Beiträge chronologisch

Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur

Inhaltsverzeichnis

  1. Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang
  2. Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie
  3. Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland
  4. Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland
  5. Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung
  6. Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen
  7. Anpassung an den Mainstream?
  8. Wegweisende Impulse gesetzt
  9. Neueste wissenschaftliche Studien
  10. Anmerkungen
  11. Literatur

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Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie

Auf der Suche nach einem alternativen Erziehungskonzept setzten die AktivistInnen der antiautoritären Erziehung nicht auf eine eigenständige Theorie. Sie orientierten sich an (älteren) psychoanalytischen und sozialistischen Schriften der 1920er Jahre (vgl. Göddertz 2016, S. 24 ff.), die meist als schlechtgeheftete Raubdrucke (z. B. „spartakus“) erschienen, die aber durchaus einen erheblichen (Nutz-)Effekt hatten:

„Erstens sind sie wesentlich billiger als die im Buchhandel ‚offiziell‘ verkauften Bände und zweitens machen sie häufig genug Texte der Öffentlichkeit zugänglich bzw. wieder zugänglich, die vorher mehr oder weniger verschollen waren. Jedenfalls hängt diesen Bänden von Anfang an der Hauch des Verbotenen und Verlorenen an, erscheinen sie eng mit der Ikonik des Untergrunds verbunden: Illegal sind sie, und sie transportieren Unerwünschtes“ (Bilstein 2008, S. 214).

Die 1968er-Bewegung war geprägt von dem Bestreben der kulturellen Überwindung einer übermächtig autoritätsfixierten Zeit, die nach Ansicht der Philosophen und Soziologen der sog. „Frankfurter Schule“ (Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Jürgen Habermas, Max Horkheimer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse) den antisemitischen Wahn, der in Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Majdanek, Mauthausen, Sobibor, Treblinka und weiteren Orten wütete, zu verantworten hatte, weil die Autoritätsverhältnisse in der bürgerlichen Familie autoritäre Charaktere erzogen und damit eine wesentliche Voraussetzung für den nationalsozialistischen Unstaat geschaffen hatten. Damit solch eine politische und gesellschaftliche Entgleisung nie wieder passiert, ist eine Erziehung der heranwachsenden Generation zu Freiheit, Selbstbestimmung und Stärkung seines ICHS erforderlich, um Widersprüche der Gesellschaft zu erkennen und um sich „nicht in blinder Anpassung ihren Anforderungen zu unterwerfen“ (Aden-Grossmann 2014, S. 75). Besonders faszinierte die AktivistInnen der antiautoritären Erziehung / Kinderladenbewegung der 1924 erschienene Aufsatz über die „repressionsfreie Erziehung“ in einem Moskauer „Kinderheim-Laboratorium“ (5), verfasst von der in der Ukraine geborenen Psychoanalytikerin V(W)era Fjodorowna Schmidt. Die linke Kinderladenbewegung verstand diese Veröffentlichung „als ersten Schritt zu einem vorläufigen praktischen Ziel: der Wiederholung und Weiterführung ähnlicher Versuche in Westberlin und in der Bundesrepublik“ (o. V. 1970, S. 50). In dem Moskauer Kinderheim wurde nach den neuesten psychoanalytischen Erkenntnissen erzogen, die Verknüpfung von Sexualität, Klassenkampf und Erziehung in der Praxis umgesetzt. Die unikale Erziehungsstätte ist herausragendes Beispiel für die kurzfristige Illusion einer vom Glück begünstigten Liaison zwischen Freudianismus und Bolschewismus. Die Vorschläge zur frühkindlichen Erziehung, abgeleitet von der psychoanalytischen Sexualtheorie, „wurden der Einfluss des Unbewussten, die Herrschaft des Lustprinzips und das polymorph-perverse Sexualleben von Kindern zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr betont. In der Sexualentwicklung, die vom Autoerotismus zur Objektwahl verlaufe, sei es die Aufgabe der antiautoritären Erziehung, durch eine Sublimierung des infantilen Lustprinzips das Realitätsprinzip der Kinder zu fördern. Aus Liebe zur Bezugsperson und ohne jedwede Strafe sollte das Kind seine Triebe selbst beschränken“ (Reichardt 2014, S. 727).


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Vera Schmidts Broschüre und Prospekt über Raubdrucke, archiviert im Ida-Seele-Archiv
Die Aufgabe der Pädagogik bestand für Schmidt darin, den Kindern den notwendigen Weg vom Lust-zum Realitätsprinzip unprätentiös zu ermöglichen. Die Kinder durften ihre sexuelle Neugierde befriedigen, an heißen Tagen liefen sie nackt herum, sie durften ihre Körper gegenseitig untersuchen und betrachten, Bestrafung und Verbote waren verpönt. „Stürmische Liebesäußerungen“ sowie „heiße Küsse, innige Umarmungen“ seitens der Bezugspersonen waren strengstens untersagt, da solche Äußerungen „das Kind erregen und seine Selbstwertgefühl erniedrigen“ (Schmidt 1924, S. 22). Die kindliche Lust sollte nicht einfach unterdrückt, sondern auf ein höheres, realitätsgerechteres Niveau gehoben, in der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt, sublimiert werden. Was damit gemeint ist, erläuterte die Laboratorium-Leiterin an folgendem Beispiel:

„In Beziehung zur Hauterotik steht das Bestreben eines unserer Mädchen, sich am ganzen Körper mit dem eigenen Kot zu beschmieren. Sie pflegte das frühmorgens zu machen, wenn alle noch schliefen. Tagsüber behielt sie dann eine deutlich gehobene Stimmung und einen freudigen Glanz in den Augen. Wir tadelten sie nicht dafür, wuschen sie einfach und wechselten ihre Wäsche; nur bemühten wir uns, sie im richtigen Augenblick auf den Topf zu setzen, um ihr Tun sozusagen auf natürlichem Wege zu verhindern. Im Alter von zweieinhalb Jahren bekam sie Farben zur Verfügung. Anfangs verschmierte sie sie einfach mit dem Finger über das Papier, später lernte sie, den Pinsel dazu zu gebrauchen. Es stellte sich heraus, daß sie ein feines Farbengefühl besaß und die Farben mit viel Vergnügen und Verständnis wählte und kombinierte. Ihre Malerei war immer gegenstandslos, bestand nur aus gut zusammengestellten Farbenflecken, die aber einen geradezu künstlerischen Eindruck machten. Diese Beschäftigung wurde mit der Zeit so anziehend für sie, daß sie ihr früheres Vergnügen ohne Schwierigkeiten aufgab; es war durch das neue, dem Wesen nach analoge, aber kulturell und sozial höherstehende ersetzt worden.“ (ebd., S. 24)

Auch die Schriften von Wilhelm Reich, der noch als Student 1920 in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen wurde, standen hoch im Kurs, wurden regelrecht „zu einem Vademekum“ (Reichardt 2014, S. 652) der antiautoritären Erziehungsbewegung. In seinem epochalen Werk „Die sexuelle Revolution“ konstatiert der österreichisch-US-amerikanische Sexualforscher und Psychoanalytiker, dass dem Kind in der Familie das Korrektiv einer Kindergemeinschaft fehlen würde, und darum sich seine sexuellen Triebe nicht auf Gleichaltrige richten können. Darum muss es seine Strebungen verdrängen. Somit verstärken sich beim Kind unbewusste Schuld- und Angstgefühle sowie „die Fixierung an die Eltern, die zur Anlehnungsbedürftigkeit, Führersehnsucht, Autoritätshörigkeit der erwachsenen Individuen, zur konservativen Struktur der Psyche führen“ (zit. n. Dermitzel 1971, S. 127). Die Kinderladenkinderkollektive wirken in diesem Zusammenhang neutralisierend, indem sie „dem Kind die Möglichkeit geben, aus der Verfilzung und Ausschließlichkeit der affektiven Beziehungen in der Familie auszubrechen und libidinöse Bindungen zu anderen Kindern im Kollektiv einzugehen“ (ebd.).

Ebenso ging eine überaus exorbitante Faszination von den Ideen des Reformpädagogen Alexander Sutherland Neill und der von ihm gegründeten und geleiteten Demokratischen Schule Summerhill aus. Sein Standardwerk „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung war „mit Abstand [das; M. B.] erfolgreichste Werk jener Zeit“ (Höffer-Mehlmer 2003, S. 238). Neill lehnte jeden erzieherischen Druck und Zwang ab, da diese Methoden die Schöpferkraft und Kreativität der Kinder zerstören. Der Pädagoge wollte nicht als Gallionsfigur der antiautoritären Erziehung gelten. Dazu äußerte er in einem Interview: „Laßt mich bloß in Ruhe mit den deutschen 68ern“ (Ehlers 2007, S. 65). Während die linksalternative Kinderladenbewegung die liberalen Elemente von Neills antiautoritärer Erziehung begrüßten, gab es auch Kritik, vor allem hinsichtlich des Klientels, demzufolge Summerhill nichts anderes sei als „eine elitäre Insel für Kinder des zahlungskräftigen Establishments“ (Weidele/Gieselbusch1971, S. 7). Die Kinderladengründerin Monika Seifert und der Kinderladengründer Georg Kiefer standen ebenfalls dem Neill‘schen Konzept skeptisch gegenüber. Obwohl für Erstgenannte, neben den Schriften von Wilhelm Reich, Paul und Jean Ritter u. a., die Veröffentlichung von Neill, den sie als den „Vorkämpfer für die Freiheit der Kinder“ bezeichnete, eine wichtige Diskussionsgrundlage darstellt, bemängelte sie, dass der Schulleiter „seine Praxis nicht als Teil einer politischen Bewegung verstanden [hat M. B.]. Zugleich ist er der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Problemen ausgewichen: er hat sich auf das Land zurückgezogen“ (Seifert 1970, S. 60). In der Publikation „Zucht oder antiautoritäre Erziehung“ befindet sich eine ausführliche Kritik der Neillschen Erziehungspraxis, die, wie Verfasser vorliegenden Aufsatzes annimmt, von Georg Kiefer verfasst wurde. Dort ist zu lesen:

„Die Neillsche Erziehung hat den positiven Ansatz, daß sie die Liebe als Grundprinzip des Lebens sieht, eine bewußte Selbstkontrolle des Individuums schafft und die Kinder Freiheit als Verantwortlichkeit erleben läßt. Die Verwirklichung dieses positiven Ansatzes wird jedoch durch das gesellschaftliche Desinteresse Neill’s wieder neutralisiert. Ich halte es deshalb nicht für sinnvoll, das Neillsche Erziehungskonzept unkritisch zu übernehmen. Wesentliche Änderungen sind notwendig, um der Idee der kindlichen Selbstentfaltung auf gesellschaftlicher Ebene zum Durchbruch zu verhelfen“ (o. V. 1970b, S. 91)

Allgemein waren sich die führenden VertreterInnen der antiautoritären Erziehung in Bezug auf Summerhill nicht einig:

„Auf der einen Seite herrschte Begeisterung über die Repressionsfreiheit, über Selbstverwaltung... Andererseits sahen einige schon die Gefahr eben jener verherrlichenden Neutralität - sozialistisches Bewußtsein verlangt Parteilichkeit - und der ‚heilen Welt‘, die auf der ‚Insel‘ Summerhill geschaffen und vorgegaukelt wird“ (Breiteneicher/Mauff/Triebe 1971, S. 43).

Ungeachtet aller Versuche und Rückgriffe auf verschiedene politische und psychoanalytische Schriften, existiert bis heute keine wissenschaftsmethodisch überzeugende antiautoritäre Theorie, kein einheitliches pädagogisches Konzept (vgl. Silvester 2000, S. 18 ff.). Es ergab sich keine durable Entwicklung, „eine Kontinuität die gerade beim Aufbau pädagogischer Altenativen wichtig ist“ (Hebenstreit 1980, S. 68). Letztlich handelt es sich um „ein Gemisch von politischer Argumentation, Erziehungstheorien und praktischer Erfahrung, was bekanntlich in der dialektischen Praxis nicht trennbar ist“ (Kiefer 1970, S. 15). Bereits 1977 formulierte der DDR-Wissenschaftler Gerhard Sielski treffend:

„Schon der Versuch der Ausarbeitung einer geschlossenen Konzeption wäre offensichtlich ein autoritäres Rudiment... Es gibt mehr oder weniger anerkannte Autoren, mehr oder weniger anerkannte Positionen dieser Autoren, die in einer Reihe gestellt zeigen, daß es Vertreter verschiedener philosophischer Richtungen, verschiedener Weltanschauungen und politischer Überzeugungen sowie theoretisch-pädagogischer und psychologischer Strömungen sind. So ist das ‚antiautoritäre‘ Erziehungsverständnis ein überaus komplizierter, eklektischer und widerspruchsvolle Komplex von Ideen und Prinzipien“ (Sielski 1977, S. 53 f).



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