Stellungnahme aus dem Fachkräfte-Forum zum Umgang mit der COVID-19-Pandemie in der Kindertagesbetreuung


Mit einer eigenen Stellungnahme melden sich jetzt KiTa-Fachkräfte aus dem Bertelsmann-Fachkräfte-Forum zu Wort und verleihen der Praxis endlich eine eigene Stimme.

Die Fachkräfte mahnen: „Schnelle, unausgewogene Entscheidungen, die ohne Beteiligung der betroffenen Gruppen umgesetzt werden, sind nicht hilfreich, können gar die schwierige Situation noch verschärfen.“ Damit KiTas auch in dieser Krisensituation gute Bildungs- und Betreuungsangebote anbieten können, „ist ein behutsames und vorsichtiges Vorgehen mit Augenmaß im Sinne aller – der Kinder, Eltern und KiTa-Fachkräfte – angebracht.“

Angesichts der fast täglichen neuen Anforderungen an KiTas, machen die Praxis-Experten darauf aufmerksam, dass es für viele Anforderungen bei der Umsetzung keine Verständigung über das „Wie“ gibt. Oftmals fehlen sogar für die Gewährleistung und Umsetzung des Infektionsschutzes aller Beteiligten Konzepte und Standards.


Die Stellungnahme im Wortlaut:


Die Schließungen sowie die Notbetreuungen in den KiTas aufgrund der COVID-19-Pandemie erleben wir als Ausnahmesituation für Kinder, Eltern, aber auch für uns Fachkräfte.

Nach unserer Wahrnehmung zeigen die aktuellen Debatten, dass die Kindertagesbetreuung für Kinder und Eltern in unserer Gesellschaft ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil einer öffentlichen Infrastruktur der Bildung und Betreuung ist. Ihre „Nicht-Verfügbarkeit“ hat erhebliche Auswirkungen für die Entwicklung, Bildung und Erziehung aller Kinder, das Leben von Familien, die Berufstätigkeit von Müttern und Vätern sowie unsere Volkswirtschaft insgesamt. Die Kindertagesbetreuung ist ein elementarer Knotenpunkt in unserer hochkomplexen Gesellschaft, deren (weitgehender) Ausfall aktuell sehr drastisch und auch schmerzhaft ihre Bedeutung und Funktionen, nicht nur für Kinder und Familien, sondern für uns alle, sichtbar macht.

Gleichzeitig erlaubt der wissenschaftliche Kenntnisstand nach unserer Einschätzung aktuell noch keine verlässlichen Aussagen zu den Auswirkungen der gegenwärtig diskutierten Rückkehr zu einem „normalen“ KiTa-Betrieb für die Gesundheit der Kinder, Eltern und Fachkräfte sowie die Gesamtbevölkerung durch eventuell beschleunigte Infektionsketten. Neben diesen möglichen gesundheitlichen Auswirkungen beobachten und erfahren wir aus kindheits- und sozialpädagogischer Sicht die Zumutungen und Risiken, denen Kinder durch die weitgehende Nicht-Zugänglichkeit von KiTas ausgesetzt sind, und wissen um die daraus potentiell resultierenden individuellen und sozialen Folgewirkungen.

Die Einschränkungen in den verschiedenen Lebensbereichen durch das Coronavirus führen für Familien zu erhöhten Anforderungen und müssen zusätzlich zur Kinderbetreuung zu Hause bewältigt werden: Dies kann zu einer Überforderung und Krisen führen. Je länger diese Situation andauert, desto mehr sind Mütter und Väter auch dem Risiko eines Arbeitsplatzverlustes – oder zumindest eines Einkommensverlustes – und damit tiefgreifenden existentiellen Sorgen ausgesetzt.

Aus unserer Sicht als Fachkräfte geht es deshalb um eine Abwägung von mehreren Gefahren- und Risikolagen für Kinder, Mütter, Väter, uns Fachkräfte sowie unsere Gesellschaft insgesamt.

Eine solche Abwägung ist allerdings schwierig, da empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Grundlagen aktuell weitgehend fehlen, um die potentiellen Auswirkungen verschiedener Maßnahmen und ihre Risiken einschätzen und gegeneinander abwägen zu können. Wir alle befinden uns in einer – völlig neuen – Ausnahmesituation, für die es bislang keine Erfahrungen und Handlungsempfehlungen gibt.

Auch wir KiTa-Fachkräfte erleben aktuell täglich, dass wir immer wieder neue Wege und Formen des Umgangs in den KiTas sowie mit Kindern und ihren Familien, aber auch in unserem privaten Leben entwickeln und umsetzen müssen.

Ein Innenblick: Die aktuelle Situation in den KiTas

Wir erleben in den KiTas gerade eine Zeit, die auch geprägt ist von Unsicherheit und Ambivalenzen, die es gemeinsam auszuhalten sowie zusammen zu verhandeln gilt. Auch für die Politik und die Wirtschaft birgt die aktuelle Situation eine völlig neue Komplexität. Es braucht deshalb ein behutsames und abgewogenes Handeln. Dabei sollten auch diejenigen gehört und bedacht werden, die unmittelbar betroffen sind und die jeweiligen Maßnahmen mit umsetzen müssen: die KiTa-Fachkräfte, die Eltern, aber auch die Kinder!

Die individuellen Unsicherheiten und Ängste fordern und überfordern alle gleichermaßen. Erschwerend kommt die Notwendigkeit hinzu, individuelle und gemeinschaftliche Interessen zu-einander ins Verhältnis zu setzen und gegeneinander abzuwägen. So stehen etwa ein finanzieller Verlust durch Kurzarbeit, die Arbeitslosigkeit von Müttern und Vätern aufgrund der fehlenden KiTa-Betreuung und auch die soziale Isolation von Kindern einer Unterbrechung oder Verlangsamung der Infektionsketten gegenüber. Aber auch die – weitgehend unbekannten – gesundheitlichen Risiken für uns Fachkräfte müssen aufgrund der besonderen (körperlichen) Nähe zu den Kindern bei diesen Abwägungen berücksichtigt werden. Die KiTas und ihre Fachkräfte haben bereits gezeigt, dass sie sich von Anfang an nicht ohnmächtig dieser Situation ausliefern. Vielmehr haben wir uns bundesweit vom ersten Tag der KiTa-Schließungen an – sofort – eigeninitiativ und verantwortungsvoll mit all unserer Professionalität der neuen Situation gestellt.

Auf kreative und innovative Art und Weise halten wir regelmäßig den Kontakt zu den Eltern und Kindern, wir unterstützen die Familien in ihrem Alltag. Wir KiTa-Fachkräfte stärken die Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung, wir bringen den Familien großes Zutrauen entgegen, die schwierige Situation gut zu meistern: Vielfältige Angebote, ausgearbeitet für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Eltern und Kinder, werden entwickelt und ins Leben gerufen, um die Familien zu entlasten. Die Bedürfnisse und Bedarfe von besonders verletzlichen Kindern und Familien erhalten dabei von Anfang an besondere Aufmerksamkeit.

Ein Ausblick: Was braucht die Bewältigung der Krise?

Ob in den Bundesländern, auf kommunaler Ebene oder bei den Trägern: Uneinheitliche, nicht miteinander abgestimmte Vorgaben für die Notbetreuungsangebote und die diffuse Diskussion, wie es weitergehen soll, verschärfen die bereits bestehende Verunsicherung im KiTa-System.

Innerhalb eines Umkreises von wenigen Kilometern können sich gravierende Unterschiede zeigen bei der Definition der anspruchsberechtigten Kinder, Familien oder Berufsgruppen, den organisatorischen Umsetzungen, den Hygieneverordnungen oder den Vorgaben zur Beschäftigungssituation der Mitarbeiter*innen. Die Folge können ein massiver Vertrauensverlust in die Wirksamkeit der politisch initiierten Maßnahmen und damit auch eine geringere Akzeptanz sein. Neben der Koordination von Maßnahmen und Organisationsformen müssen die KiTa-Fachkräfte sowie die Familien an den DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. en und Entscheidungen zur Ausgestaltung der Angebote in den nächsten Wochen und Monaten beteiligt werden. Die KiTas dürfen in ihrer Aufgabe, Kinder und Eltern in der jetzigen Krise zu unterstützen, nicht allein gelassen werden. Die KiTas dürfen nicht allein gelassen werden, wenn es darum geht, Kinder und Eltern in der jetzigen Krise zu unterstützen. Die Politik und auch die Arbeitgeber müssen ebenfalls ihre Verantwortung für eine ausreichende finanzielle Absicherung der Familien sowie der Arbeitsplätze der Eltern wahrnehmen, wenn eine Kinderbetreuung nicht für alle oder nicht in ausreichendem Umfang bereitgestellt werden kann, weil beispielsweise als notwendig eingestufte Hygieneanforderungen dem entgegenstehen oder das entsprechende Personal aufgrund der Zuordnung zu einer Risikogruppe nicht zur Verfügung steht.

Nächste Schritte: Das würde helfen, die Herausforderungen gemeinsam zu meistern!

Die aktuelle Situation wird unsere Gesellschaft auf nicht absehbare Zeit beschäftigen und die beruflichen wie auch die privaten Rahmenbedingungen des Zusammenlebens bestimmen.

Bislang fehlten uns die Erfahrungen mit solch einer Krise. In einer demokratischen Gesellschaft sind wir dazu aufgefordert, gemeinsam zu lernen und miteinander ins Gespräch zu kommen.

Da die Herausforderungen und Konsequenzen dieser ernsten Zeit nicht gänzlich abzusehen sind, ist ein behutsames und vorsichtiges Vorgehen mit Augenmaß im Sinne aller – der Kinder, Eltern und KiTa-Fachkräfte – angebracht.

Schnelle, unausgewogene Entscheidungen, die ohne Beteiligung der betroffenen Gruppen umgesetzt werden, sind nicht hilfreich, können gar die schwierige Situation noch verschärfen.

Wir sehen daher die folgenden Punkte als hilfreich an, um die Unsicherheiten und Herausforderungen gemeinsam zu meistern:

  • Dringend erforderlich sind wissenschaftliche Studien, damit mehr Erkenntnisse vorliegen, welches Infektions- und Krankheitsgeschehen das Virus bei Kindern und Jugendlichen auslösen kann. Darüber hinaus braucht es mehr Wissen über die Auswirkungen, die – enge körperliche – Kontakte zwischen den Kindern und Erwachsenen in den KiTas für die Entwicklung von Infektionsgeschehen haben können.
  • Es braucht gemeinsame Abstimmungen von Bund und Ländern, in die auch Vertreter*innen von Trägern, Fachkräften und Eltern eingebunden sind. Diese sollten zu einheitlichen Regelungen führen, damit Vertrauen und Akzeptanz in die Vorgehensweisen aufgebaut wird und ihre Umsetzung unterstützt wird. Nur so kann Solidarität entstehen, die möglicherweise auch individuelle Interessen einschränkt.
  • Politik und Wirtschaft müssen neben Angeboten der Kindertagesbetreuung zusätzlich weitere Formen und Wege der Unterstützung und (finanziellen) Absicherung von Kindern und Familien etablieren. Dazu können niedrigschwellige Angebote, wie die Öffnung der Spielplätze, aber auch ein Kündigungsverbot für Eltern aufgrund von fehlender Kinderbetreuung oder weitreichendere Lohnfortzahlungen als bislang möglich zählen.
  • Die Situation der KiTa-Beschäftigten (insbesondere der Gesundheitsschutz) ist ebenso verantwortungsbewusst wahrzunehmen. Auch sie haben Rechte, die bedacht werden müssen: Es handelt sich hier ebenso um gefährdete Menschen, Mütter und Väter mit eigenen Kindern und vielfältigen privaten Verpflichtungen und Herausforderungen.
  • Die strukturellen Rahmenbedingungen in den KiTas sind bereits im „Normalbetrieb“ oftmals unzureichend. Zu knappe Personalbemessung, unbesetzte Stellen, zu geringe Leitungskapazitäten sowie mangelhafte räumliche Gegebenheiten erschweren zusätzlich die Durchführung der Betreuung in der aktuellen Krise. Eine Sicherstellung von kleinen Gruppen oder eine ausreichende räumliche Trennung lassen sich nicht für alle Kinder gleichermaßen gewährleisten.
  • Angemessene Ansprache auch der Kinder: Nicht nur die Fachkräfte und die Eltern, auch die Politik, so zeigt sich in anderen Ländern, kann und muss die Kinder auf entwicklungsgerechte und sensible Art und Weise über die Veränderungen in ihren Lebenswelten informieren und mit ihnen „im Gespräch bleiben“. Kinder sind Mit-Menschen und Bürger*innen, die ein Recht auf „Verstehen“ und Informationen sowie auf Beteiligung an den Angelegenheiten ihres Lebens haben.
Die aktuelle Situation und ihre Analyse führen vor Augen: Die KiTa ist für Kinder nicht nur ein Ort der Betreuung und Versorgung. Die KiTa ist den Kindern ein wichtiger Lebens- und Bildungsort!

Wir als KiTa-Fachkräfte gestalten diesen Ort schon immer mit Herzblut und hoher Professionalität. Mit Fachlichkeit und Verantwortungsgefühl navigieren wir nicht nur durch die gegenwärtige Situation, sondern bestimmen die Zukunft mit, indem wir als Expert*innen fundierte Antworten auf neue pädagogische Herausforderungen geben, die sich uns nach der Corona-Pandemie stellen werden.


Zum Hintergrund:

Das Fachkräfte-Forum (45 KiTa-Fachkräfte aus allen Bundesländern) arbeitet bundesländerübergreifend seit 2019 im Projekt „FachkräfteZOOM“ (www.fachkraeftezoom.de) der Bertelmann Stiftung an Reformvorschlägen zur Weiterentwicklung der KiTa-Systeme.


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Quelle: Bertelsmann-Stiftung