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Kinderläden und antiautoritäre Erziehung

Modelle einer Gegengesellschaft und veränderten Erziehungskultur

Inhaltsverzeichnis

  1. Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang
  2. Keine eigene wissenschaftsmethodisch überzeugende Theorie
  3. Anfänge und Entwicklung in Westdeutschland
  4. Anfänge und Entwicklung in Ostdeutschland
  5. Antiautoritäre Sexualerziehung/-aufklärung
  6. Selbsterziehung der Erwachsenen - Vom Kinderladen zum Elternladen
  7. Anpassung an den Mainstream?
  8. Wegweisende Impulse gesetzt
  9. Neueste wissenschaftliche Studien
  10. Anmerkungen
  11. Literatur

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Vom Gleichschritt zum aufrechten Gang

Der Journalist und Autor von „Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen“ (2015), Christian Füller, tadelte noch im Jahre 2013 in, „der Freitag“, einer Wochenzeitung mit linker bis linksliberaler Ausrichtung, dass die KinderlädenKinderläden||||| Die Kinderladenbewegung entstand in den 1986 in Frankfurt mit ersten selbstverwalteten Kindergärten, oftmals Elterninitiativen, in denen Kinder verschiedenster Alter  betreuut wurden. Es wurde die Maxime eines antiautoritären Erziehungsstil vertreten, um neue Erfahrungen für Kinder zu ermöglichen, sowie die Ansicht, dass Regeln von "Autoritäten" nicht blind verinnerlicht werden dürften. Dies führte und führt noch heute zu Diskussionen und fälschlichen Verwechslungen mit dem Laissez-Faire Erziehungsstil.   , wenn auch eine Minderheit, „fundamentalistische ‚Jeder-darf-alles‘-Läden [waren]“, in denen die „Kinder nackt herumliefen, sich gegenseitig genital erforschten und die Wände wahlweise mit Exkrementen und/oder Spagetti beschmierten“ (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/grosser-kinderladen-brd). Diesem Ressentiment steht die Intention der Kinderladenbewegung bzw. antiautoritäre Erziehung gegenüber, die sich nicht nur auf „Jeder-darf-alles-Läden“, nackte und herumschmierende Kinder reduzieren lässt:

„Nicht mehr zum Gleichschritt soll erzogen werden, sondern zum ‚aufrechten Gang‘, wie der Philosoph Ernst Bloch es nannte. Nicht länger soll das Kind gekrümmt werden, damit ein Häkchen daraus wird. Den aufrechten Gang soll es schon lernen, wenn es die ersten Schritte tut“ (o. V. 1970a., S. 77).

Die Kinderladen-Bewegung war eine Reaktion auf:
1) den drastischen Mangel an Kindergartenplätzen, verbunden mit einer geringen ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.   der Fachkräfte,
2) die Vereinsamung in der bürgerlichen Kleinfamilie (zunehmend Einzelkinder), „in der das Kind durch seine materielle und emotionale Abhängigkeit zum Besitzobjekt seiner Eltern degradiert wird“ (Reißmann 1980, S. 34),
3) den in den herkömmlichen Vorschuleinrichtungen vorherrschenden affirmativen Erziehungsstil, der auf Gehorsam, Ordnungssinn, Reinlichkeit, Anpassung, Unterdrückung der kindlichen Sexualität u.dgl.m. abzielte,
4) die Auseinandersetzung mit tradierten Rollenzuschreibungen, der sich verändernden Rolle der Frauen, die nicht mehr nur für die Erziehung der Kinder verantwortlich sein wollten und schließlich
5) die Überzeugung, dass jede Erziehung politische Folgen hat, auch wenn sie sich noch so privat und persönlich versteht.

Am 1. Dezember 1969 wurde im ARD-Fernsehen ein Film mit dem provokativen Titel „Erziehung zum Ungehorsam“ ausgestrahlt, für den der liberale Autor und leitender Redakteur beim NDR-Fernsehen, Gerhard Bott, das Drehbuch verfasste. Die mediale Dokumentation kontrastierte die herkömmlichen Kindergärten mit den antiautoritären Kinderläden in Berlin, Frankfurt/Main, Hamburg und Stuttgart: Die traditionellen Vorschuleinrichtungen boten ein trauriges Bild: lustfeindliche, autoritäre Kindergärtnerinnen, kaum Freiräume für Kinder, „Gehorsam, Ruhe sind hier oberstes Gebot“ (Bott 1970, S. 85). Die Kinderläden, mit ihren ungestümen, enthemmten und freien Kindern, sorgten für einen wahren „Shitstorm“, die „deutsche Volksseele kochte“ (Reißmann 1980, S. 33). In den Tagen nach der Sendung sind 646 Zuschriften eigegangen und unmittelbar nach der Sendung und am Tage darauf 200 Anrufe, von denen fast die Hälfte (um die 45 %) ablehnend war (vgl. Bott 1970, S. 109). Die durch den Fernsehfilm ausgelösten und heftig (teilweise diffamierend) geführten Diskussionen über die Ziele und Methoden der antiautoritären Kinderladenbewegung kreisten um die üblichen Vorurteile, um nackte, ungehorsame, sexualisierte Kinder, die sich gegenseitig erigierte Penisse zeigen und diese anmalen, um kleine Revoluzzer, „die die Weltrevolution auf ihren Schultern tragen“ (Baader/Sager 2010, S. 265), um chaotische Anarchie in den Kindergruppen und verletzte moralische Vorstellungen: die Kinder widersprechen ihren Eltern und Erziehern, grüßen Erwachsene kaum noch, zumindest nicht mehr so wie früher, werfen ihr Besteck in den Suppentopf, machen sich schmutzig, toben, schreien, spucken sich an, beschmieren Wände mit Deckfarbe etc.(3) Die Kinderläden wurden pauschal „zu Kulturschändern stilisiert“ (Reichardt 2014, S. 756), in denen „Mao das Rotkäppchen“ (zit. n. Sager/Wille 2008, Sp. 671) verdrängt hatte. Nein, für solche anarchischen Einrichtungen war schlichtweg „kein Platz... im Lande Fröbels“ (o. V. 1970, S. 147), in dem bekanntlich Friedrich Fröbel 1840 in dem kleinen thüringischen Städtchen (seit 1911 Bad) Blankenburg den Kindergarten „stiftete“. Diesen weit verbreiteten pauschalen Desavouierungen hielt die Politikerin Hildegard Hamm-Brücher entgegen, dass nicht allein Kennzeichen der antiautoritären Erziehung sei, „seine Notdurft vor aller Augen und überall zu verrichten, seine Aggressionen an beliebigen toten oder lebendigen Gegenständen abzureagieren und herrschaftsfreies Zusammenleben durch Preisgabe aller Spielregeln zu demonstrieren“ (zit. n. o. V. 1970a, S. 66).

Die negative gesellschaftliche Einstellung den APO-Kinderläden bzw. der antiautoritären Erziehung gegenüber wurde von der Presse aufgegriffen und ausgeschlachtet (vgl. o. V. 1970, S. 145 ff. u. Friedrich 2008, S. 70 ff.). Das „stern magazin“ vom 2. März 1969 brachte es an den Tag: Heiko Gebhardt beschreibt in seinem Artikel „Kleine Linke mit großen Rechten“ die West-Berliner APO-Kinderläden als Stätten von Chaos und Libertinage, Schmutz und Anarchismus. In einer in einem schäbigen Mietshaus untergebrachten Einrichtung trägt die Kindergärtnerin „einen Vollbart, hat eine Pelzmütze auf dem Kopf und ist Mitglied der SEW, wie sich Westberlins SED neuerdings nennt“ (Gebhardt 1969, S. 42). Die männliche Vollbart-Kindergärtnerin weist auf die pädagogischen Fortschritte hin, die die üblichen Regelkindergärten vermissen lassen:

„‚Wir stören unsere Kinder nicht beim Onanieren, und wir lassen sie auch beim Geschlechtsspiel in Ruhe. Viele Kinder haben schon auf den Topf gemacht. Jetzt scheißen sie wieder in die Hose. Sie holen ihre anale Phase nach. Das ist gut. Weißt du, daß die meisten KZ-Wächter in ihrer Kindheit anale Schwierigkeiten hatten‘“ (zit. n. ebd., S. 44).

Übrigens: Sofort nach Erscheinen des stern-Heftes packten wutschäumend 30 Kinderladen-Eltern ihre unartigen Sprösslinge, stürmten das damalige neue West-Berliner Verlagshaus von „Gruner und Jahr“ „und zerstörten die sterile Atmosphäre der Stern-Redaktion... Nachdem die Kinder ihre erste Beklemmung über die keimfreie Einrichtung der Stern-Weißmacher überwunden hatten, fingen sie an, die Wände zu bemalen, Papierkörbe auszukippen, Schreibmaschinen zu bearbeiten, einen Feuerlöscher in Gang zu setzen, sich mit Musik, Geschrei und Bewegung eine Umgebung zu schaffen, die ihren vielfältigen Bedürfnissen entsprach“ (o. V. 1970, S. 158).

Als die „antiautoritäre Welle“ schon im Abklingen war, sorgte erneut die ARD mit ihrer Sendung „Kinder und ihre Sexualität“, ausgestrahlt am 3. Oktober 1974, für Aufsehen. Da die Eltern immer noch, trotz der (vermeintlichen) Liberalisierung der kindlichen Sexualität durch die 68er Bewegung, mit den erotischen Bedürfnissen ihrer Kinder Schwierigkeiten hatten, versuchten die Autoren des Fernsehfilms, Gerburg Dahl-Rhode und Frans van der Meulen, in "Lockerungsübungen" Hilfestellung zu geben: Diskussionen mit dem Berliner Psychologen Helmut Kentler (4), aufklärerische Kurzszenen und Erlebnisberichte von Eltern sollten „positive Beispiele“ einer ganz natürlichen Sexualerziehung liefern. Der Film hatte für Verunsicherung gesorgt. Ein Kindergarten berichtet:

„Am Morgen, nachdem der Film in Fernsehen gezeigt worden war, kamen Eltern zu uns und haben uns über unsere Meinung gefragt. Manche waren ziemlich schockiert und meinten, sie würden so etwas nie zulassen. Eine Mutter meinte sogar zu uns: ‚Aber nicht wahr, Sie lassen so etwas doch nicht zu, daß sich die Kinder einfach ausziehen dürfen und sich benehmen dürfen wie die Erwachsenen!‘ Wir haben ziemlich unterschiedliche Meinungen von den einzelnen Müttern an diesem Morgen gehört“ (Deutsches Jugendinstitut 1980, S. 62).

Während des ersten bundesdeutschen Vorschulkongress 1970 in Hannover kam es zu heftigen „Grabenkämpfen“ zwischen VertreterInnen der antiautoritären Erziehung und den „Alt-Pädagogen“. Ein Extrem der Auseinandersetzungen war der Vorwurf revolutionärer StudentInnen, dass die gegenwärtige öffentliche Kleinkindererziehung „nichts anderes im Sinn hätte, als die Kinder zu willfährigen Opfern eines ausbeuterischen Kapitalismus zu formen... Sich als links begreifende Erziehungswissenschaftler proklamierten, daß die kapitalistische Gesellschaft sich selbst notwendigerweise zugrunde richten müßte, bräuchte sie doch zu ihrem Fortbestehen eben solche Menschen, die mit Grundqualifikationen wie Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Neugier, Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, Mobilität, Kritik- und Konfliktfähigkeit ausgerüstet seien, um langfristig auf dem internationalen Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben. Und Menschen, die diese Grundqualifikationen besäßen, würden sich zwangsweise gegen eine Klassengesellschaft und gegen das Diktat des Kapitals zu Wehr setzen" (Preissing 1995, S. 65). Die Kindergärtnerinnen wurden beschuldigt, dass "sie die immensen Lernpotentiale kleiner Kinder jahrzehntelang sträflich vernachlässigt hätten", andererseits "wurden sie angeklagt, ihr Hauptaugenmerk auf den Drill sogenannter Sekundärtugenden preußischen Charakters (Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Fleiß) gelegt zu haben" (ebd.). Die hochgeschätzte Kindergartentheoretikerin und Fröbelexpertin Erika Hoffmann, die in einer über vier Jahrzehnte intensiven Tätigkeit die Gestaltung der öffentlichen Kleinkindererziehung prägend mitbestimmte, wurde auf dem Vorschulkongress wegen ihres antiquierten Kindergarten-Weltbildes aufs schärfste kritisiert. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin vertrat die Ansicht, dass die familienergänzende Institution Kindergarten die „Blütezeit der Menschwerdung“ (zit. n. Berger 2016, S. 142) versinnbildlicht. Demzufolge muss der Kindergarten ein „Schonraum“, ein Ort der „Nachreife“ (zit. n. ebd.) sein, der an der behütenden und beschützenden Familienerziehung anknüpft und der den das Vorschulkind überfordernden gesellschaftlichen wie kulturellen Bedingungen „geradezu retardierend entgegenwirkt“ (Hoffmann 1968, S. 30). Die VertreterInnen der antiautoritären Erziehung konterten:

"Daß auch Kinder schon etwas leisten können und wollen, daß es darum geht, ihre Neugierde in Wißbegierde umzuwandeln, wird in den Kindergärten häufig noch immer brüsk abgelehnt. Alt-Pädagogin Erika Hoffmann, Vorstandsmitglied des PestalozziPestalozzi||||| Johann Heinrich Pestalozzi`s (1746 - 1827) pädagogisches Ziel war es eine ganzheitliche Volksbildung zu erreichen, und die Menschen in ihrem selbstständigen und kooperativen Wirken in einem demokratischen Gemeinwesen zu stärken. Er legte Wert auf eine harmonische und ganzheitliche Förderung von Kindern in Bezug auf intellektulle, sittlich-religiöse und handwerkliche Fähigkeiten. Grundidee ist dabei, ähnlich wie in der Montessori-Pädagogik, dass die Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich selbst zu helfen.   -Fröbel-Verbandes: 'Wir sind überzeugt, einen pädagogischen Widerstand gegen die Frühreife setzen zu müssen. Diesen Widerstand soll und kann der Kindergarten leisten.' Und weil die Förderung kindlicher Intelligenz mit Frühreife verwechselt wird, gilt in den meisten Kindergärten nach wie vor, daß die 'Lust an der eigenen Leistung... in diesem fröhlichen Miteinander und Füreinander noch einmal für eine Weile zurücktreten' muß, wie Erika Hoffmann resolut befindet“ (o. V. 1970a, S. 82).

Ferner wurde auf dem Kongress der traditionellen Kindergartenpädagogik vorgeworfen, „ein günstiger Ansatz für die Blut- und-Boden-Ideologie, die sich nach 1933 auch in den Kindergärten ausbreitete“ (ebd.) zu sein.



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