Beiträge chronologisch

Erfahrungen und erste politische Fragen

Überlegungen zur Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildung eines politischen Denkens

Inhaltsverzeichnis

  1. Politisches Denken in Früher Kindheit - ein herausforderndes Thema
  2. Partizipation als gemeinsame Gestaltung einer demokratischen Lebensform
  3. Partizipation als geteilte Erfahrung von Lebenssituationen
  4. Lebenssituationen der Kindheit in der Erinnerung
  5. Ausblickende Schlussfolgerungen
  6. Literaturverzeichnis

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Partizipation als gemeinsame Gestaltung einer demokratischen Lebensform

Frühpädagogische Konzepte

Demokratie ist eine Grundlage des SGB VIII, in dem es heißt, dass das Ziel der Kinder- und Jugendhilfe die „Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ sei (SGB VIII, § 1,1, vgl. Richter et al. 2017, S. 18). Dieses „zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ klingt im ersten Moment wie etwas Zukünftiges. Mit diesem „zu“ könnte es um den erwachsenen und demokratiefähigen Bürger gehen, zu dem das Kind werden soll, nicht um die Partizipation des kleinen Kindes, das ja gesetzlich noch nicht mündig ist.

In der Pädagogik der frühen Kindheit ist Demokratie dagegen ein Thema, in dem es seit langem nicht nur um den späteren Erwachsenen, sondern um das Kind in seiner jetzigen Lebenssituation geht. Partizipation wird hier z.B. so verstanden, dass „Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, geteilt und gemeinsam Lösungen für Probleme (dieses Zusammenlebens) gesucht werden“ (Hansen et al. 2011, S. 19): U.a. zwei klassische Argumentationen waren für diesen Ansatz von besonderer Bedeutung.

Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak sagte schon 1918, dass Kinder „mit den Pflichten des Menschen von morgen“ belastet würden, ohne ihnen „die Rechte von heute zuzugestehen“ (vgl. Korczak 8.Aufl. 1987, S. 57). Korczak kritisierte, wie Erwachsene Kinder in ihrer Erfahrungswelt ständig an ihren Maßstäben messen und sich Kindern moralisch überlegen präsentieren, obwohl die „Erwachsenen die moralischen Ansprüche, die sie an die Kinder richten, in ihrem eigenen Leben nur unvollkommen oder gar nicht verwirklichen“ (Liebel und Markowska-Manista 2018, o.S.). Darum ist für ihn von zentraler Bedeutung, dass Kinder gleiche moralische Rechte auf Zuwendung, Achtung und Mitbestimmung in ihrem Lebensalltag gewinnen, wie Erwachsene.

Der französische Pädagoge Celestin Freinet sucht in den 1920er Jahren danach, „Kindern das Wort zu geben“. Dieser Satz lässt sich so lesen, dass die erwachsene Deutungsmacht gegenüber Kindern reduziert werden soll: „Deutungsmacht üben Erwachsene dann aus, wenn sie die eigenen Erklärungen, Bewertungen, Wertvorstellungen und Interpretationen über diejenigen der Kinder stellen, wenn sie selbstverständlich die eigene Sichtweise für die richtigere, bessere und wahre halten, wenn sie den Kindern ihre Sicht der Dinge aufdrücken“ (vgl. Henneberg et al. 2004, S. 31). Der freie Ausdruck dessen, was Kinder bewegt und empfinden, was sie lachen und weinen lässt und was sie in Worte und andere Ausdrucksformen zu fassen versuchen, bildet den zentralen Gedanken in Freinets Partizipationsansatz (vgl. Freinet, Elise und Hans Jörg 1991, S. 27; Henneberg et al. 2008, S. 102; vgl. Vogt 2018, o.S.). Wie können Kinder zu ihrer Sprache kommen?

Die Einführung in Demokratiebildung und Partizipation von Rüdiger Hansen, Raingard Knauer und Benedikt Sturzenhecker (2011), die sich mit mehreren empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.en Forschungen verknüpft (Sturzenhecker et al. 2010; Bartosch und Knauer 2014; Richter et al. 2017), baut auf diesen Grundgedanken auf (vgl. u.a. Richter et al. 2017, S. 15). Anknüpfend an Dewey wird Demokratie hier als Erfahrung gemeinsamen Lebens, sprich als eine zum Alltag werdende Lebensform verstanden. Demokratie soll demnach nicht nur vermittelt, sondern mit Kindern gelebt werden (Richter et al. 2017, S. 16). Das bedeutet zunächst, dass Kindern die Fähigkeit zur Partizipation zugesprochen (Richter et al. 2017, S. 124–152) und konkrete demokratische Strukturen in Kindertageseinrichtungen etabliert werden.

Unterschieden werden in dem auch als „Kinderstube der Demokratie“ bezeichneten Ansatz repräsentative, offene und projektorientierte Formen der Beteiligung. In repräsentativen Formen, wie einem Kinderparlament, entscheiden Delegierte stellvertretend für alle Kinder. Offene Formen sind z.B. Kinderkonferenzen, in denen sich alle Kinder einer Gruppe treffen oder Kinderversammlungen einer ganzen Einrichtung. Projektorientierte Formen beziehen sich auf eine Gruppe, die sich einem bestimmten Projekt besonders widmet, z.B. der Gestaltung des Außengeländes (vgl. Hansen et al. 2011, S. 60–68). Zu den jeweiligen Gremien gehören Rechte, so Mitbestimmungsrechte oder Rechte zur Entwicklung von Regeln und zum Umgang mit ihnen. Die Gremien haben Verfahren, z.B. wie bei Dissens zu verfahren ist oder wie Beiträge von Kindern oder Äußerungen eigener Betroffenheit anerkannt werden (Richter et al. 2017, 98 ff.). Eine Grundlage für diese Demokratiebildung sucht der Ansatz in der Ausarbeitung einer Kita-Verfassung, mit der den Kindern die damit verbundenen Rechte verbindlich zugesprochen werden sollen, sodass die Umsetzung nicht der willkürlichen Entscheidungsmacht der Erwachsenen unterstellt ist (Hansen et al. 2011, 150 ff.).

Klingt all dies doch sehr formell, so gehen die beteiligten Wissenschaftler*innen und Pädagog*innen in besonderer Weise der Frage nach, wie Demokratie und Partizipation nicht allein durch solche Gremien stattfindet, sondern eine grundlegende partizipative „dialogische Grundhaltung“ (Hansen et al. 2011, S. 247; vgl. Richter et al. 2017, S. 171–174) und Interaktionsform mit Kindern darstellt. So arbeiten sie Formen heraus, wie ein bewusstes Zuhören, eine sensible Moderation, das Absehen von typischen Suggestivfragen und stattdessen eine öffnende „Kunst des Fragens“ sowie die Offenheit für auch im ersten Moment abstrus erscheinende Antworten von Kindern (Hansen et al. 2011, S. 249–262). Die partizipative Interaktion beginne nicht erst in der Kinderkonferenz, sondern z.B. schon im Moment des Wickelns eines Babys auf dem Wickeltisch: Der Erwachsene reagiert auf die Signale des Säuglings, leitet jeden seiner Handlungsschritte ein und wartet die Reaktion des Säuglings ab. Er entwickelt für diesen Ansatz bereits hier eine partizipative Beziehung, in der das Kind aktiv sein und mitgestalten kann. Ähnlich ist es bei einer anderen Alltagssituation: Eine Erzieherin hat den Eindruck, dass ein einjähriges Kind aus dem Sandkasten möchte. Aber es nimmt das Mädchen nicht einfach heraus, sondern wartet seine Signale ab, fragt, was es tun möchte und sucht einen ruhigen, nonverbalen Dialog mit ihm (Hansen et al. 2011, 74 f.).

Der Fokus einer Demokratieerziehung wie in diesem Ansatz liegt in der gemeinsamen Gestaltung des konkreten, alltäglichen Lebens der Kinder. Anhand einer Vielzahl von Beispielen wird nachgezeichnet, wie Regeln, Räume, Alltagssituationen (z.B. Essen, Körperpflege, Rausgehen, Aufräume, Konflikte im Alltag) als geteilte Lebensform gemeinsam betrachtet und „demokratisch“ entschieden werden. Diese Partizipation kann auch über die Kita hinausgehen, dann nämlich, wenn eine Zusammenarbeit mit Kindern bei Planungen der Kommune entsteht, indem Kinder mit den Fachkräften zusammen in der Kommune sichtbar werden (z.B. wenn es um die Planung von „Spielräumen“ auf der Straße oder auf Spielplätzen geht, vgl. Hansen et al. 2011, S. 231–245).
Ich nenne diesen Ansatz zunächst einen strukturellen Ansatz. Im Mittelpunkt stehen die Gestaltung und Erfahrung einer demokratischen und partizipativen Lebensform. Das heißt es geht darum, wie Demokratie zu einer Gewohnheit und zu einer ganz selbstverständlichen Struktur der Erfahrung werden kann, das eigene Leben demokratisch und partizipativ zu gestalten.  



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