Ein Diskussionsbeitrag von Nina Weimann-Sandig, Silvia Hamacher und Katja Belenkij


Die Corona-Pandemie konfrontiert uns mit gesellschaftlichen Herausforderungen und politischen Entscheidungen, die mit zunehmender Länge gerade mit Blick auf das Wohl von Kindern und Familien immer mehr Fragen aufwerfen. Im Rahmen einer Veranstaltung im Januar 2021 befassten sich auf Einladung der Ev. Akademie Sachsen, der FH Erfurt und der Ev. Hochschule Dresden, über 110 Fachkräfte aus der Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) mit diesen sozialen Auswirkungen. Die zentrale Erkenntnis: Corona fungiert als Spiegel und Verstärker von Krisenelementen, die sich bereits vor der Pandemie abgezeichnet hatten. Zwei zentrale Thesen wurden von Wissenschaftler*innen und Fachkräften übereinstimmend postuliert:

Qualitätskriterien dürfen durch die Corona-Krise nicht verloren gehen

Die funktionale und strukturelle Problemlage der Kitas potenziert sich durch die Pandemie. Die coronabedingte Wirklichkeit in den Kitas macht es notwendig, an Kriterien zu erinnern, die schon vor der Pandemie in der Fachöffentlichkeit gefordert wurden. Qualitätsbeschreibungen, die systemtheoretische und konstruktivistische Perspektiven aufnehmen, implizieren verschiedene Qualitätsebenen (DGSF, 2019). Wesentlich ist hierbei die Gestaltung von Beziehungen, Prozessen und Rahmenbedingungen im Feld der FBBE. Es geht übertragen um die Fragen: Wie sind Erfahrungsräume, Entwicklungsräume, Möglichkeitsräume, Wirklichkeitsräume, Zukunftsräume erfahrbar?
War dies schon in Zeiten vor Corona ein vieldiskutiertes Thema, so muss man sich jetzt zunehmend Sorgen machen, dass pädagogische Standards aufgehoben werden oder schon aufgehoben sind. Vielfach müssen Qualitätskriterien derzeit einer Hygienepräsenz untergeordnet werden. Für jede der benannten Qualitätsebenen, lassen sich Beispiele einer Negativentwicklung nennen.

In der Gestaltung von Beziehungen wurde besonders die Eltern- und Familienorientierung gefordert, jedoch macht die Pandemie deutlich, dass die Zusammenarbeit mit Familien weniger im Fokus stand (Cohen et al., 2021). Gerade jetzt könnten sowohl pädagogische Fachkräfte als auch Kinder und Eltern aber erheblich davon profitieren.
Die Gestaltung von Prozessen zielt einerseits auf eine flexible Handhabung der Gruppenzusammensetzung, um Kindern vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen, anderseits zugleich auf das Schaffen von sicherheitsgebender Struktur für die Kinder. Im Zuge der Pandemie muss zum Schutz der Kinder nun die Priorität auf die sicherheitsgebende Struktur gelegt werden, die vielfältigen Erfahrungen, die den Kindern verloren gehen, werden hier von den politischen Entscheidungsträgern nicht diskutiert. Das Kompetenzzentrum Frühe Bildung (KFB) der Hochschule Magdeburg-Stendal (2020), das in einer Studie Kita-Kinder nach ihrer Perspektive und Erfahrung mit Covid-19 befragte,
konnte herausstellen, dass Corona die Spielsituationen der Kinder einschränkte.

Die Gestaltung der Rahmenbedingungen umfasst das Credo einer kostendeckenden Finanzierung auf Basis der Buchungszeiten, die ebenfalls bereits vor der Pandemie von Fachkräften als unzulänglich für Personalplanungen empfunden wurde. In der Krise zeigt sich nun deutlich, dass die personelle Ausstattung der Kitas den zu bewältigenden Aufgaben nicht standhält und die jetzige Form der Stellenfinanzierung überarbeitet werden muss. Die Kitas sind darauf angewiesen, grundsätzlich Personalüberhänge zu kalkulieren, damit Personalausfälle, z. B. durch Zugehörigkeiten zu Risikogruppen, kompensiert werden können. Letztlich sollte auch der Umstand nachdenklich stimmen, dass eine Vielzahl an Fachkräften in der Veranstaltung davon berichtete, in Zeiten der Notbetreuung mit Blick auf die Fachkraft-Kind-Relation „paradiesische“ Zustände zu erleben. Sie erklären dies mit individuelleren Fördermöglichkeiten in kleinen Gruppen. Eine Diskussion über den Fachkräfteschlüssel, die mit veränderten Fachkraft-Kind-Relationen einhergeht, drängt sich damit unweigerlich auf.

Corona verdeutlicht die Krise der Familien und das Fehlen einer eigenständigen Familienpolitik

Gerade in den Phasen der Schul- und Betreuungsschließungen wird deutlich, wie sehr die Corona-Pandemie in die Familien als wichtigstes, gesellschaftliches Mikrosystem eingreift. Zurecht wird modernes Familienleben heute immer wieder als permanente Herstellungsleistung beschrieben (Jurczyk et al., 2014). Denn anders als früher müssen Familien heute Entscheidungs- und Abstimmungsleistungen von bisher unbekanntem Ausmaß erbringen. Das Mikrosystem Familie befand sich schon vor der Corona-Krise in einer Identitätsfindungs- und gesellschaftlichen Verortungskrise. Die Krise der Identitätsfindung kennzeichnet sich insbesondere durch die enge Verwobenheit von Arbeits- und Familienpolitik – mit klarer Priorisierung im Bereich der Arbeitspolitik. Das Postulat einer umfassenden Erwerbsbeteiligung beider Elternteile wurde zum Kennzeichen des fortschreitenden Ausbaus der Kindertagesbetreuung. Es ging hierbei weniger darum, Familien für ihre Kernfunktionen Freiräume zu schaffen, als darum, die gesamtwirtschaftliche Bedeutung einer zunehmend höher gebildeten Leistungsgesellschaft in den Fokus zu rücken. Die zunehmende Heterogenität familiärer Modelle und Lebenswelten bleibt dementsprechend bis heute bei der Ausgestaltung von Arbeitspolitiken weitgehend unbeachtet. Die Corona-Krise offenbart die offensichtliche Schieflage zwischen familiären Bedarfen und fehlenden strukturellen Passungen und damit ihre gesellschaftliche Verortungskrise.
In den Phasen des Lockdowns wird deutlich, dass Stützmechanismen dringend hätten platziert werden müssen. So zeigt sich, dass die derzeitigen „flexiblen Arbeitsarrangements“ so flexibel gar nicht sind. Sie funktionieren nur, wenn die Begleitstrukturen stimmen, sprich andere gesellschaftliche Systeme wie die institutionalisierte Kindertagesbetreuung oder das Schulsystem eine Freistellung der Eltern von Care-Tätigkeiten erlauben. Ebenso sind die sozialen Problemlagen von Familien noch einmal augenscheinlicher geworden. Hier fällt auf, dass es immer mehr Polarisierungen gibt, die sich an drei Determinanten festmachen lassen: Familienmodell, Migrationshintergrund und Sozialraum (Weimann-Sandig, 2021; Schneiderat et al., 2021).

Durch die langen Schließphasen von Schulen und Kitas gerät auch eine zentrale Aufgabe von Familien immer mehr in Bedrängnis: ihre Schutzfunktion. In einer Gesellschaft, in der Leistung von jeher zählte, nun aber neue Formen der sozialen Kontrolle durch den neuen Digitalisierungsschub etabliert werden, ist sie besonders wichtig. Schutz meint dabei die Gewährung von Rückzugsmöglichkeiten ebenso wie den Wegfall normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet.er Erwartungsmuster und leistungsgeprägter Interaktionsmechanismen.

Wie kann es weitergehen?

Der Blick auf Kindereinrichtungen und die Situation der Familien verdeutlichte: Die Welt mit Corona wird eine andere sein. Dabei ist nicht einmal das Virus das essenzielle Problem, sondern die sich verändernden Abläufe und Routinen. Auch wirkt die Coronakrise wie eine Kombination aus Brennglas und Katalysator: Sie macht bestehende Schwachstellen und Benachteiligungen deutlicher und verstärkt sie zugleich. Erkennbar wird, dass die politischen Maßnahmen sich in erster Linie mit Wirtschaft, Konsum und Leistungsträgern beschäftigen, ein strategischer und konkreten Blick auf Familien und Kinder sowie auf Kindereinrichtungen bisher aber fehlt.

Die Bedeutung des Systems Kindertagesbetreuung muss öffentlich und laut thematisiert werden, um der Politik einzuschärfen, dass es hierbei um eigenständige Interessen sowie die Aufrechterhaltung von Qualitätsstandards geht. Kindertagesbetreuung ist mehr als die Sicherung der Erwerbstätigkeit von Eltern. Frühkindliche Bildung nimmt einen hohen Stellenwert in der modernen, demokratischen Gesellschaft ein, weil sie die Kinder spielerisch an die geltenden Normen- und Wertestrukturen heranführt, zugleich aber Schonräume und Förderungsmöglichkeiten offeriert. Das Feld der FBBE wie auch die Familienpolitik können und müssen aus dieser Pandemie ihre Lehren ziehen und sich stärker an den Lebenslagen moderner Familienmodelle orientieren. Gerade die Corona-Krise zeigt, wie sehr sich die Systeme Familie und Kita brauchen.

Literatur
Cohen, F., Oppermann, E. & Anders, Y. (2020). Familien & Kitas in der Corona-Zeit. Online verfügbar: https://www.uni-bamberg.de/fileadmin/efp/forschung/Corona/Ergebnisbericht_finaleVersion.pdf

Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) (2019). Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) zur Qualität der Kindertagesbetreuung. Online verfügbar unter https://www.dgsf.org/themen/stellungnahmen-1/qualitaet-der-kindertagesbetreuung

Jurczyk, K., Thiessen, B. & Lange, A. (2014). Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist. München: Beltz.

Ministerium für Arbeit und Soziales Sachsen-Anhalt (2020). Kinderbetreuung in der Corona-Zeit: Studie fragt Mädchen und Jungen nach ihren Erfahrungen. Online verfügbar unter https://ms.sachsen-anhalt.de

Schneiderat, G., Geithner, S. & Weimann-Sandig, N. (2021). Familien in Sachsen in Zeiten der Covid-19 Pandemie – Erkenntnisse aus der großen sächsischen Familienumfrage „Familienkompass“.
ehs-Forschungsnewsletter 1/März 2021. Online verfügbar unter https://www.ehs-dresden.de/forschungsnewsletter/anmeldung-newsletter-forschung/.

Weimann-Sandig, N. (2021). Studie zur Situation von Alleinerziehenden seit Beginn der Corona-Pandemie. Online verfügbar unter https://eaf-sachsen.de/wp-content/uploads/2020/12/Ergebnisse_EHS_Corona_Alleinerziehende.pdf


Verfasserinnen:

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung der Autor*nnen aus Frühe Bildung (2021), 10 (3), 169–171