Auf der zweiten nifbe-Regionalkonferenz „Kinder und Familien mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung“ standen in Lüneburg Themen wie die Pädagogische Professionalität in der Flucht- und Migrationsgesellschaft, die Mehrsprachigkeit, das Trauma sowie übergreifend die KiTa als sicherer Ort im Fokus.

sagrabelna 150Nach der Begrüßung durch den gastgebenden VHS-Leiter Gerhard Cassens unterstrich Verena Sagrabelna vom Niedersächsischen Kultusministerium die Bedeutung der KiTa für eine Integration und für gleiche Bildungschancen von Anfang an. Im Sozialraum KiTa könne die Vielfalt tagtäglich er- und gelebt werden und so hätten viele Pädagogische Fachkräfte auch schon große Erfahrungen im Umgang mit Interkulturalität. Für die Aufnahme von Kindern und Familien mit Fluchthintergrund in die KiTa seien allerdings noch „erweiterte Handlungskompetenzen“ notwendig. Zur Unterstützung der Praxis habe das Kultusministerium in Kooperation mit dem nifbe, der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung, dem Kindertagespflegebüro und dem Kinderschutzbund so auch die Qualifizierungsinitiative „Vielfalt fördert! Vielfalt fordert!“ initiiert, die aus zwei Säulen bestehe: Der Ausbildung von bis zu 200 MultiplikatorInnen und der Durchführung von zehn Regionalkonferenzen rund um das Thema Flucht. Über die auf nun 12 Millionen Euro verdoppelten Mittel für die Sprachförderung in den Städten und Kommunen könnten auch Fortbildungen zu den verschiedenen Aspekten des Umgangs mit Kindern und Familien mit Fluchthintergrund in der KiTa durchgeführt werden.

Zur Dialektik und zum Dilemma der Differenz

rosen 150 kopieEinen kritischen Abriss der Lebensrealität von Kindern und Familien mit Fluchterfahrung gab Prof. Dr. Lisa Rosen von der Universität Osnabrück in ihrem Impulsvortrag. Vor allen Dingen in den Erstaufnahmeeinrichtungen „wird den Kindern das Recht auf Selbstbestimmung“ vorenthalten. Neben den möglichen traumatischen Erfahrungen in den Herkunftsländern und während der Flucht, könnte diese Situation noch einmal zusätzlich zu hoch belastenden Erfahrungen führen. Umso bedeutsamer sei es, die KiTa als sicheren Ort zu gestalten und dem durch Belastung oder Traumata hervorgerufenen Strukturverlust mit einem sicherer Rahmen und geregelten Tagesabläufen zu begegnen. Wichtig sei ein „empathischer und wertschätzender Umgang“ und dass den Kindern Zugehörigkeit signalisiert werde.

Im Anschluss schärfte Lisa Rosen insbesondere den Blick für die „Dialektik der Differenz“, die zwischen den Polen der „Differenzblindheit“ und der „Differenzfixierung“ hin und her pendele. Kommunikation mit geflüchteten Familien und ihren Kindern finde in einem komplexen Feld aus „Machtasymmetrie, dem jeweiligen Kulturellen Skript, Kollektiverfahrungen und Fremdbildern“ statt. Hier sei in jeder Situation von neuem eine „hohe Reflexionskompetenz“ der pädagogischen Fachkräfte gefragt.

Mehrsprachigkeit als Normalität

pana 150 kopieDie Mehrsprachigkeit stand im Fokus eines zweiten Impulsvortrages von Prof. Dr. Argyro Panagiotopoulou. Diese, so führte sie aus, werde zwar zunehmend anerkannt, aber eine mehrsprachige Praxis in der KiTa sei noch lange nicht selbstverständlich – und dies obwohl nach einer Studie 63% der 4-5jährigen Kinder mit Migrationshintergrund zu Hause überwiegend nicht Deutsch sprächen.

Sehr kritisch nahm Panagiotopoulou die „fehlende Wirksamkeit der bisherigen Sprachförderung“ in den Blick. So hätten die wenigen vorhandenen Evaluationen gezeigt, dass eine „kompensatorische“ Sprachförderung in isolierten Settings „keine oder nur geringe Effekte“ habe. Positive Effekte habe dagegen eine alltagsintegrierte Sprachförderung in der KiTa, wie zum Beispiel das dialogische Bilderbuchlesen. Diese müsse aber zukünftig „systematisch und authentisch um die mehrsprachige Dimension“ erweitert werden. „Mehr- und Quersprachigkeit muss in der KiTa zur Normalität werden“, forderte Panagiotopoulou abschließend.

In vier Workshops wurden im Anschluss die Themen der Impulsvorträge vertieft und weitere Aspekte zum Thema Kinder und Familien mit Fluchterfahrung in der KiTa vorgestellt und diskutiert.

Bausteine für die KiTa als sicheren Ort

röhling 150Die Referentin und Prozessbegleiterin Gisela Röhling hob in ihrem Workshop „Umgang mit Flucht als traumatische Erfahrung von Kindern“ die „Zugehörigkeit als unglaublich wichtiges Thema“ heraus. Neben einem emphatischen und offenen Umgang könne den Kindern mit Fluchterfahrung dabei auch das Erleben von Vertrautem helfen, zum Beispiel Worte, Musik oder auch Speisen aus ihrem Heimatland. Traumatisierte Kinder könnten insbesondere durch Angebote zur Bewegung, durch Tanz und Musik oder Malen erreicht werden. Hierdurch würden Stressabbau, Selbstausdruck und das Erleben von Selbstwirksamkeit ermöglicht. Grundsätzlich gelte es bei traumatisierten Kindern den Grund für ihr oftmals nicht sofort verständliches Verhalten einfühlsam zu hinterfragen. Einen zentralen Stellenwert wies sie im Umgang mit Kindern mit Fluchterfahrung auch der Selbstreflexion, der Selbstwahrnehmung und auch der Selbstfürsorge der pädagogischen Fachkräfte zu.

Gemeinsam mit den Workshopteilnehmerinnen sammelte Gisela Röhling in der Folge wichtige Bausteine für die KiTa als sicheren Ort:
  • Struktur / Orientierung (z.B. geregelter Tagesablauf)
  • Verlässliche Beziehungen / Vertrauen
  • Rückzugsmöglichkeiten geben / keine Reizüberflutung
  • Resilienz fördern, Stärken der Kinder in den Blick nehmen
  • Jede Sprache willkommen heißen
  • Eingewöhnung flexibel gestalten
  • Eltern einbeziehen und teilnehmen lassen, untereinander vernetzen
  • Fotos und / oder Videos der Kinder für Kommunikation mit Eltern
  • Patenmodelle (Kind-Kind, Eltern-Eltern)
hentschel 150In ihrem Workshop „Ressourcenorientierte Zusammenarbeit mit Familien mit Fluchterfahrungen“ skizzierte die Referentin und Prozessbegleiterin Gabriela Hentschel zunächst den Kontext der Inklusion und einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Sie hob Unterschiede grundsätzlich als Chance und Bereicherung hervor. Im Umgang mit Vielfalt seien „eine Schärfung des inklusiven Blickes“ und eine „offene und wertschätzende Haltung“ entscheidend. Dies gelte auch für Eltern von Kindern mit Fluchterfahrung. Diese brächten einen „großen Rucksack an Ressourcen und Kompetenzen“ mit, die es gelte es in der Kita sichtbar zu machen und einzubeziehen - von persönlichen und beruflichen Qualifikationen über Mut und Durchhaltevermögen, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität bis zur Lernbereitschaft oder Kommunikationsfreude.

Gemeinsam mit den Workshop-TeilnehmerInnen sammelte Gabriela Hentschel in der Folge gute Praxisbeispiele für ein wertschätzendes Ankommen von Kindern und Familien mit Fluchterfahrung in der KiTa:
  • Mehrsprachiger Willkommensgruß, Weltkarten und / oder Länderflaggen im Eingangsbereich der KiTa
  • Bei Puppen und Spielfiguren auf kulturelle Vielfalt achten; Hautfarbenstifte anschaffen
  • Internationale Begrüßungsrituale in den Morgenkreis aufnehmen
  • „Mein Name ist ein Schatz“
  • Sprachenvielfalt und Schriftzeichen sichtbar machen
  • Grundworte auf einem Plakat in mehrere Sprachen übersetzen
  • Fotos / Symbole / Piktogramme für Hinweise und Orientierungen einsetzen
  • Interkultureller Kalender


Für die dauerhafte Teilhabe insbesondere auch von Eltern mit Flucht- oder Migrationshintergrund wurden folgende Praxisbeispiele gesammelt:
  • Bilinguale Buch- und Spiele-Bibliothek aufbauen
  • Mehrsprachige Vorleserunden
  • Eltern in vorschulische Sprachförderung einbeziehen
  • Berufe, Kompetenzen und Interessen der Eltern einbeziehen
  • Patenschaften und Vernetzung zwischen Eltern fördern
  • Internationale Feste und Buffets


In diesem und im nächsten Jahr bietet das nifbe noch acht weitere Regionalkonferenzen zum Thema „Kinder und Familien mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung“ an. Die nächsten Veranstaltungen finden Sie hier:

Kinder und Familien mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung


In Kürze finden Sie hier auch die Präsentationen der Vorträge und der Workshops!

Präsentation Prof. Rosen

Präsentation Prof. Panagiotopoulou

Fotoprotokoll Workshop Hentschel