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Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur

Inhaltsverzeichnis

  1. Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang
  2. Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie
  3. Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland
  4. Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland
  5. Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung
  6. Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen
  7. Anpassung an den Mainstream?
  8. Wegweisende Impulse gesetzt
  9. Neueste wissenschaftliche Studien
  10. Anmerkungen
  11. Literatur

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Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland

Die aktuellen Publikationen zur Historiographie des Kindergartens haben bisher so gut wie nicht registriert, dass auch in der damaligen DDR Versuche unternommen wurden, vom Staat unabhängige frühkindliche Einrichtungen ins Leben zu rufen. Anfang der 1970er Jahre initiierten mehrere junge Leute in Halle verschiedene politisch motivierte Projekte (vgl. Grashoff 2011, S. 115 ff.). Dazu gehörte auch die im Jahre 1973 erfolgte Gründung „eines Kinderladens, um ‚die Kinder vor der staatlich verordneten Behandlung in Krippen zu schützen‘... Die gemeinsam organisierte Betreuung der Kinder fand in einer leer stehenden Erdgeschosswohnung in der Fleischerstraße 13 statt, währte jedoch nur einige Monate“ (ebd., S. 119).

1980 hatte die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe (16), über die und ihren Mann das „Ministerium für Staatssicherheit“ (MfS) spätesten ab 1976 „einen umfangreichen Operativen Vorgang (‚Zirkel‘)... anlegte (Wentker 2012, S. 348), im Ost-Berliner Kiez Prenzlauer Berg, Husemannstraße 14, einen Kinderladen ins Leben gerufen. Die Kinderladenaktivistin berichtet über ihre Motivation einen Kinderladen – „nach westlichem Vorbild!“ - (ebd., S. 346) zu gründen, dass sie ihr erstes Kind nicht in eine staatliche Einrichtung geben wollte, da die „Betreuung dort einer Fließbandarbeit geglichen... habe, die Kinder seien kaum beschäftigt, sondern eher abgefertigt worden“ (zit. n. http://www.berliner-zeitung.de/der-einzige-kinderladen-in-der-ddr-16030154). Ab Oktober 1980 nahm der Kinderladen, der in Eigenarbeit renoviert und eingerichtet wurde, seine Arbeit auf; „anfangs waren dort sechs, später acht Kinder untergebracht , darunter auch Jonas und Johanna Poppe (geboren 1980 und 1981)“ (Wentker 2012, S. 347).Für die Betreuung der Kleinen wurde eine Kinderkrankenschwester angestellt. Außerdem war immer ein Elternteil in der Einrichtung anwesend. Eine ehemalige Kinderladenerzieherin erinnerte sich:

"Wir wehrten uns gegen die vom Ministerium für Volksbildung, geleitet von Margot Honecker, diktatorisch und zentralistisch verordneten Bildungs- und Erziehungsziele. Wir definierten uns als eine freie und unabhängige Einrichtung, jenseits aller sonst üblichen sozialistischen Bevormundung und totalitärer Erziehung. So sollten unsere Kinder ihre Individualität und ihr Selbstbewusstsein sowie ihre Kreativität und Gemeinschaftsfähigkeit frei entfalten können... Wir wollten die Kinder auch nicht ‚antiautoritär‘ sondern demokratisch erziehen, auf keinen Fall wollten wir einen Beitrag zur Erziehung einer 'ganzheitlich gefestigten sozialistischen Persönlichkeit' leisten... Mit Interesse verfolgten wir die 'anti-autoritäre Bewegung' in Westdeutschland... Dabei interessierten uns vor allem die in unserer unmittelbaren, aber doch so weit entfernten Nachbarschaft existierenden KinderlädenKinderläden||||| Die Kinderladenbewegung entstand in den 1986 in Frankfurt mit ersten selbstverwalteten Kindergärten, oftmals Elterninitiativen, in denen Kinder verschiedenster Alter  betreuut wurden. Es wurde die Maxime eines antiautoritären Erziehungsstil vertreten, um neue Erfahrungen für Kinder zu ermöglichen, sowie die Ansicht, dass Regeln von "Autoritäten" nicht blind verinnerlicht werden dürften. Dies führte und führt noch heute zu Diskussionen und fälschlichen Verwechslungen mit dem Laissez-Faire Erziehungsstil.   , nämlich die in West-Berlin. Über Besucher und Verwandte hörten wir davon... Aber es war uns strengstens untersagt über den ‚Tellerrand‘ hinaus zu blicken. So waren wir letztlich allein auf uns gestellt, immer mit der Befürchtung im Hintergrund, die Stasi steht schon in den Startlöchern um uns ‚auszumerzen‘, zumal unsere Einrichtung von den ‚Realsozialisten‘ als pure Provokation gesehen wurde“ (zit. n. Visconti 2012, S. 35).

Die "revolutionäre" Einrichtung, in welcher „individuelle Förderung“, „Kritikfähigkeit“ und „Kreativität“ die pädagogischen Leitbilder waren (vgl. hier), erregte sehr schnell das Interesse der "lieben Nachbarn". Diese gaben öfter Meldungen an die Stasi über die Erziehungs- und Betreuungseinrichtung, die „als Treffpunkt 'alternativ' denkender junger Leute und als 'Hort' einer sich gegen den Staat richtenden Erziehung verdächtigt" (Friedrich 2008, S. 83) wurde. Eines Tages kamen zwei Beamte, „die den Kinderladen durchsuchen wollten, weil ihnen zu Ohren gekommen war, dass sich dort Rauschgift befände“ (vgl. hier). Die Ermittler fanden nichts, was dafür gesprochen hätte, den Kinderladen zu schließen. Letztendlich forderten die politisch Verantwortlichen im Oktober 1982 die KinderladenbetreiberInnen auf, ihre aberrante Einrichtung zu schließen, da man die Ladenräume für eine kinderreiche Familie benötige. Poppe verfasste ein Gesuch an die zuständige Administration. Daraufhin wurde sie und weitere Kinderladeneltern vor den Bezirksbürgermeister geladen. Dort war auch der Volksbildungschef anwesend. Dieser meinte, wie Poppe sich erinnert, dass seit „Makarenko die Zeit der Experimente vorbei [wäre M. B.]. Die Argumentation des Stadtrats war die, dass die DDR weltbekannt für ihre hervorragende Kinderbetreuung sei und wir ein Gegenmodell schafften, das das widerlegen wolle“ (zit. n. http://www.deutschlandradio.de/archiv/dlr/sendungen/merkmal/246462/index.html). Die Feststellung des Volksbildungschefs verwundert nicht, galt doch die „kleinbürgerlich-revolutionaristische ‚ antiautoritäre‘ Erziehungsauffassung“ (Sielski 1977, S. 155) als eine „theoretisch-ideologische Reflexion einer kleinen ‚Elite‘, die meint, daß ihre Ideen für ‚alle Menschen‘ Geltung hätten, der Emanzipation ‚aller‘ dienen würden“ (ebd., S. 159). Außerdem gehört zum politischen Wesen antiautoritärer Erziehungsauffassungen, dass durch sie ihre AnhängerInnen „vom organisierten Kampf der Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei ferngehalten werden und sie objektiv zur Spaltung der antiimperialistischen Bewegung beitragen und objektiv Bundesgenossen des Imperialismus sind“ (ebd.).

Poppe und ihre MitstreiterInnen versuchten sich die Solidarität der Nachbarschaft zu sichern. Die "staatsfeindliche Einrichtung" lud zu einem „Tag der offenen Tür“ ein. Dessen ungeachtet fuhr am 16. Dezember 1983, vier Tage nach Frau Poppes Verhaftung, frühmorgens um sechs Uhr ein LKW vor und der Kinderladen wurde auf Befehl des MfS in Windeseile geräumt und zugemauert (vgl. hier). Damit war der erneute Versuch nach Halle eine alternative, staatsunabhängige Vorschulerziehung in der DDR zu etablieren ein für alle Mal gescheitert. Die freigewordenen Räume wurden nicht, wie behördlicherseits angekündigt, von einer kinderreichen Familie bezogen, sie standen bis zur Wende leer (vgl. Hein/Kittel/Möller 2012, S. 343 ff.).

Im gleichen Jahr der gewaltsamen Auflösung von Ulrike Poppes Kinderladen, gründete der kirchliche Jugendsozialarbeiter und aktiv in der kirchennahen DDR-Untergrundszene tätige Uwe Kulisch (17) in einem Hinterhaus im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichhain, Mühsamstraße 63, eine „Kinderkommune“. Diese diente vorrangig dem Ziel, „die autoritären Hierarchien der Elterngenerationen nicht fortzusetzen“ (Grashoff 2011, S. 114). Die Wohngemeinschaft beherbergte fünf Erwachsene und vier Kinder. Während die Väter und Mütter ihre eigenen Zimmer hatten, schliefen die Kinder zusammen in einen Raum, „nahmen die Mahlzeiten gemeinsam ein, mit der Betreuung wechselten sich die Eltern ab. Zwei weitere Kinder von Freunden gesellten sich tagsüber hinzu. Freude und Spaß für Kinder standen im Mittelpunkt, der Tagesablauf richtete sich nach den Kindern, deren Individualität gefördert werden sollte. Die Idee, die hinter diesem Modell stand, bezog sich auf ein 1970 veröffentlichtes Buch des US-amerikanischen Psychologen Thomas Gordon. Durch sogenannte ‚Familienkonferenzen‘ sollten Eltern einen gewaltfreien Umgang mit Kindern erreichen und ihre Kinder erziehen, ohne zu strafen“ (ebd., S. 113). Aus diesem Grund wurden die Kinder auch nicht in staatliche Krippen oder Kindergärten gegeben, da dort als Erziehungsziel nicht der frei und selbständig denkende Mensch, sondern die „sozialistische Persönlichkeit“ vorgegeben war.


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