Die Bedeutung der Kultur für die frühkindliche Bildung, Entwicklung und Erziehung stand im Fokus der Tagung „Kulturelle Kindheit“ der nifbe-Forschungsstelle Lernen, Entwicklung und Kultur. Forschungsstellen-Leiterin Prof. Dr. Heidi Keller pointierte die Kultur „als unbewussten Filter, durch die wir die Welt sehen und verstehen“ – mit weitreichenden Konsequenzen auch für die KiTas, in denen mittlerweile fast ein Drittel der Kinder aus anderen Kulturen kommen.

Wie die Kulturpsychologin in ihrem Eröffnungsvortrag ausführte, umfasst die jeweilige Kultur ein breites Spektrum von Werten, Normen, Haltungen und Meinungen. Prototypisch stellte sie die kulturellen Modelle der westlichen Mittelschicht und der afrikanischen Landbevölkerung gegenüber. Während bei uns das primäre Erziehungsziel die Selbstbestimmung und Selbstständigkeit des Kindes sei, stünden beispielsweise bei den kamerunischen Nso die Familie und die sozialen Verbindungen und Verpflichtungen im Vordergrund. Im Westen herrsche ein „Mythos der Autonomie“, der sich bei näherer Betrachtung jedoch nur als „psychologische Autonomie des Wollens“ und nicht der Handlung entpuppe. Während westliche Kinder im Vergleich beispielsweise sehr lange gefüttert würden und Windeln trügen, seien die Nso-Kinder schon früh trocken, könnten alleine gehen und essen und schon erste Aufgaben im Haushalt übernehmen.

Selbstkritischer Umgang mit eigener Kultur fehlt oft noch


Im Hinblick auf die Integration forderte Prof. Dr. Heidi Keller einen selbstkritischeren Umgang mit der westlichen Erziehungskultur. In Deutschland bedeute Integration von Einwanderern noch immer zu sehr Anpassung an hiesige Vorstellungen. Das spiegele sich auch in Fragen der Erziehung und Entwicklung von Kindern wider: "Wir sind noch immer nicht in der Lage, fremde Kulturen zu respektieren und als Bereicherung zu sehen." Deshalb sei die Integration allgemein und insbesondere die Sprachförderung im Vorschulalter in eine Sackgasse geraten.


Den historischen Wandel von Erziehungskulturen zeichnete Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan nach. So hätten sich in Deutschland die Erziehungsziele der Autonomie und Selbstständigkeit erst in den 80er Jahren entwickelt und die bis dahin üblichen Vorstellungen von Gehorsam, Religiosität oder Traditionsverbundenheit abgelöst – Werte, die jetzt beispielsweise noch bei Migranten aus der Türkei hoch im Kurs stünden. Grundsätzlich wies Haci-Halil Uslucan auf die „große Varianz“ von kulturellen Einstellungen in einem Land wie der Türkei hin und warnte vor Verallgemeinerungen in der Integrationsdebatte: „Den Moslem oder den Türken gibt es nicht.“

Aus geistesgeschichtlicher Perspektive hinterfragte die Romanistin Barbara Vinken auch das in Deutschland herrschende Bild der Mutter als eine von Natur aus hegende, pflegende und liebende  Dieses sei als ein kulturelles, „protestantisch-pädagogisches“ Konstrukt, ein „Mutter-Phantasma“. Im Gegensatz zum Nachbarland Frankreich gelte hier die „Familie als Raum des Menschlichen“ und so sei es für viele Mütter nach wie vor fast unvorstellbar, sein Kind bereits mit drei Monaten in eine Ganztagskrippe zu geben.
 

Plädoyer für integrierte Sprachförderung in Krippe und KiTa

Vor der Folie unterschiedlicher (Erziehungs-) Kulturen nahm Prof. Dr. Jeanette Roos die Sprachförderung in den Blick und stellte „Krippe und Kita als entscheidende Orte zum Erlernen der deutschen Sprache“ heraus. An der jetzigen Sprachförderpraxis kritisierte sie allerdings einen „Aktionismus“ und den „fehlenden Mut, die unzähligen verschiedenen Fördermaßnahmen auf ihre Wirkung hin zu evaluieren“. In einer Studie zur Sprachförderung in Baden Württemberg hatte sie festgestellt, dass die Leistungen mehrsprachiger oder auch deutscher KiTa-Kinder mit Förderbedarf trotz kostenintensiver Fördermaßnahmen bis in die zweite Klasse deutlich unterdurchschnittlich bleiben. „Sprachförderung ist bitter nötig, aber externe Maßnahmen bleiben wirkungslos“ resümierte sie.


Statt solcher externer Maßnahmen forderte Jeanette Roos eine frühzeitige und kontinuierliche Deutschförderung im KiTa-Alltag. Wichtig sei dabei die Verbindung zwischen der Sprache und dem Geschehen. „Überall steckt Sprache drin“ unterstrich sie, stellte aber eine „noch nicht optimale Nutzung alltäglicher Interaktionsformen in der KiTa" fest. Hierfür müsse das Sprachwissen und das Sprachbewusstsein bei ErzieherInnen verbessert werden.

Beziehung als Grundlage für Bildung und Entwicklung


In einer den Vormittag abschließenden Podiumsdiskussion pointierten der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Rudolf Tippelt und der Psychologe Prof. Dr. Axel Schölmerich die aktuellen Herausforderungen in der Elementarpädagogik. Tippelt markierte durchgehend einen hohen Forschungsbedarf zum Beispiel in Hinblick auf institutionelle und personelle Bedarfe, auf Fortbildungsbedarfe oder auch im Hinblick auf eine Vergleichs-Evaluation von frühpädagogischen Studiengängen und der Fachschul-Ausbildung. Schölmerich forderte, den Fokus in der aktuellen Diskussion weniger auf die Wissens- und Kompetenzentwicklung als vielmehr auf die Beziehungsgestaltung als Grundlage für jede Bildung und Entwicklung zu legen. Einig waren sich die Wissenschaftler, dass eine fachwissenschaftliche Abgrenzung im Feld der Elementarpädagogik keinen Sinn mehr macht. Das nifbe sei in seiner Konstruktion ein Beispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit und auch für die stärkere Berücksichtigung der Praxis in der Wissenschaft.
 

Am Nachmittag konnten sich die rund 120 TeilnehmerInnen  aus Praxis, Aus- und Weiterbildung sowie Forschung in einem Dutzend Workshops mit den praktischen Herausforderungen und Ansätzen einer „kultursensitiven“ Arbeit in Krippe und KiTa näher vertraut machen.

Download PPT Vortrag Prof. Dr. Heidi Keller

Interview mit Prof. Dr. Heidi Keller zur Integration

Download Vortrag Prof. Dr. Jeanette Roos

Download Vortrag Prof. Dr. Haci Halil Uslucan


Download Vortrag Prof. Dr. Axel Schölmerich