Beiträge chronologisch

Kulturelle Unterschiede in der Erziehung - Vertiefung

Inhaltsverzeichnis

  1. Was verstehen wir unter Kultur?
  2. Soziodemographische Kontexte und kulturelle Modelle
  3. Konsequenzen für die Erziehung
  4. Gefahren des normativen Blicks
  5. Wohin geht die Reise?
  6. Weiterführende Literaturhinweise

Gesamten Beitrag zeigen

2. Soziodemographische Kontexte und kulturelle Modelle

Der Terminus der westlichen Mittelschichtfamilie, der bisher verwendet wurde, steht also für einen ganz spezifischen, prototypischen soziokulturellen Kontext: Vater und Mutter sind relativ hoch gebildet und das Leben spielt sich in einem ökonomisch gesicherten Rahmen ab. Die Mutter bekommt ihr erstes Kind nach der Berufsausbildung oder dem Studium und zumeist nach einigen Jahren der Berufstätigkeit. Später bekommt die Kleinfamilie möglicherweise noch ein zweites Kind, selten mehr. Die Erziehung der Kinder ist die Privatangelegenheit der Eltern. Niemand hat das Recht sich einzumischen, auch nicht die eigenen Eltern. Das Elternverhalten wird ernsthaft reflektiert und erfolgt unter quasi-wissenschaftlicher Begleitung in Form von Ratgebern.

Ein völlig entgegengesetzter, prototypisch relationaler soziokultureller Kontext sieht zum Beispiel so aus: Eine Bäuerin in einer entlegenen, ländlichen Region heiratet mit 17 oder 18 Jahren und lebt dann in der Großfamilie ihres Mannes. Sie hat die auf den Dörfern obligatorische Schulzeit von 7 Jahren absolviert. Es ist ihre Pflicht, möglichst schnell Kinder zu bekommen, die als helfende Hände in der Familie gebraucht werden. Mit jedem Kind, besonders auch mit Söhnen, gewinnt sie an Ansehen und Status. Alle Generationen sind an den alltäglichen Abläufen beteiligt und führen diese zusammen aus. Kinder aller Altersgruppen sind selbstverständlicher Teil dieses Alltaghandelns und immer mit dabei. Die Erziehung der Kinder ist öffentlich, d. h. nicht nur die Familie betreut ihre Kinder, sondern das ganze Dorf wacht über die physische Gesundheit und die moralischen Werte, die die kulturelle Identität ausmachen.

Die Mütter in diesen beiden Szenarien verfolgen sehr unterschiedliche Erziehungsziele und auch ihr Elternverhalten unterscheidet sich grundlegend. In unserem ökokulturellen Entwicklungsmodell systematisieren wir diese Unterschiede und differenzieren dabei verschiedene Ebenen, die zunehmend weniger abstrakt und verhaltensnah werden (Abbildung 1). Die abstrakteste Ebene bilden Sozialisationsziele, also Vorstellungen davon, in welche Richtung sich das eigene Kind entwickeln sollte. Wie wichtig sind Respekt und Gehorsam? Wie wichtig ist die Selbstverwirklichung des Kindes? Diese Sozialisationsziele sind zentral für die parentalen Ethnotheorien, also elterlichen Vorstellungen darüber, wie man mit einem Kind umgehen sollte bzw. was eine gute Mutter ausmacht usw. Soll man auf jedes Schreien reagieren? Sollte man bzw. wann sollte man ein Baby früh daran gewöhnen, alleine zu schlafen? Welche Verhaltensweisen soll man aktiv fördern oder unterbinden? Diese Ethnotheorien können als motivationale Grundlage des Verhaltens im Umgang mit dem Kind verstanden werden. Sie sind zum Teil bewusst abrufbare Skripts. Sie haben aber auch, wie das gesamte Paket der Sozialisationsstrategien, viele nicht-bewusste, intuitive Anteile.

Abbildung 1: ökokulturelles Entwicklungsmodell



Verwandte Themen und Schlagworte