„Zwang spielt eine große Rolle“


Essen und Trinken, Schlafen und Sauberkeitserziehung – die Aufgaben von Kita-Fachkräften im Rahmen der Alltagsroutinen sind vielfältig. Dr. Dorothee Gutknecht ist Professorin im B.A.-Studiengang Pädagogik der Kindheit an der Evangelischen Hochschule Freiburg und befasst sich mit Grenzüberschreitungen im Kita-Alltag.

© Gudrun de Maddalena, Tübingen Dr. Dorothee Gutknecht ist Professorin an der Evangelischen Hochschule Freiburg.


  • Frau Prof. Dr. Gutknecht, Sie sprechen auf der didacta 2020 – die Bildungsmesse -  über „Risiken im Kontext von Assistenz und Begleitung in den Lebensaktivitäten“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Es geht um Grenzüberschreitungen von Fachkräften gegenüber Kindern im Alltag einer Einrichtung. Die mediale Berichterstattung der letzten Jahre zeigt, dass diese Vorfälle in erster Linie Aktivitäten des Lebens betreffen: Das sind zum Beispiel Essen und Trinken, Schlafen und Ruhen, Ausscheiden etc. Vor Gericht werden oft Übergriffe in der Begleitung dieser Aktivitäten verhandelt, zum Beispiel am Bildungsort Mahlzeit und bei der Begleitung auf die Toilette. Insbesondere bei älteren Kindern ab vier Jahren verlieren Fachkräfte eher die Fassung, wenn sich die Kinder häufiger einkoten oder andere Verhaltensweisen zeigen, die für die Fachkräfte belastend sind.

  • Worin bestehen diese einzelnen Grenzverletzungen?
Zwang spielt eine große Rolle. Alle Lebensaktivitäten können fachlich hochwertig oder eben grenzüberschreitend gestaltet werden, indem Kinder beim Warten auf das Essen beispielsweise gezwungen werden, auf den eigenen Händen zu sitzen. Oder wenn Kinder auf dem Schoß fixiert werden, um das Essen einzutrichtern. Im Kleinkindalter wird häufiger die sogenannte „Lätzchenfixierung“ angewendet: Da wird der Teller auf das Ende des umgebundenen Lätzchens gestellt, sodass das Kind sich kaum bewegen kann, ohne den Teller umzuwerfen. Beim Schlafen gibt es ähnliche Schwierigkeiten: Es gibt Schlafzwang und das Vorenthalten von Schlaf.

  • Treten die genannten Grenzverletzungen heute verstärkt auf oder hat sich der Blick der Gesellschaft auf die Betreuung von Kindern verändert?
Die beschriebenen Übergriffe hat es im institutionellen Bereich auch früher gegeben. Aktuelle Forschung zeigt heute viele Präventionsmöglichkeiten. Es ist durchaus eine neue Aufmerksamkeit für die respektvolle Begleitung der Lebensaktivitäten von Ein- bis Sechsjährigen durch Fachkräfte entstanden. Man weiß heute zum Beispiel mehr über die Gestaltung des Mittagsschlafs in Einrichtungen und dass Schlafzwang beispielsweise zu Schlafstörungen führen kann. Heute würde man empfehlen, stärker an den Müdigkeitssignalen entlang zu arbeiten und Kindern ohne Schlafbedarf zeitweise Ruhemöglichkeiten und eine lärmreduzierte Umgebung anzubieten.

Internationale Forschungsergebnisse zeigen, dass ältere Kinder in Institutionen ein höheres Misshandlungsrisiko haben, wenn sie noch nicht ausscheidungsautonom sind. Aus eigenen Feldforschungen wissen wir, dass Fachkräfte teilweise außer sich sind, wenn sich ein vierjähriges Kind einkotet, dies aus Scham nicht meldet und eine Kollegin später eine Dreiviertelstunde die Gruppe verlassen muss, weil der Kot inzwischen in Haaren, Hose und Schuhen ist. Vor Gericht landete ein Fall, in dem ein Kind als Strafe kalt abgeduscht wurde.

  • Was muss in Einrichtungen passieren, um solche Grenzüberschreitungen zukünftig zu vermeiden?
Wichtige Ansatzpunkte sind Schulung des Personals und eine deutlich verbesserte räumliche Ausstattung. Der Personalschlüssel muss für die Krippe aber auch für die Kita (3-6) verbessert werden, denn Überforderung kann zu mehr Übergriffen führen. Die Fachkräfte brauchen Anleitung nach neuesten Erkenntnissen zu allen Lebensaktivitäten: Wie gehe ich mit Ekel um? Wie begegne ich herausforderndem Verhalten am Tisch, wenn Kinder unglaublich wählerisch sind und das Essen verweigern? Es gibt inzwischen Bücher und Weiterbildungen, um diese Themen in die Einrichtungen zu tragen. Auch muss die achtsame Begleitung von Kindern in den Lebensaktivitäten in der Ausbildung an Fachschulen und im Studium behandelt werden.

Quelle: www.bildungsklick.de / Anna Petersen


Vom 24. bis 28. März 2020 führt die didacta als weltweit größte und Deutschlands wichtigste Bildungsmesse wieder Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in Stuttgart zusammen.
 
Nähere Informationen zu den Veranstaltungen der didacta 2020 finden Sie unter www.didacta-messe.de und www.facebook.com/didacta-messe.