Ein indischer Bildungsforscher über das Selbstlernpotenzial von Kindern.


In den 1990er-Jahren hatte Sugata Mitra eine Idee: Was, wenn man unterprivilegierten Kindern Zugang zu einem Computer verschafft – und einfach machen lässt? Im Gespräch mit dem didacta Infodienst erzählt er, was passierte. Der indische Bildungsforscher Prof. Mitra war überrascht über die Ergebnisse seiner Studie: "Unbetreute Kinder lernen den Umgang mit den Computern von allein."


  • Sie haben den Begriff „minimally invasive education“, zu Deutsch „minimal invasive Bildung“ geprägt. Was bedeutet er?

Ich habe den Begriff an die Chirurgie angelehnt. Der Gedanke dahinter ist, Menschen zu bilden und dabei so wenig wie möglich in ihr Leben einzugreifen.


  • Ein großer Teil Ihrer Forschung basiert auf dem „Hole in the Wall“-Projekt (zu Deutsch: „Loch in der Wand-Projekt“). Was steckt dahinter?

1999 hatten arme Kinder in meinem Heimatland Indien keine Ahnung, was ein Computer ist, wie man ihn benutzt oder was das Internet ist. Wir wollten herausfinden, was Kinder machen, wenn sie mit einem ans Internet angeschlossenen Computer im öffentlichen Raum konfrontiert sind. Den Computer haben wir in der Begrenzungsmauer zwischen einem Slum und meinem recht schicken Büro in Delhi angebracht. Auf dem Rechner war nur ein Browser und die übliche Windows-Oberfläche installiert. Ziel des Experimentes war, zu dokumentieren, was dann passiert.

  • Und was kam dabei heraus?

Bei sicherem, öffentlichem Zugang zum Internet lernen unbetreute Kindergruppen den Umgang mit Computern und dem Internet von allein. Nach neun Monaten haben sie in etwa das Niveau einer Bürokraft in westlichen Ländern erreicht. Das fand ich überraschend. Ich weiss leider immer noch nicht, nach welchen Mechanismen dieses Lernen funktioniert. Aber ich arbeite daran.

  • Das Hole-in-the-Wall-Projekt wurde auch an anderen Orten umgesetzt. Mit dem gleichen Ergebnis?

Die Ergebnisse waren identisch. Das war eine echte Überraschung.

  • Was bedeutet minimal invasives Lernen für die Gestaltung von Bildungsprozessen?

Es gibt uns die Grundlage für ein neues Lernen, ein Lernen, das für unser Überleben in der Zukunft unerlässlich sein wird. Denn in der Zukunft wird Wissen nicht so wichtig sein, stattdessen wird man pausenlos lernen.

  • Woran arbeiten Sie jetzt?

An einem Bewertungssystem, das misst, was für das Leben der Kinder heutzutage wichtig ist. Also Empathie, Kreativität, kritisches Denken. Eigentlich das Gegenteil von dem, was einen guten Angestellten im 19. Jahrhundert ausgemacht hat. Unser heutiges System wurde hauptsächlich darauf ausgerichtet, Bürojobs besetzen zu können. Das wird sich ändern.


Hintergrund
1999 installierte Sugata Mitra, damals wissenschaftlicher Leiter bei einem Bildungsunternehmen, einen Computer in einer Mauer eines Slums in Neu-Delhi, Indien. Kinder konnten ihn frei nutzen. Seitdem richtete die Organisation HiWEL (Hole in the Wall Education Limited), an der auch die Weltbank beteiligt ist, in Entwicklungs- und Schwellenländern in Asien und Afrika mehrere hundert solcher Lernstationen ein. In einer vierjährigen Untersuchung zeigte sich, dass sich die Schulleistungen der Kinder, die die Lernstationen nutzen, gegenüber einer Kontrollgruppe deutlich verbesserten. Seit 2006 ist Mitra Professor für Bildungstechnologie an der University of New­castle upon Tyne in Groß­britannien.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in:
didacta Infodienst – Das Bildungsdossier für Politik und Bildungsverwaltung, Ausgabe 1/2017, S. 5, www.didacta.de