Welche Rolle spielt die Beziehung in der individuellen Begabungsförderung? Diese Frage stand im Fokus einer Tagung der nifbe-Forschungsstelle „Begabungsförderung“, an der über 200 ErzieherInnen, LehrerInnen und andere pädagogische Fachkräfte teilnahmen.
 

In seinem Grußwort umriss nifbe-Geschäftsführer Reinhard Sliwka zunächst den Begabungsbegriff der Forschungsstelle, der davon ausgehe, „dass jedes Kind Begabungen und Talente hat, die erkannt, unterstützt und gefördert werden müssen“. Im Fokus der täglichen Arbeit stehe die Frage, wie die individuelle Begabungsförderung in der Praxis der KiTa, aber auch in der Grundschule umgesetzt werden könne. Unter dem Stichwort der „Chancengerechtigkeit“ wies Reinhard Sliwka auf die enorme gesellschaftliche Bedeutung der individuellen Förderung hin: „Auch im Hinblick auf die demografische Entwicklung dürfen wir kein Kind verloren geben und alles daran setzen, die einzelnen Stärken und Begabungen auszuschöpfen.“

Beziehung als Schlüssel für erfolgreiche Lern- und Bildungsprozesse


Prof. Dr. Julius Kuhl„Gute Beziehungsqualität bietet den Nährboden für die Entfaltung von Kompetenzen und Begabungen“ stellte Prof. Dr. Julius Kuhl, Ko-Leiter der Forschungsstelle Begabungsförderung, ohne wenn und aber klar. Während diese Beziehungsqualität in der KiTa noch Kern-Thema sei, werde sie von der Grundschule über die weiterführenden Schulen bis in das Studium jedoch kontinuierlich abgebaut und durch Lernstrategie und Didaktik ersetzt. Doch, wie Julius Kuhl ausführte, bleibe die Beziehung über die Jahre hinweg „der Schlüssel für erfolgreiche Lern- und Bildungsprozesse“. Denn über eine gut funktionierende Beziehung, in der Kinder und Jugendliche sich „angesprochen, angenommen und respektiert“ fühlen, öffne und aktiviere sich das Selbst des Lernenden – und dies sei die Grundvoraussetzung, um Erfahrungen und neue Erkenntnisse nachhaltig zu integrieren. „Beziehung ist die einfachste und nachhaltigste Methode, um das Selbst zu öffnen und Lernprozesse anzustoßen“ fasste Julius Kuhl zusammen.
In der Begabungs- und Kompetenz-Entfaltung markierte er die „Selbstwahrnehmung des Kindes als Basiskompetenz“, auf der Absichtsbildung und Zielfokussierung aufbaue. Nur über die Selbstwahrnehmung könnten Emotionen gesteuert werden, aber auch Empathie und Mitgefühl entstehen. In der von ihm entwickelten „EOS“-Diagnostik habe sich dabei gezeigt, dass starker Ehrgeiz bei Kindern das Selbstgespür deutlich senke. Und auch die in unserer Zeit übliche „sorgenvolle Leistungsorientierung“ von Eltern und der ständige Vergleich mit anderen Kindern vermindere den Zugang zum Selbst des Kindes und seiner Affektregulation.
 

Meike SauerheringIn Vertretung der erkrankten Prof. Dr. Claudia Solzbacher stellten Dr. Birgit Behrensen und Meike Sauerhering unter anderem die Ergebnisse zweier aktueller Umfragen der Forschungsstelle Begabungsförderung zur individuellen Förderung in KiTa und Grundschule vor. Demnach ist in der KiTa der Blick der ErzieherInnen tatsächlich noch stark auf das einzelne Kind und seine individuellen Stärken gerichtet. Diesem ressourcenorientierten Blick stehe aber noch der häufige Einsatz von defizitorientierten Instrumenten in der Dokumentation im Widerspruch. „Der Blick auf Defizite und der Vergleich haben Tradition“, so Birgit Behrensen und zudem seien Dr. Birgit Behrensenressourcenorientierte Dokumentations-Instrumente in der Regel auch aufwändiger zu handhaben.
Für die Grundschullehrkräfte konstatierten die beiden ForscherInnen, dass „Beziehungsaufbau kein durchgängig erkennbares Moment des beruflichen Auftrags ist“. In diesem Sinne bleibe es stark den einzelnen LehrerInnen überlassen“ wie viel Zeit und Raum sie diesem Beziehungsaufbau geben.“

Zudem gebe es einen Widerspruch zwischen den institutionellen Strukturen mit ihrem Trend zur Standardisierung und einer Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit. "Wenn es gelingt, auf der Basis professioneller Beziehungen Verschiedenheit anzuerkennen und die Selbstkompetenz der Kinder in ihrer Verschiedenheit zu stärken, dann ist viel getan für eine pädagogische Grundhaltung, die individuelle Förderung zum Ziel hat" so das Resümee.

Wie kommt Wissen in den Kopf?

Prof. Dr. Gerd E. Schäfer„Wie kommt das Weltwissen in den Kopf der Kinder?“ fragte Prof. Dr. Gerd E. Schäfer von der Universität Köln und markierte als nicht hintergehbare Grenze das Gehirn. In das Gehirn sei nichts zu vermitteln, ohne es zuvor zur „Mitarbeit“ gewonnen zu haben. Dies sei durch „Zielvorgaben und Druck“ oder durch eine „Verständigung“ möglich, die von den jeweiligen Möglichkeiten und Potentialen ausgehe. Provokativ wertete er die gängigen Kompetenzmodelle, die verbreitet auch in den Bildungsplänen für die KiTas zu finden seien, als „unsozial, da sie von einem isolierten Können bzw. Nicht-Können ausgehen.“
Gerd E. Schäfer skizzierte in Abgrenzung dazu in seinem Vortrag eine Pädagogik der Frühen Kindheit mit den vier Kern-Bereichen “Individualität und Lebensgeschichte“, „Soziale Kommunikation“, „Sachliche Herausforderung“ sowie „Institutioneller und gesellschaftlicher Rahmen“. Erst das Zusammenspiel dieser vier Bereiche mache eine „Kultur des Lernens“ aus. In dieser sei das Lernen aus „1. Hand“ und das Lernen aus „2. Hand“ zu unterscheiden. „Je kleiner die Kinder“, so Schäfer, „umso mehr lernen sie aus eigener Erfahrung“. Ihr lernender „Anfängergeist“ basiere insbesondere auf körperlicher Bewegung und sinnlicher Wahrnehmung, auf der Erfassung emotionaler Bedeutung und der vom ersten Tag an zu beobachtenden Kommunikationsfähigkeit. Das Lernen von Kindern sei dabei immer ein „(um-) erfindendes Lernen“, in dem das Bekannte immer wieder mit dem Neuen abgeglichen und entsprechend umgeformt und erweitert werde. Für eine Lernkultur im Sinne eines solchen Anfängergeistes forderte Schäfer „frei zugängliche Lebenswelten für Kinder und Menschen, die „sich einfühlen und mitdenken, die sich auch nicht-sprachlich verständigen, die Gelegenheiten bieten, Neugier und Fragen herausfordern und eigenes Denken zu schätzen wissen.“

Die Macht des Strudelwurms
 

Nicole BruggmannAuf mitreißende Weise führte Nicole Bruggmann in die Geheimnisse und Untiefen des „Selbstmanagements“ und der Motivation sowohl von Kinder und Jugendlichen wie von Erwachsenen ein. Sie unterschied dabei ein bewusstes und vernünftiges sowie ein unbewusstes Bewertungs- und Entscheidungssystem des Menschen. Letzteres basiere auf einem emotionalen Erfahrungsgedächtnis, das spätestens mit der 8. Schwangerschaftswoche einsetze: „Somatische Marker sind in Stein gemeißelt und steuern in starkem Maße unsere Bewertungen und Entscheidungen“, so Nicole Bruggmann. Diese Herrschaft des Unbewussten führte sie zum Amüsement der ZuhörerInnen mit der Metapher des „Strudelwurms“ aus, der nach dem schlichten Muster „ gut bzw. schlecht für mich“ agiere und starke (Motivations-) Macht entfalte. Ständig müsse der innere Strudelwurm durch Selbstkontrolle in Schach gehalten und „gewürgt“ werden, doch Nicole Bruggmann warnte: „Zu viel Selbstkontrolle macht krank“. In diesem Sinne sei sie nur als „Kurzzeitintervention“ dienlich und als „Faustregel für Zufriedenheit“ plädierte sie für „2/3 freier Wurm“ und „1/3 gewürgter Wurm“. Für die Motivation, welche bei der Umsetzung von Begabung in Leistung eine Schlüsselrolle spiele, sei es unabdingbar auch und gerade die unbewusste „Strudelwurm“-Ebene anzusprechen und eine gelungene Balance mit der vernunft-basierten Ebene herzustellen.


Im Anschluss an die Vorträge hatten die TeilnehmerInnen Gelegenheit, in acht verschiedenen Workshops Ansätze und Wege näher kennen zu lernen und auszuprobieren, mit denen die vorgestellten Erkenntnisse und Konzepte zum Thema „Begabung und Beziehung“ in die pädagogische Praxis umgesetzt werden können. Auf dem Programm stand so unter anderem das „Zürcher Ressourcen-Modell“, das „feeling-seen“-Konzept oder die „Arbeit mit Kraftquellen“.
 

Panorama TeilnehmerInnen

Dokumentation

Vortrag Prof. Dr. Julius Kuhl

Vortrag Dr. Birgit Behrensen und Meike Sauerhering

Vortrag Prof. Dr. Gerd E. Schäfer

Artikel Dr. Maja Storch

Workshop Bindung und Exploration Dr. Christina Schwer

Workshop Bindung und Exploration Susanne Völker