprüche, Risiken und Irrwege erkennbar werden und eine Neuorientierung möglich wird“. Die Autorin ist eine Fachschul- und Hochschullehrerin mit 30-jähriger Erfahrung in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte. Sie schöpft in diesem Buch ebenso aus ihrem insbesondere psychologisch-diagnostischem Fachwissen wie aus praktischer Erfahrung mit Auszubildenden und KiTas und bringt auch immer wieder konkrete Praxisbeispiele ein.

Acht "Leitkonzepte" im Fokus

Als erstes widmet sich Veronika Verbeek dem derzeit viel diskutierten Thema der Qualität. Sie kritisiert hier nach näherer Beleuchtung des Qualitätsbegriffs und seiner Dimensionen, dass im Grunde „auch nach einer Generation Qualitätsforschung noch wenig Substantielles“ im Hinblick auf die Wirksamkeit von Lernen in der KiTa bekannt ist.

Keine Erfolgsgeschichte sieht Veronika Verbeek auch in der mit viel Elan vor 20 Jahren gestarteten Akademisierung des Feldes durch kindheitspädagogische Studiengänge. Sie bezweifelt momentan einen „Mehrwert“ dieser Studiengänge gegenüber der Fachschulausbildung und es gebe auch „keine empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.en Hinweise, dass an Fachschulen oder Hochschulen unterschiedliche Leistungsgruppen anzutreffen sind“. Sie fordert daher eine stärkere Verwissenschaftlichung der kindheitspädagogischen Studiengänge und mehr Profilbildung.

In Bezug auf die Haltung plädiert Veronika Verbeek für ein Modell, das mit konkreten beruflichen Handlungskompetenzen verbunden ist. Eine Deprofessionalisierungsgefahr sieht sie im aktuellen Trend, Haltung entweder einerseits auf wenig konkretisierte „ideale Persönlichkeitsmerkmale“ zu reduzieren oder sie andererseits als einen „professionell überformten Habitus“ mit vertiefter Reflexion zu definieren.

Bildungsromantik?

In die Nähe zur „Bildungsromantik“ rückt Veronika Verbeek die aktuell hoch gehandelte „Selbstbildung des Kindes“, bei der die Fachkraft nur noch eine Rolle der Begleiterin einnimmt. Durch dieses Leitkonzept habe sich die „Kita „in den letzten Jahren grundlegend verändert“ – und zwar quasi ohne empirische Evidenz. Sie plädiert dagegen für ein Nebeneinander von „Selbstbildung“ und „Fremdbildung“ und damit auch durchaus für angeleitetes und instruktives Lernen. Letzteres sei, wie sie an anderer Stelle ausführt, gerade auch für Kinder mit Förderbedarf und damit für die Chancengerechtigkeit unabdingbar.

In enger Verbindung zur Selbstbildung des Kindes steht die „Ressourcenorientierung“ und auch hier kritisiert die Psychologin eine gefährliche Einseitigkeit, denn: „Die Prävention von Verhaltensstörungen gelingt nie mit Stärken- oder Bedürfnisorientierung allein“, sondern es bedürfe auch der Entwicklungsdiagnostik und entsprechender Fördermaßnahmen.

Ideologisierung?

Insgesamt warnt Veronika Verbeek so in diesem Buch immer wieder davor, den diskursiven Pendel in der Frühpädagogik zu sehr auf eine Seite schlagen zu lassen und fordert „Kurskorrekturen“ ein. Die aktuelle Schlagseite sieht sie letztlich auch durch Ideologisierung und „Zitierungskartelle“ von führenden Wissenschaftler*innen verursacht. Sie geht sogar soweit, die aktuelle KiTa-Krise als „vorrangig durch die einseitig inhaltlich-konzeptuelle Ausrichtung der neuen Kindheitspädagogik bedingt“ zu sehen.

Das ist starker Tobak und auch an anderen Stellen überzieht und polemisiert Veronika Verbeek gerne etwas oder lässt es an stichhaltiger wissenschaftlicher Fundierung fehlen – letztlich lässt sie es genau daran missen, was sie der aktuellen Kindheitspädagogik vorhält: eine empirisch abgesicherte Fundierung und Evidenzbasierung. Doch ihre Kritik ist dennoch wichtig für eine Überprüfung und Selbstvergewisserung einer Pädagogik- und Wissenschaftscommunity, die sich zuweilen auch ihre eigenen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. -Blasen schafft.

  • Veronika Verbeek: Die neue Kindheitspädagogik. Chancen, Risiken, Irrwege. Kohlhammer, 198 S., 38 Euro

Karsten Herrman