Beiträge chronologisch

Erfahrungen und erste politische Fragen

Überlegungen zur Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildung eines politischen Denkens

Inhaltsverzeichnis

  1. Politisches Denken in Früher Kindheit - ein herausforderndes Thema
  2. Partizipation als gemeinsame Gestaltung einer demokratischen Lebensform
  3. Partizipation als geteilte Erfahrung von Lebenssituationen
  4. Lebenssituationen der Kindheit in der Erinnerung
  5. Ausblickende Schlussfolgerungen
  6. Literaturverzeichnis

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Partizipation als geteilte Erfahrung von Lebenssituationen

Das Politische des Situationsansatzes

Nun haben Demokratie und Partizipation auch eine inhaltliche Seite, die mit der Lebenssituation von Kindern über die Kita hinaus zu tun hat. Damit ist gemeint, dass es in Demokratie um etwas geht, wie z.B. Gewalt oder Gewaltlosigkeit, Unterdrückung oder Freiheit, soziale Ungleichheit oder Gleichheit, das Verhältnis von Menschen diverser Religionen, Kulturen, geschlechtlicher Orientierungen, um Ausgrenzung oder Diskriminierung, Exklusion oder Inklusion oder um Umweltzerstörung oder ein verantwortliches Verhältnis zur Natur. All das sind beispielhafte Themen und Konflikte, die das Leben von Kindern unmittelbar betreffen.

Ein exemplarisches Konzept bildet hier der in Kitas seit langem bekannte Situationsansatz. Als er nämlich Anfang der siebziger Jahre entstand, hatte dieser Ansatz einen politisch-aufklärerischen Anspruch. Denjenigen, die diesen Ansatz entwickelten, ging es darum, Kinder in ihrer Lebenssituation ernst zu nehmen und Kitas nicht als Schonräume zu verstehen. Gesehen wurde, wie viele gesellschaftliche und politische Konflikte unmittelbar in den Alltag von Kitas eingreifen.

Ein passendes Beispiel ist die Geschichte einer Gartenhütte, von der Hedi Colberg-Schrader und Marianne Krug erzählen (Colberg-Schrader et al. 1991, S. 26–44). In dem Beispiel erhält eine Kita eine Hütte für den Garten, wie das öfters in Städten und Gemeinden passiert. Die Sparkasse hat sie gespendet. Die Kinder spielen mit großer Lust in der Hütte, doch nach einigen Tagen werden immer mehr Kinder krank, sie klagen über Kopfschmerzen oder Mattigkeit. Eltern und Fachkräfte rätseln, bis der Verdacht auf die Hütte fällt. Wie werden solche unerwartet auftretenden Probleme in Kitas häufig gelöst? Oft, so lässt sich behaupten, wird der Schaden von den Erwachsenen für die Kinder geregelt, sprich zwischen Eltern, Kitaleitung, Spender und Kommune wird eine Lösung gesucht. Der Situationsansatz dagegen hat sich zu seiner Entstehungszeit das Ziel gesetzt, Kinder in ihrem jetzigen Leben „autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.er“ und handlungsfähiger zu machen (vgl. Zimmer 1973, 12; 28). Das heißt, dass Kinder die Chance haben sollen, zu verstehen was mit ihnen passiert. Sie sollen an der Lösung von Ereignissen, die sie unmittelbar betreffen, partizipativ beteiligt werden. Die Kinder in der Erzählung Colberg-Schraders und Krugs waren nämlich, das ist die Einsicht an dieser beispielhaften Geschichte, ohnehin längst mit dem Thema Hütte befasst. Sie machten phantasievolle Rollenspiele rund um das Thema „Gift“. Die Erziehenden entwickelten deshalb eine partizipative Pädagogik, sie klärten die Kinder offen, ganz im Sinne eins klassischen Verständnisses von Bildung als kritische Aufklärung, über die Situation auf. Sie überlegten mit den Kindern, was mit der Hütte passieren soll, stellten den Kindern Sach- und Bilderbücher zu Umwelt und Umweltverschmutzung zur Verfügung oder setzten mit ihnen einen Brief an den Bürgermeister auf, weil die Kinder die Hütte vermissten.

In einem so verstandenen Situationsansatz wird somit die geteilte Erfahrung einer Lebenssituation über die Kita hinaus bedeutsam, denn die Hütte stellt in Anknüpfung an den brasilianischen Pädagogen Paolo Freire eine Schlüsselsituation dar: Sie steht beispielhaft für die Lebenssituation von Kindern (vgl. Bambach und Gerstacker 1987, 154 ff.; 161). In diesem Fall zeigt die Schlüsselsituation, wie das aktuelle Leben von Kindern, wie auch ihre Zukunft, immer mehr von Umweltzerstörung betroffen sind. Der Situationsansatz hat also von seiner Entstehung her einen explizit politischen und inhaltlichen Anspruch. Es geht nicht um irgendwelche Situationen, sondern um das, was die Lebenssituation von Kindern „fremdbestimmt“, so schreibt Jürgen Zimmer Anfang der 1970er Jahre (vgl. 1973, S. 28). Bestimmt sind Kinder in ihrer alltäglichen Erfahrung demnach immer von gesellschaftlich, technisch, ökonomisch und politisch bestimmten Prozessen, wie z.B. von Umweltzerstörung, vom Herausdrängen von Kindern aus den öffentlichen Räumen, den Straßen in der Großstadt, oder, wie aktuell in Veröffentlichungen des Berliner Instituts für den Situationsansatz thematisiert, von Armut (vgl. ex. Koné 2019).

Fasst man zusammen, so benennen die exemplarischen frühpädagogischen Ansätze zwei Ansprüche:
  • Erstens bringen sie den Anspruch zum Ausdruck, dass in Kindertageseinrichtungen Demokratie als eine Lebensform mit Kindern praktiziert wird, einmal weil Kinder ein Recht auf Mitbestimmung und moralische Gleichstellung mit Erwachsenen zugesprochen wird, zum anderen weil diese Lebensform die Ausbildung eines zur Gewohnheit werdenden partizipativen Alltags und damit Demokratiebildung bedeutet.
  • Zweitens benennen sie den Anspruch, Kindern an der Beschreibung und Bewertung ihrer eigenen Lebenssituation zu beteiligen, um sie handlungsfähiger werden zu lassen. Kinder werden in ihrer Erfahrung gesellschaftlich und politisch bestimmter Entwicklungen ernst genommen, auch wenn sie diese in ihren Hintergründen zunächst nicht verstehen.

Geht man nun aber dem nach, was insbesondere der Situationsansatz thematisiert, so stellt sich nicht nur die Frage, was Kinder von ihrer Lebenssituation erfahren, sondern auch wie sie es erfahren.



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