Boll Remsperger 002Demokratiebildung und Partizipation ist in der KiTa auf eine Kultur der Anerkennung und des Zuhörens angewiesen – doch immer wieder kommt es in KiTas auch zu verletzendem Verhalten mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Kinder und das gesamte Team. Wie kommt es dazu und wie ist damit umzugehen? Diese erläuterten Prof. Dr. Astrid Boll und Prof. Dr. Regina Remsperger-Kehm in der kostenlosen nifbe-Vortragsreihe „Partizipation und Demokratiebildung in der KiTa“ anhand ihrer aktuellen qualitativen Studie zu verletzendem Verhalten in der KiTa sowie einer repräsentativen Leiter*innen-Befragung, an der sie im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e.V. beteiligt waren. Moderiert wurde der Vortrag mit anschließender sehr angeregter Diskussion von Peter Keßel und Inga Doll.

Zum Einstieg unterstrichen die beiden Wissenschaftlerinnen, dass die von John Dewey beschriebene „Demokratie als Lebensform“ und eine entsprechende Beteiligung von Kindern und Fachkräften in den KiTas das Fundament bilden sollten, auf dem die gesamte Pädagogik aufbaut. Doch ihre aktuelle Studie zu verletzendem Verhalten zeige eine andere Realität und bestätigt viele andere Studien und Erfahrungsberichte. In ihrer qualitativen Studie beleuchteten die beiden Wissenschaftlerinnen „die Formen von verletzendem Verhalten, Umgangsweisen damit, mögliche Ursachen sowie Handlungserfordernisse“.

Verletzenden Verhalten zeigt sich demzufolge in einem breiten Spektrum von unterschwelliger „Mikrogewalt“ bis zur offensichtlichen „Makrogewalt“ mit Anschreien oder körperlichen Übergriffen. Bestätigung fanden diese Resultate in der bundesweiten Leitungsbefragung. Bei der Auswertung von 1.099 Fragebögen wurde deutlich, dass 96% der befragten Leitungen angaben, dass sie solche Formen der Gewalt in ihrer KiTa schon erlebt hätten. Wie die qualitative Studie zu verletzendem Verhalten zeige, finden Grenzverletzungen in den tagtäglichen Schlüsselsituationen wie Essen, Schlafen, Pflege oder Geraderobe statt und eskalieren zuweilen zu einer sich immer weiter steigernden „Spiralgewalt“. Doch wichtig sei, so Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm, „nicht nur auf das Fatale, sondern schon auf die kleinen Anfänge zu schauen.“

Zwischen Macht und Ohnmacht

Wie die Referentinnen ausführten, finde sowohl die Ausübung von Gewalt wie auch deren Wahrnehmung durch andere Fachkräfte zu emotionalen Ausnahmezuständen zwischen Macht und Ohnmacht, Schock, Unwohlsein und Beklemmung, Trauer, Mitgefühl und Scham. Der aktuellen repräsentativen Leiter*innen-Befragung zufolge erleben knapp 20 Prozent tägliche oder häufige Gewaltausübung in ihren KiTas. Zwei Drittel der verletzend agierenden Fachkräfte würden sich dabei allerdings auch beim Kind entschuldigen und ihr Verhalten mit Kolleg*innen reflektieren, knapp die Hälfte rechtfertigt ihr Verhalten aber auch. Deutlich wurde in der Studie von Boll und Remsperger-Kehm auch die Rolle der Leitung für die jeweilige Kultur (der Anerkennung oder des verletzenden Verhaltens, des Hinschauens oder des Wegguckens) in der KiTa. Unabdingbar sei der Austausch im Team gerade auch über schwierige oder dilemmatische Situationen und hier böten auch Fachberatung, Weiterbildung oder Supervision die erforderliche Unterstützung.

Als Ursachen für verletzendes Verhalten in der KiTa identifizierten die Wissenschaftler*innen zum einen die Rahmenbedingungen und aktuell die zusätzliche Belastung durch die Corona-Pandemie. Sehr deutlich wurde hier Astrid Boll: „Je mehr Kinder auf eine Fachkraft kommen, umso höher ist die Gefahr, dass die Bedürfnisse der Kinder nicht erfüllt werden können und verletzendes Verhalten auftritt. Da macht sich die Politik auch mitschuldig.“ Eine weitere Ursache sei die gerade in Zeiten des Fachkräftemangels immer häufiger fehlende Professionalität der Fachkräfte im Hinblick auf Wissen (z.B. die Auswirkungen der Gewalt für Kinder) und Reflexion. Nicht zuletzt sei aber auch ein fest internalisierter Adultismus Schuld, mit dem es legitim erscheint „Macht zu demonstrieren und Exempel zu statuieren“.

Abschließend führten Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm aus, wie Demokratie und Partizipation in einer KiTa durch feinfühlige Beziehungen und stetige Reflexion der Machtverhältnisse realisiert werden könnten. Entscheidend sei die „Sensibilität und Aufmerksamkeit für die kindlichen Signale und der Respekt für ihre Bedürfnisse“. Machtmissbrauch müsse aber zusätzlich auch durch die Implementierung von demokratischen Strukturen, Instrumenten oder einem Verhaltenskodex in der KiTa eingeschränkt werden. Ziel müsse sowohl auf die Kinder wie das Team bezogen ein „Erleben in Vertrauen und Zusammenarbeit“ und die „Teilhabe und Anerkennung im gesamten KiTa-System sein“. „Demokratische Teilhabe“, so die Wissenschaftlerinnen, „beginnt in den Köpfen von Erwachsenen“.


Karsten Herrmann