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Spiel als Motor der Entwicklung

Zum Verhältnis zwischen Spielen und Lernen

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklung des kindlichen Spiels
  2. Spielend lernen: Zum Verhältnis zwischen Spielen und Lernen
  3. Die Kita als Spielort?
  4. Literatur

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Wie sich das kindliche Spiel entwickelt – und welche Bedürfnisse damit erfüllt werden

Wie kann das Spiel vom Nicht-Spiel unterschieden werden? Ist alles, was ein Kind mit Beginn seiner Entwicklung und zunehmenden Entfaltung seiner Potentiale tut, als Spiel zu bezeichnen? Das Spiel ist ein äußerst komplexes, vielschichtiges Phänomen und schwerer begrifflich zu fassen, als es auf den ersten Blick erscheint. In der Entwicklungspsychologie und Spielforschung werden einige zentrale Merkmale genannt, die das kindliche Spiel charakterisieren: Johan Huizinga (1938/1994) beschreibt Spiel als „eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum freiwillig angenommen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘“ (S. 37). Mogel (2008) bezeichnet das Spielen als ein „fundamentales Lebenssystem des Menschen“ (S. 6).

Folgende wesentliche Grundelemente können das kindliche Spiel charakterisieren (vgl. zusammenfassend Weltzien 2011):

Das Spiel als Selbst-Zweck bzw. die Zielbezogenheit des Spiels: Jedes Spiel hat einen Sinn für das Kind, sonst würde es sich auf dieses Spiel, das sich als Erkunden, Ausprobieren, Konstruieren, Darstellen, Messen oder auch Konkurrieren (in Wettbewerbsspielen) entwickeln kann, nicht einlassen. Das Besondere ist jeweils der individuelle Sinn, die sinnstiftende Bedeutung für das Kind, die zuweilen für Außenstehende kaum erkannt oder verstanden werden kann. Jedes Spiel hat auch ein Ziel, wobei dieses nicht explizit (wie in Regelspielen) benannt werden muss, aber für die Mitspielenden vor oder während des Spiels gemeinsam hergestellt wird (z.B. der Bau eines großen Bauwerks aus Bausteinen). Häufig kommt es dabei zu einer Veränderung der Ziele (Zielfluktuation) innerhalb von Spielhandlungen: Ziele können sich erweitern, verändern, umkehren oder ineinander verschränken. Die Spielhandlungen können dabei in einem Spannungsverhältnis zwischen Vertrautem und Neuem stehen. Einerseits fließen bereits bestehende Erfahrungen und Theorien über die Welt in das Spiel ein, was ein Gefühl der Sicherheit, Vorhersehbarkeit und Kompetenz vermittelt. Andererseits ist das Kind in seiner Neugierde stets auch auf der Suche nach neuen Entdeckungen. So erscheint es manchmal für Außenstehende als sinnlose Handlung, wenn halbfertige Bauwerke wieder zum Einsturz gebracht werden, während es für die Spielenden selbstverständlich dazu gehört (weil ein Abrissbagger eintraf, der das Haus abreißen musste), um kurz darauf wieder ein anderes Bauwerk zu errichten.

Die Freiwilligkeit bzw. die Selbst-Tätigkeit des Spiels: Ein zentrales Merkmal ist das selbst initiierte Spiel oder die freiwillige Teilnahme an bereits laufenden Spielen. Das Spiel ist intrinsisch motiviert, niemand kann zum Spiel gezwungen werden. Daher ist auch die Aufforderung, etwas „zu Ende zu spielen“ paradox. Das Spiel im engeren Sinne ist nicht denkbar ohne die Selbsttätigkeit, weil diese die Voraussetzung dafür ist, sich überhaupt auf das Spiel mit seiner Dynamik und seiner Wirklichkeit einlassen zu können. Im Spiel setzt sich das Kind in einem wechselseitigen Gestaltungs- und Veränderungsvorgang mit seiner Umwelt auseinander. Kind und Umwelt werden im Laufe der spielerischen Gestaltung zu einer Handlungseinheit, verschmelzen miteinander und beeinflussen sich. Dieser Prozess der Selbstentfaltung wird vom Kind als Kompetenz- und Autonomiegewinn positiv erlebt und spiegelt sich in engagierten und anhaltenden Spielhandlungen wider.

Die Handlungsbezogenheit bzw. Handlungsdynamik des Spiels: Ein wesentliches Merkmal von Spiel ist das Handeln. Spiele sind in aller Regel beobachtbar, weil sie durch eine mehr oder weniger große Dynamik, durch Handlungsverläufe und Handlungsebenen gekennzeichnet sind. Je nach Spielform können die Handlungen schnell und motorisch komplex („Fangen“) oder konzentriert („Mikado“) verlaufen. Auch im szenischen Spiel bzw. Rollenspiel zeigen sich vielfältige Formen von Handlungen, die mal lebhaft, dann wieder sehr ruhig verlaufen. Typisch sind auch Verknüpfungen zwischen verschiedenen Spielformen bzw. fließende Übergänge (z. B. Bewegungsspiele-Rollenspiele; Konstruktionsspiele-Explorationsspiele-Rollenspiele), so dass eine starre Trennung von Spielformen kaum möglich ist.

Die Wirklichkeit bzw. die Wirklichkeitsebenen im Spiel: Nicht nur bei Rollen- oder Phantasiespielen, sondern bei jeder Form des Spiels entsteht eine spezifische Spielwirklichkeit, die die damit verbundenen Ziele, Handlungen, Rollen und das subjektive Erleben bestimmen. Diese Spielwirklichkeiten sind für Außenstehende oftmals nur zu erahnen. Im Spiel entstehen also neue Bilder von Wirklichkeit und es werden neue Erkenntnisse gewonnen, indem innere und äußere Realitäten aufeinander treffen. Das Spiel ermöglicht es, Erlebtes zu re-inszenieren und damit zu bearbeiten, neue Erlebensräume zu schaffen, sich selbst in anderen Rollen und die Reaktionen seiner Umwelt darauf zu erleben.

Die Lust im Spiel bzw. das lustvolle Erleben: Ein wesentliches Kennzeichen ist auch die mit dem Spiel verbundene Lust, die sich in Spannung oder Entspannung, Wohlbefinden, Freude, Vorfreude, Aufregung, dem Erleben von Gemeinschaft und Kooperation ebenso wie der Freude am gegenseitigen Messen, Wettbewerb oder auch Kampf („Ritterspiele“) äußern kann. Das (kindliche) Spiel ist lustbetont und dient dem eigenen Erleben von Wissen und Können, Kreativität und Stärke. Daher ist Spiel auch Ausdruck eines Zustands des inneren Wohlbefindens. Zwar sind Spielverläufe durchaus auch mit Formen des Ärgers, der Wut oder Trauer verknüpft, das Spiel findet aber stets ein Ende, wenn die Mitspielenden im wörtlichen Sinne „keine Lust mehr“ haben. Dann sind sie nicht mehr in der Lage, den Zustand lustvollen Erlebens zu erreichen (nach einer Niederlage) bzw. ziehen sich aus dem Spiel zurück, um das Gefühl von Unlust zu vermeiden.

Diese Grundelemente zeigen sich bereits ab dem frühesten Kindesalter, zunächst in Form erster Funktionsspiele, wenn immer wieder Gegenstände gegriffen und hinsichtlich ihrer Funktionen exploriert werden, Geräusche verursacht („Rassel schütteln“), später Spielobjekte umfunktioniert („Bauklotz zu Auto“), mit anderen Spielinteraktionen durchgeführt („Guck-Guck-Spiele“), oder mit Gleichaltrigen erste Parallel- oder Symbolspiele („Tierfamilie“) begonnen werden. Das Spiel ist jeweils das Ergebnis dessen, was ein Kind an Eindrücken aus seiner Umwelt ansammelt und subjektiv verarbeitet, es ist zugleich ein unermüdliches Ausprobieren und Experimentieren.

Von daher ist Spiel sowohl Voraussetzung als auch Quelle für die kindliche Entwicklung (Weber 2009). Mogel (2008) bezeichnet das Phänomen als etwas, bei dem sich das Kind „nirgendwo sonst als im Spiel (...) so eigenständig, aktiv und selbst gewählt überraschen [kann]“ (S. 13). Spiele entwickeln sich dabei typischerweise in einer bestimmten Reihenfolge, die auch im Kulturvergleich beobachtet wurde (Fein 1981; Inhelder et al. 1972; Oerter & Montada 2008). Aus dem sensumotorischen bzw. Funktionsspiel der ersten Monate entwickelt sich mit etwa einem Jahr das frühe Symbolspiel, das häufig als die „eigentliche Spielform“ der frühen Kindheit bezeichnet wird (Oerter & Montada 2008, S. 236). Dieses Symbolspiel wiederum entwickelt sich durch zunehmende Ausdifferenzierung sowie eine fortgesetzte Einbeziehung der verschiedenen Lebenswelten bis zu einem geplanten Rollenspiel (auch szenisches Spiel) im Vor- und Grundschulalter (McCune-Nicolich & Carroll 1981). Bewegungs-, Regel- und Wettbewerbsspiele entwickeln sich ebenfalls ab dem frühen Kindesalter und sind durch eine zunehmende Komplexität gekennzeichnet.

Die Frage, warum Kinder scheinbar unermüdlich zum Spiel bereit und in der Lage sind, wird dabei häufig mit dem sogenannten „Flow-Erlebnis“ (Csikszentmihalyi 1985) begründet. Mit Flow-Erlebnis wird ein positiver Gefühlszustand beschrieben, der entsteht, wenn man sich voll und ganz auf eine gegenwärtige Tätigkeit konzentriert, in dieser aufgeht und darüber das Zeitgefühl verliert. Ein solcher Gefühlszustand stellt sich ein, wenn es sich um Anforderungen handelt, die mit den eigenen Fähigkeiten übereinstimmen, eine neue Herausforderung darstellen, zugleich aber kontrolliert werden können. Der Anreiz entsteht intrinsisch aus dem eigenen Tun und wird nicht über das Handlungsergebnis bestimmt.

Eine weitere Begründung dafür, dass sich das Spiel als die bedeutendste Form der Weltaneignung und damit auch als Motor der kindlichen Entwicklung zeigt, ergibt sich aus den zentralen menschlichen Grundbedürfnissen, die die Wahrnehmung und das Handeln leiten (Grawe 1994): Dem Bedürfnis nach Bindung/Beziehung, dem Bedürfnis nach Orientierung/Kontrolle/Autonomie, dem Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung bzw. Selbstwertschutz und dem Bedürfnis nach Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung. Werden die Grundbedürfnisse, die unabhängig und gleichwertig nebeneinander stehen, in Spielhandlungen befriedigt, ergibt sich ein Gefühl der Konsistenz und des Wohlbefindens.

Die aufgezeigten Merkmale lassen vermuten, dass Spielen „leicht“ ist, dass also jedes Kind bereit und in der Lage ist, in das Spiel zu finden. Dies ist allerdings nicht der Fall, denn nur unter der Voraussetzung, dass sich das Kind sicher fühlt und keine Angst hat, kann es in ein Spiel finden. Geborgenheit und verlässliche Beziehungen sind damit eine grundlegende Voraussetzung dafür, damit sich das kindliche Spiel entwickeln kann. Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass ohne sichere Bindungen kein Explorationsverhalten und damit keine ersten Spielhandlungen möglich sind. Ainsworth (1964/2003) beschreibt den Zusammenhang zwischen Bindungsverhalten und Exploration als ein dynamisches Verhältnis. Nur wenn beide Systeme aufeinander abgestimmt und ausbalanciert sind, entstehen Situationen, in denen Kinder spielen können und möchten. Kinder, die verunsichert oder ängstlich sind und Mühe haben, sich in ihrer Umgebung zu orientieren, spielen ebenso wenig wie Kinder, die in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt oder krank sind. Spielsituationen entstehen also aus dem Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens heraus (Weltzien, Prinz & Fischer 2011).



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