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Kulturelle Unterschiede in der Erziehung - Vertiefung

Inhaltsverzeichnis

  1. Was verstehen wir unter Kultur?
  2. Soziodemographische Kontexte und kulturelle Modelle
  3. Konsequenzen für die Erziehung
  4. Gefahren des normativen Blicks
  5. Wohin geht die Reise?
  6. Weiterführende Literaturhinweise

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3. Konsequenzen für die Erziehung

3.1. Seien Sie ein Partner in einem Team fürs Leben! Achten Sie die Individualität und Eigenständigkeit Ihres Kindes!

Die westliche Mittelschichtfamilie verkörpert den Prototypen der psychologischen Autonomie. Die distale Sozialisationsstrategie, die für diesen Kontext typisch ist, stellt das Baby ins Zentrum. Beschäftigt sich die Mutter oder eine andere zentrale Bezugsperson mit dem Kind, versucht sie, ihre volle Aufmerksamkeit auf das Kind zu konzentrieren. Das sieht typischerweise so aus, dass die beiden alleine sind, wechselseitiger Blickkontakt hergestellt wird, während das Kind auf dem Rücken liegt. Dabei werden häufig Spielzeuge in die Unterhaltung mit einbezogen. In der Interaktion greift die Mutter jede „Äußerung“ des Kindes auf, imitiert Gesichtsausdruck und stimmliche Laute. Das Baby wird als quasi-gleicher Partner behandelt und die Mutter gibt ihm Raum für eigene Äußerungen. Die Sprache spielt schon hier eine wichtige Rolle. Während dieser frühen Proto-Konversationen wird dem Baby gespiegelt, dass es einzigartig ist, es wird viel gelobt und in seinen Verhaltensäußerungen bestärkt. Die Bezugspersonen führen mentalistische Diskurse mit dem Baby, indem sie auf innere Zustände („Bist Du müde?“), auf Wünsche („Willst Du mit mir spielen?“), auf Präferenzen („Willst Du lieber die rote oder die gelbe Mütze?“) der Babys eingehen. Bezogen auf Erziehungsvorstellungen und optimales Elternverhalten handelt es sich also um einen kindzentrierten Ansatz, mit dem insgesamt das Ziel verfolgt wird, Individualität und deren Ausdruck zu vermitteln und zu unterstützen (vgl. dazu Keller, 2008).

 

3.2. Sie sind der Experte: Vermitteln Sie Ihrem Kind was richtig ist und wie es sich zu verhalten hat!

Die ländliche Bäuerin verkörpert dem Prototypen der relationalen Anpassung. Sozialisation zum relationalen Selbst informiert das Kind primär über seine soziale Identität und seine Rolle in der Gemeinschaft. Eltern trainieren und kontrollieren ihre Kinder, damit sie Gehorsam und Respekt vor Älteren als oberste Verhaltensmaxime verinnerlichen.

Die proximale Sozialisationsstrategie, die für diesen Kontext typisch ist, ist erwachsenenzentriert (Keller, 2007). Meistens ist die Mutter mit mehreren Sachen gleichzeitig beschäftigt, daher sind von Geburt an geteilte Aufmerksamkeitsmuster und viele Interaktionspartner die Norm. Das Kind hat viele enge Bezugspersonen, oft ältere Geschwister, Tanten und Nachbarn. In der Interaktion mit dem Kind dominieren Körperkontakt und Körperstimulation. Häufig synchronisieren die Mutter diese oft rhythmischen Interaktionsmuster mit ihren sprachlichen Äußerungen. Diese Synchronisierung motorischer und vokaler Stimulation unterstützt die Entwicklung der Wahrnehmung von sich selbst als Teil eines sozialen Systems. Während in der distalen Strategie die Eigenständigkeit der individuellen Persönlichkeit im Vordergrund steht, ist hier die Anpassung und Eingliederung in das soziale System zentral.

Die gute Mutter weiß, was das Beste für ihr Baby ist und tut es. Wir haben diese Konzeption elterlichen Verhaltens als responsive Kontrolle bezeichnet (Yovsi, Kärtner, Keller & Lohaus, 2009). Diese Konzeption basiert in der Hierarchie zwischen Mutter und Kind, die als Expertin-Novize-Beziehung beschreibbar ist. Eine gute Mutter muss nicht die Signale des Babys explorieren, um herauszufinden, was angemessenes elterliches Verhalten ist, sondern sie weiß, was getan werden muss, um das Wachstum und die Entwicklung des Kindes zu fördern.

An dieser Stelle ist es wichtig, festzuhalten, dass beide Systeme gleichwertig sind, da sie Anpassungsstrategien an sehr verschiedene Umwelten darstellen. Es ist unmöglich, universelle Kriterien für das optimale Erziehungsverhalten und den optimalen Entwicklungsverlauf zu formulieren, sondern qualitative Unterschiede müssen innerhalb jeder Strategie definiert werden.

 

3.3. Die große Bandbreite autonom-relationaler kultureller Modelle

Wie schon eingangs beschrieben, stellen diese beiden Szenarien Prototypen dar, also sehr unterschiedliche Lebensformen, die extrem unterschiedlich sind und in vielen Punkten unvereinbar erscheinen. Schaut man sich jedoch die Bevölkerung in vielen Ländern an, entsprechen viele Familien keinem dieser Prototypen. Befragt man diese Eltern zu ihren Erziehungsvorstellungen oder beobachtet man ihr Elternverhalten, handelt es sich eher um ein Nebeneinander einzelner Facetten von Autonomie und Bezogenheit.

Familien, die sich von der typischen westlichen Mittelschichtfamiliezum Beispiel dadurch unterscheiden, dass die Eltern über einen geringen Grad an formaler Bildung verfügen, dass sie einen niedrigen sozioökonomischen Status haben oder dass sie in einem stark ländlich geprägten Umfeld leben, sollten relationale Aspekte stärker leben (z.B. Großfamilie) und betonen (z.B. Respekt) als die gebildete, urbane, westliche Mittelschichtsfamilie. Das Beispiel, das wir hier kurz aufgreifen wollen, sind gebildete Familien der Mittelschicht, die in Großstädten nicht-westlicher Länder wohnen. Auch hier ist der Fall, dass das kulturelle Modell dieser Familien dem autonom-relationalen Muster, also einem Nebeneinander von autonomen und relationalen Einflüssen, folgt. Die dominante Lebensform ist in der Regel immer noch die Großfamilie, so dass das Thema der Verbundenheit eine wichtige Rolle spielt. Aufgrund des hohen Bildungsgrades und der Struktur der Arbeitswelt, gewinnt das Thema der Autonomie auch für die Kindererziehung an Bedeutung. Wir wollen das hier beispielhaft an den dominanten Sozialisationszielen in diesen verschieden soziokulturellen Kontexten veranschaulichen.

In einer unserer Studien haben wir insgesamt 270 Mütter 1½-jähriger Kinder aus vier sehr unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten gebeten, verschiedene Sozialisationsziele nach ihrer Wichtigkeit in eine Rangreihe zu bringen (Kärtner, under review). Den Osnabrücker Müttern, die dem Prototypen der psychologischen Autonomie entsprachen, war es am wichtigsten, dass ihre Kinder ihre Talente und Interesse entwickeln und lernen, ihre Vorstellungen klar auszudrücken (Abbildung 2). Am wenigsten wichtig war es diesen Müttern, dass ihre Kinder das tun, was die Eltern sagen und dass sie ältere Menschen respektieren. Daneben haben wir Mütter befragt, deren Familien dem Prototypen der relationalen Adaptivität entsprachen: subsistenzwirtschaftlich organisierte Großfamilien mit einem sehr geringen Grad formaler Schulbildung im ländlichen Indien (Umland von Delhi) und im Nordwesten Kameruns (ethnische Gruppe der Nso). Schaut man sich nun die Befunde an, sieht man, dass das Muster kippt: relationale Sozialisationsziele werden klar bevorzugt, allen voran Respekt und Gehorsam, wohingegen autonome Sozialisationsziele eher abgelehnt werden. Interessant ist das Ergebnis für die Gruppe autonom-relationaler Familien: Familien der gebildeten Mittelschicht aus Delhi. Sie bewegen sich durchgehend zwischen den anderen Gruppen und nehmen eine klare Mittelstellung ein.

Abbildung 2: Die Wichtigkeit autonomer (links) und relationaler (rechts) Sozialisationsziele in verschieden soziokulturellen Kontexten

 

Interessant ist an diesen Befunden auch, dass sich die ländlichen indischen Mütter viel stärker von den Müttern aus Delhi als von den ländlichen Nso unterscheiden, obwohl sie mit den Müttern aus Delhi Religion und Nationalität gemein haben. Insofern liefern auch diese Befunde einen klaren Beleg dafür, dass es eher soziodemographische Faktoren (Bildungsgrad, SÖS, Familienform und Kinderzahl) und nicht Nation oder Religion sind, die das kulturelle Modell der Familien beeinflussen.



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