Clara Grunwald (1877-1943)


Clara GrunwaldClara Grunwald gilt als die führende Kraft der frühen Montessori-Bewegung in Deutschland. Sie war Mitglied des „Bundes entschiedener Schulreformer“ und hatte als solches die Reformpädagogik der 1920er Jahre bis 1933 wesentlich mitgeprägt. Des weitern war sie an der Gründung von Montessori-Kinderhäusern sowie Montessori-Schulen (u. a. in Altona, Berlin, Jena und Freiburg/Brg.) maßgebend beteiligt, initiierte Montessori-Ausbildungslehrgänge, gründete Montessori-Vereine und setzte sich in Wort und Schrift für die „neue Erziehung“ ein, die sie energisch verteidigte, gerade zu einer Zeit, als diese insbesondere von Anhängern der Fröbel-Pädagogik attackiert wurde:

„Auch das Volksganze hat Anspruch auf die beste Erziehung der Kinder […] Wo sind die vorbildlichen Einrichtungen zur Betreuung der Säuglinge und Kleinkinder berufstätiger Mütter? […] Unsere vereinten Bestrebungen müssen darauf gerichtet sein, daß immer mehr Montessori-Kinderhäuser entstehen, bis ihre Zahl groß genug ist, daß jedem Kinde sein Recht wird auf die bestmögliche Erziehung und Pflege in den Jahren der zartesten Kindheit, die die entscheidenden für das ganze Leben sind“ (Grunwald o. J., S. 3 ff.)
 

Leben und Wirken


Clara Grunwald wurde am 11. Juni 1877 in Rheydt (heute zu Mönchengladbach gehörend) geboren, „in jener Stadt, in der 20 Jahre später einer ihrer verantwortlichen Mörder zur Welt kam, Joseph Goebbels“ (Holtz 1997, S. 104). Sie war das erste Kind einer äußerst kinderreichen jüdischen Kaufmannsfamilie. Nach mehreren Wohnortwechseln übersiedelte die Familie 1883 nach Berlin, wo Clara Grunwald eine Lehrerinnenausbildung absolvierte. Vermutlich legte sie noch das Mittelschullehrerinnenexamen ab, denn ab 1916 unterrichtete sie an der „Louise-Otto Peters-Schule“, einer Mädchenmittelschule. Um 1913 kam Clara Grunwald in Berührung mit der Montessori-Pädagogik. Doch erst nach Ende des Ersten Weltkrieges konnte sie sich für die „neue Pädagogik“ aus dem einstigen Feindland Italien einsetzen. Clara Grunwald, die 1921 einen Montessori-Ausbildungskurs in London absolviert hatte, den die „Dottoressa“ persönlich abhielt, gründete den ersten Montessori-Verein Deutschlands, genannt „Montessori-Komitee“. Daraus ging schließlich 1925 die „Deutsche Montessori-Gesellschaft e. V. (DMG)“ hervor, die Clara Grunwald mehrere Jahre präsidierte.

Clara Grunwalds Dogmatik in ihrem Einsatz für die Montessori-Pädagogik blieb nicht unkritisiert. So hatte beispielsweise Kati Lotz, Fröbelanhängerin, Lehrerin an der Odenwaldschule und Leiterin einer Reformschule, über sie an Paul Geheeb geschrieben:


„1924 habe ich etwa 1 ½ Jahre auf den dringenden Wunsch von Clara Grunwald mich an deren Montessori-Bestrebungen beteiligt, die starre Dogmatik von C.G. war jedoch zu hinderlich, eine freie Durcharbeitung hätte mich vielleicht befriedigt. Da ich jedoch im Auftrag von C.G. arbeitete war ich durch sie gebunden und löste mich" (zit. n. Weidmann 2015, S. 34)


Die Machtergreifung der Nazis bereitete Clara Grunwalds Engagement für die Montessori-PädagogikMontessori-Pädagogik|||||Montessoripädagogik wurde von Maria Montessori ab 1907 als pädagogisches Bildungskonzept vom Kleinkind bis zum jungen Heranwachsenden entwickelt. Leitspruch der Pädagogik ist "Hilf mir es selbst zu tun" und arbeitet mit offenem Unterricht und freien Verfügungsphasen, in dem der Lehrende dazu angehalten ist die Lernprozesse angemessen anzuregen.  ein abruptes Ende. Auch ihre Tätigkeit als Lehrerin musste sie aufgeben. Schließlich kam sie Endes des Jahres 1941 auf das einstige landwirtschaftliche Umschulungsgut Neuendorf bei Fürstenwalde, das bereits zu einem Zwangsarbeitslager geworden war. Von dort aus verschleppte man sie zusammen mit weiteren Lagerinsassen und deren Kindern im April 1943 nach Auschwitz, wo Clara Grunwald auf bestialische Weise in den Tod getrieben wurde.

Erziehung in Freiheit zur Selbsttätigkeit

 
vs 23748 01Für Clara Grunwald bedeutete die „neue Erziehung“, dass diese nicht durch Verbote und Gebote, durch Ermahnung und Lehre, durch Lohn und Strafe, Anstachelung und Wetteifer oder falschen Ehrgeiz gekennzeichnet ist. Vielmehr ist sie ausgerichtet auf Selbsterziehung durch Selbsttätigkeit in Freiheit (vgl. Grunwald 1920, S. 421 ff.); sie „besteht aus den Fragen der Kinder, der leiblichen Bewegung, aus Betätigung, Erforschung der Umgebung, achtsamen Umgang mit Pflanzen und Tieren“ (Köpcke-Duttler 2000, S. 88), mit schönen und zerbrechlichen Sachen u. a. m. Die Kinder lernen, „was sie tun müssen, und wie sie es tun müssen, durch die Dinge, durch ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse; sie müssen ausprobieren, wie eine Sache am besten anzugreifen ist, sie müssen sich oft selbst zu helfen suchen“(Grunwald 1920, S. 424). Die den Kind umgebende Umwelt muss soziale Gefühle der Hilfsbereitschaft, die Verantwortung und Sorge für Dinge, Gegenstände und Geschöpfe hervorrufen. Wenn beispielsweise ein Kind erlebt, dass „die Pflanzen matt werden, die es nicht rechtzeitig begossen hat, so bedarf es nicht des tadelnden oder ermahnenden Wortes, um es seinen Fehler gutmachen und am nächsten Tag vermeiden zu lassen. Das Aufbrechen der Blüten, das Reifen der Früchte an seinen Pflanzen sind für das Kind beglückende Erfolge der eigenen Arbeit, deshalb ein höherer Lohn als jeder, der von außen käme“ (ebd., S. 423 f).

In ihren Publikationen stellt Clara Grunwald die Grundgedanken der Montessori-Pädagogik in leichtverständlicher Sprache vor, postiert ins Zentrum die Erziehung der Muskeln, des Intellekts, der Sinne, der sozialen Gefühle und des sittlichen Willens, die sie detailliert beschreibt, veranschaulicht an ausgewählten Beispielen aus der eigenen Praxis, in einem Rückgriff auf die Lehren u. a. von Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Novalis und Fröbel. Die Erziehung in Freiheit, die zur Selbsttätigkeit führt, war ihr ein wichtiges Anliegen, denn nur von hier aus sind die „Montessori-Phänomene“, wie z. B. die tiefe kindliche Konzentration zu beobachten und die „Montessori-Materialien“ wirkungsvoll. Dazu Clara Grunwald:

„So entwickelt in der Freiheit und durch die Freiheit das Kind mehr und mehr seine Persönlichkeit: ‚Ein Charakter ist ein vollkommen gebildeter Wille’ (Novalis). Das wichtigste auf der Welt ist für uns alle die Entwicklung unseres Selbst; hier ist die Quelle unserer Kraft, auch für den Dienst an anderen“ (Grunwald 1923, S. 33).

Stets bekräftige Clara Grunwald das montessorianische Motiv, dass die Kinder der Mittelpunkt sind, denn sie sind es, „die uns in eine bessere Menschheit als die unsrige erleben lassen, eine Menschheit voller Ursprünglichkeit, Kraft und Schönheit. Wenn wir die Kinder nicht in unsere Form pressen, sehen wir, daß sie Tugenden besitzen, die wir ihrem frühen Lebensalter kaum zutrauen: unermüdlichen Tätigkeitstrieb, Nächstenliebe, innere Disziplin (Grunwald o. J., S. 40 f).

Die „neue Lehrerin“ sollte hauptsächlich Hüterin und Schützerin des Kindes und seiner es umgebenden Umwelt sein. Ihre Aufgabe besteht darin, alles, was das Kind in seiner Entwicklung stören könnte, von ihm fern zu halten:

„Sie erwartet mit Geduld die Offenbarungen der Natur in jedem Kinde; sie beobachtet das Kind, um seine Notwendigkeiten kennenzulernen, aber sie greift niemals zu Unzeit in die Entwicklung des Kindes ein. Sie wacht über ihrer eigenen Disziplin und über ihren Handlungen. Sie liebt die Kinder und achtet die kindliche Persönlichkeit. Ihr Verhalten gegen die Kinder ist als Beispiel ihres Verhaltens gegeneinander ein wichtiges Erziehungsmittel“ (Grunwald 1923, S. 46 f).

Montessori-Material als Herzstück der Montessori-Pädagogik


Natürlich waren für Clara Grunwald die von Maria Montessori nach jahrelanger, wissenschaftlicher Beobachtung und wissenschaftlicher Versuche entwickelten Übungen und Materialien (bzw. Entfaltungsmittel), das „Herzstück der neuen Erziehung“,

„Eine naturgemäße Erziehung ist nur möglich in einer Umgebung, die der Natur des Kindes angepasst ist. Diese Umgebung muß die Mittel enthalten, deren das Kind bedarf, um durch seine eigene Tätigkeit zur Entwicklung seiner Sinne, seiner Muskeln, seines Intellekts,  seiner Gefühle zu gelangen“ (ebd., S. 37).

Den Kritikern, die bemängelten, dass die montessorianischen Übungen sowie die Materialien viel zu nüchtern wären und die Ausbildung der Phantasie sträflich vernachlässigten, hielt Clara Grunwald entgegen:

„Sollte die Umgebung des Kindes nicht auch das enthalten können, woraus die Phantasie, die lebendige und geheimnisvolle, aufbauende Vorstellungs- und Gestaltungskraft unsers Inneren, ihre Nahrung ziehen kann? Auch sie wächst, und auch sie wächst nach den ihr innewohnenden Wachstumsgesetzen. Sie nährt sich […] an der Wirklichkeit. Wir müssen dem Kinde Sachen geben, die wirklich vorhanden sind, an denen es sich betätigen und Erfahrungen sammeln kann, die nach natürlichen Gesetzen zu seiner Entwicklung führen können, aber dem Kinde überlassen, daraus zu wählen, was es braucht“ (Grunwald 1923, S. 71 f).

Wider die Märchen


Deutlich lehnte Clara Grunwald das Erzählen und Lesen von Märchen ab. Von dieser spezifischen Gattung der Kinderliteratur seien insbesondere Kleinkinder fern zuhalten. Sie sollten, so die Pädagogin, zuerst die wirklichen Dinge der Welt kennen lernen, denn die Wirklichkeit hält für das kleine Kind genügend Wunder bereit:

„Genügt uns Erwachsenen […] das frohe Erstaunen der Kinder über die keimenden Eicheln und Kastanien im Blumentopf oder über die ersten Ranken der Bohnen und Erbsen, die sie gepflanzt haben, ihr entzücken über das Hervorheben der Knospen an den Sträuchern, über die bunten Blumen, über die Eier und die Jungen im Vogelnest nicht? Sie staunen über das Buntwerden der Blätter, sie staunen über das Stück Holz und den Topf, die auf dem Wasser schwimmen, während ihr Groschen, der hinfiel, untergegangen ist. Sind das alles nicht Wunder genug für das kleine Kind? Bedarf es wirklich zur Bildung seiner Phantasie der Hexen und Zauberer, der Riesen und Zwerge, der gläsernen Berge und der mit Edelsteinen gefüllten Höhlen? […] Wird ein Mensch Maler oder Dichter, Bildhauer oder musikalischer Gestalter, weil seine Phantasie in der zartesten Kindheit durch Märchen angeregt wurde, oder weil die Natur die gestaltende Kraft in ihn gelegt hat?“ (ebd., S. 70).

Clara Grunwlad hielt den Fragen entgegen, dass die in jedem Menschen innewohnende lebendige Vorstellungs- und Gestaltungskraft nach Entfaltung strebt, genauso wie der Körper, der Geist, die Sinne und die Seele:

„Sie (die lebendige Vorstellungs- und Gestaltungskraft; M. B.) entzieht sich jedem Zugriff von außen; der Wille, sie von außen her zu fordern, kann nur zerstören. Wir können nichts anderes tun als sie beobachten, um – vielleicht – zu erfahren, welcher Nahrung sie bedarf. Wir müssen klar unterscheiden zwischen dem ziellosen Umherschweifen der Gedanken, das wir im gewohnten Leben als ‚phantastisch’ bezeichnen, und der aufbauenden Vorstellungs- und Gestaltungskraft, der wirklichen Phantasie“ (ebd., S. 70f).

 

Literatur

 

  • Berger, Manfred: Clara Grunwald. Eine Wegbereiterin der Erlebnispädagogik?, Lüneburg 1994

 

  • Ders.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch, Frankfurt/Main 1995, S. 64-69

     

  • Ders.:  Pioniere der Früh- und Hortpädagogik: Clara Grunwald (1877-1943). In: Irmgard M. Burtscher (Hrsg.): Handbuch für ErzieherInnen in Krippe, Kindergarten, Kita und Hort, Landsberg 2014, Ausgabe 78,  S.  1-20

     

  • Grunwald, C.: Über die Methode der wissenschaftlichen Pädagogik der Ärztin und Psychologin Dr. Maria Montessori. In: Die Neue Erziehung 1920, S. 421-426

 

  • Dies.: Erziehung und Unterricht im Dienste der natürlichen Entwicklung des Kindes. Die Montessori-Methode. In: Montessori, M.: Die Selbsterziehung des Kindes, Berlin 1923, S. 13-33

 

  • Dies.: Erziehung des Kleinkindes nach den Gedanken der Maria Montessori. In: Oestreich, P. (Hrsg.): Bausteine zur neuen Schule, München 1923, S. 37-47

 

  • Dies.: Montessori-Erziehung in Familie, Kinderhaus und Schule, Berlin o. J.

 

  • Holtz, A.: Grunwald, C., in: Steenberg, U. (Hrsg.): Handlexikon zur Montessori-Pädagogik, Ulm 1997, S. 104-108

 

  • Köpcke-Duttler: Clara Grunwald (1877-1943). In: Buchka, M./Grimm, R./Klein, F. (Hrsg.): Lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Heilpädagogen im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 82-96

 

  • Weidmann, K.: Clara Grunwald und ihr Engagement für die Montessori-Pädagogik in Deutschland, München 2015 (unveröffentl. Masterarbeit)

 

Bild-Quelle: Ida Seele-Archiv, Dillingen


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