Gehen kulturelle Offenheit, Inklusion, Partizipation und Demokratiebildung im KiTa-Alltag reibungslos zusammen oder gibt es hier bei genauerem Hinsehen doch größere Spannungsverhältnisse? Diese Frage beleuchtete nifbe-Geschäftsführerin Dr. Bettina Lamm unter dem Titel „Mithandeln, nicht nur mitentscheiden!“ im Rahmen der kostenlosen nifbe-Vortragsreihe „Partizipation und Demokratiebildung in der KiTa.“ Moderiert wurde der Vortrag mit anschließender Diskussion von den nifbe-Transfermanagerinnen Julia Krankenhagen und Gerlinde Schmidt-Hood.

Auf den ersten Blick gehören (kulturelle) Vielfalt und Demokratie zusammen und so unterstrich auch Bettina Lamm, dass wohl keine andere Regierungsform allen Menschen gleiche Rechte und Freiheiten bieten würde. Grundlage dafür seien die Menschenrechtskonvention und auch das Grundgesetz. Schwieriger würde es jedoch bei der Frage, ob auch alle Menschen ihre gleichen Rechte gleichermaßen nutzen können oder wollen. Gerade mit Blick auf die Inklusion zeige sich, so die Entwicklungspsychologin, „dass Gleichheit nicht unbedingt auch mit Gerechtigkeit deckungsgleich ist“.

Ungleiche Voraussetzungen für Partizipation

Sie stellte klar, dass es von Anfang an ungleiche Voraussetzungen für die Nutzung von Beteiligungs- und Mitwirkungsrechten in der Gesellschaft und auch in der KiTa als Mikrokosmos der Gesellschaft gebe. Mit Bezug auf Petra Wagner konstatierte Bettina Lamm: „Inklusion kommt nicht ohne Partizipation aus, aber Partizipation muss nicht inklusiv sein.“ Zentrale Fragen zur Verbindung von Partizipation und Inklusion in der

KiTa seien daher folgende:
  • Werden alle Kinder eingeladen mitzuwirken und mitzugestalten?
  • Haben alle Kinder Zugang zu den notwendigen Informationen?
  • Sind die Beteiligungsformen für alle zugänglich?
  • Wo liegen mögliche Barrieren der Beteiligung und wie können sie überwunden werden?
Diese Fragestellungen konkretisierte die nifbe-Geschäftsführerin am Beispiel der kulturellen Vielfalt weiter. „Kultur ist wie ein Eisberg, bei dem nur ein kleiner Teil sichtbar ist, wie zum Beispiel Sprache, Kleidung, Essen oder Begrüßungsrituale“ sagte sie. Der größere Teil sei jedoch nicht sichtbar und nur teilweise oder auch gar nicht bewusst zugänglich. Dies treffe auf Werte und Normen sowie auf tief verwurzelte und sozusagen mit der Muttermilch aufgesogene Basisannahmen zu. Kultur sei aber allgegenwärtig und präge unser Denken und Handeln im persönlichen Alltag, in der KiTa, aber auch in der Wissenschaft – und an dieser Stelle wies Bettina Lamm kritisch darauf hin, dass 95% der psychologischen Untersuchungen sich auf die Mittelschicht in westlichen industrialisierten Ländern beziehen. Gleichzeitig mache diese Zielgruppe aber nur 5% der Weltbevölkerung aus. In diesem Sinne schaue auch die Wissenschaft in großen Teilen durch eine bestimmte kulturelle Brille.

Am Beispiel einer Situation, in der ein Kind nach dem Spielzeug eines anderen Kindes greift, führte Bettina Lamm aus, dass sich hier zwei Perspektiven und entsprechende Wertvorstellungen entgegenstünden: Die Anerkennung des persönlichen Besitzes oder eine mögliche Aufforderung zum Teilen. In westlichen Kulturen mit ihrer Autonomieorientierung und dem Fokus auf das eigene Erleben und Fühlen werde eher die erste Perspektive eingenommen, in Kulturen mit Verbundenheitsorientierung und dem Fokus auf gemeinsamem Erleben und Handeln eher die zweite.

Vom Eigensinn zum Gemeinsinn oder umgekehrt?

An diesem Beispiel zeigte die Entwicklungspsychologin auf, dass gemäß unserer westlichen pädagogischen Konzepte der Weg vom Eigensinn über das Verständnis individueller Wünsche, Vorlieben und Gefühle bei sich selbst und dem anderen zum Gemeinsinn führe. In anderen Kulturen sei dies eher umgekehrt, aber beide Wege könnten zum Ziel der Kooperation und der demokratischen Aushandlungsprozesse führen. Grundsätzlich deutlich werde hier ein „Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung“, das sich auch in den aktuellen Corona-Debatten widerspiegele.

An einem zweiten Beispiel verdeutlichte Bettina Lamm, dass Kinder aus nicht-westlichen Kulturen es oftmals nicht gewohnt sind, ihre eigenen Meinungen, Bedürfnisse oder Wünsche offen zu formulieren. Statt einer solchen ich-zentrierten Perspektive stehe bei ihnen das Sprechen über und das Handeln in Gemeinschaft im Fokus. Während in westlichen Kulturen die mentale Autonomie des Kindes das zentrale Ziel sei, wären es in anderen Kulturen die Handlungsautonomie, Selbständigkeit und Verantwortungsübernahme.

Mit diesen Hintergründen plädierte die nifbe-Geschäftsführerin dafür, „unterschiedliche Formen der Autonomieentwicklung zu entdecken und zu ermöglichen“. Um Demokratiebildung und Partizipation für alle Kinder anschlussfähig zu machen, könne der Fokus verstärkt auf das gemeinsame Handeln und die Verantwortungsübernahme – zum Beispiel beim Tisch decken – gelegt werden. Neben dem häufig abstrakt bleibenden Mitentscheiden komme es bei einer kulturbewussten Partizipation darauf an, dass Kinder aktiv und in Gemeinschaft mitgestalten und mithandeln können. In diesem Sinne habe schon John Dewey die Demokratie auch als eine „Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ interpretiert.

Im Fazit unterstrich Bettina Lamm, dass es je nach kulturellem Hintergrund verschiedene Entwicklungspfade der Demokratiebildung geben kann und dass verschiedene Wege zum Ziel führen können. In der KiTa komme es darauf an, sowohl die Perspektiven von Autonomie- und Verbundenheitsorientierung wie auch von Eigensinn und Gemeinsinn einzunehmen. So könne die Offenheit für (kulturelle) Vielfalt mit der Demokratiebildung und Partizipation Hand in Hand gehen.

Präsentation zum Vortrag

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Karsten Herrmann