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Der Kindergarten im nationalsozialistischen Deutschland

Inhaltsverzeichnis

  1. Gleichschaltung der öffentlichen Kleinkindererziehung
  2. Körperliche und charakterliche Erziehung
  3. Wehrerziehung und Erziehung in Rollenbildern
  4. Erziehung zur Führerliebe
  5. Die Erziehung zum Rassegedanken
  6. Zusammenfassung
  7. Literatur

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Gleichschaltung der öffentlichen Kleinkindererziehung


Im Vergleich mit anderen öffentlichen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen konnte sich die Institution Kindergarten einer schnellen und vollständigen Gleichschaltung - sowohl in pädagogischer wie auch in organisatorischer Hinsicht – entziehen. Neben den anfänglichem Desinteresse am Kindergarten erwies sich als weiterer Vorteil, dass nicht der NS-Staat, „sondern vielmehr die unterschiedlichsten privaten Träger auf dem Felde der Vorschulerziehung agierten, darunter an erster Stelle die in den konfessionellen Spitzenverbänden zusammengeschlossenen Vereine, die - wenigstens anfangs - auch von den nationalsozialistischen Machthabern nicht so leicht anzugreifen waren“ (Konrad 2004, S. 159).

werbeblattnsvWerbeblatt der NSV (Quelle: Ida-Seele-Archiv)Der sich mit den Jahren immer deutlicher manifestierende Totalitätsanspruch der Nazis verlangte zusehends, dass die öffentliche Kleinkindererziehung ausschließlich nach ihren Richtlinien zu geschehen habe, was seit Mitte der 1930er-Jahre zu punktuellen und Ende der 1930er-Jahre zu massiven Beeinträchtigungen der Kindergartenarbeit in freier Trägerschaft führte. Davon betroffen waren zuerst die "Arbeiterwohlfahrt", das "Deutsche Rote Kreuz" und der "Paritätische Wohlfahrtsverband", anschließend die evangelischen und katholischen Träger. Reformpädagogische Einrichtungen, die nach der Montessori-, Waldorf- oder der psychoanalytischen Pädagogik arbeiteten, wurden, wenn auch örtlich sehr unterschiedlich, „ausgemerzt“, ebenso alle Privatkindergärten (vgl. Berger 2015a, S. 82 ff.). Den Einrichtungen, die von der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), als Teilorganisation der NSDAP, übernommen werden sollten, teilte man lapidar mit:

„Der in Ihrer Gemeinde befindliche Kindergarten ist bis zum nächstmöglichen Termin in die Verwaltung der NSV zu überführen. Den dort befindlichen konfessionellen Kräften ist sofort zu kündigen. Vollzugsmeldung ist vorzulegen. Der Kreisleiter“ (zit. n. Kindergarten Gerolzhofen 1980, S. 20).

Ab 1941 durften NSV-Kindergärten nur noch Kinder aufnehmen, deren Oberhaupt (oder die Ehefrau) Mitglied der NSV war, wie aus einem Schreiben der NSDAP- Kreisleitung Neuburg/Donau an den Magistrat der Stadt Rain hervorgeht:

schreibenzusSchreiben der NSDAP-Kreisleitung Neuburg/Donau an den Magistrat der Stadt Rain am Lech, (Quelle: Kindergarten Rain am Lech 1978, S. 15 f)


Dass die Gleichschaltung der konfessionell gebundenen vorschulischen Einrichtungen nicht vollständig gelang, ist u. a. ein Verdienst der engagierten Elternschaft, die sich mit der diktatorisch angeordneten Übernahme von Einrichtungen durch die NSV nicht abfinden wollten, ja sogar in einzelnen Fällen eine Rückgabe an die konfessionellen Träger erzwangen. Insbesondere wenn Ordensschwestern oder Diakonissinnen gekündigt und durch „braune Schwestern“ ausgetauscht wurden, entlud sich der elterliche Ärger, wie beispielsweise im niederbayerischen Städtchen Vilshofen, "als 1938 den im städtischen Kindergarten angestellten Klosterschwestern gekündigt werden sollte, Unterschriften gesammelt und Bittschriften an den Reichsstatthalter von Epp gerichtet" (Erning 1997, S. 734) wurden. Ein weiteres mutiges Beispiel der Gegenwehr ist die kleine oberfränkische evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Unterrodach, in der Nähe von Kronach. Hier hatte der Pfarrer der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Michael im hiesigen Wirtshaus eine Zusammenkunft einberufen, um für den Erhalt des evangelischen Kindergartens zu werben. Im Laufe der Diskussion wurde der Geistliche vom Ortsgruppenleiter als "Saboteur" und "Feind der Partei" abqualifiziert. Der Seelsorger berichtete über die vorgefallene Auseinandersetzung:

"'Ob ich wüßte, was mit mir geschehen müßte, wenn ich nicht der Pfarrer wäre? - Der Gemeindesekretär dazwischen: Nach Dachau würde ein anderer kommen - Meine Antwort: Um des Wortes Gottes willen müßte ich auch Dachau als Strafe tragen können'" (zit. n. Bookhagen 1990, S. 80).

Diese mutigen Beispiele dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den konfessionell gebundenen Kindergärten „eine Annäherung an die nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen vollzogen wurde“ (Wustrack 2009, S. 37). Beispielsweise konstatierte Pfarrer Hermann Scriba, Rektor des Diakonissen-Mutterhauses in Eisenach:

flatterndefahnen„Die flatternde Fahne ist Aufruf und Verpflichtung“ (Quelle: Kindergarten 1937, S. 71 / Ida-Seele-Archiv)„Ganz besondere Verantwortung liegt auf den Diakonissen und Kindergärtnerinnen, die in der Erziehungsarbeit stehen, sei es am Kleinkind oder an der heranwachsenden Jugend. Gerade hier soll sie ihre christliche und nationalsozialistische Gesamthaltung am vorbildlichsten auswirken, nicht in großen Worten, aber im Sein“
(Scriba 1936, S. 19).




Folgendes Gebet steht exemplarisch für die damaligen Anpassungstendenzen katholischer Einrichtungen an die "völkische Erziehung" (vgl. Berger 1986, S. 157 ff.):

"Sind wir auch noch kleine Deutsche,
aber Deutsche sind wir doch,
können wir auch noch nicht streiten,
lieben tun wir Deutschland doch.
Deutsche Kinder müssen beten:
Herr Gott, schütze unser Heer!
Sei Du mit ihm auf dem Lande,
in der Luft und auf dem Meer!
Lieber Gott im Himmel droben,
segne unser deutsches Land.
Jeder Deutsche soll Dich loben,
schützen soll uns Deine Hand" (Wachendorf 1939, S. 38).

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Soldaten zu Besuch im Erntekindergarten Kaufbeuern (Quelle: Ida-Seele-Archiv)
Da sich mit Kriegsbeginn die Kräfte des Staates auf den "Endsieg" konzentrierten, ließ der Druck auf die konfessionellen Kindergärten erheblich nach. Die Nazi-Machthaber befürchteten, eine rabiate Zerschlagung des kirchlichen Kindergartenwesens könnte Unruhe unter der Bevölkerung erzeugen“ (Konrad 2004, S. 163). Einzig in der Sonderform der Erntekindergärten, auch Sommerkindergärten genannt, erreichte die NSV die alleinige Zuständigkeit. Bereits 1934 „sind vom Amt für Volkswohlfahrt über 600 Erntekindergärten eingerichtet worden, in denen über 20 000 Kinder betreut worden sind. Die Einrichtung hat sich bewährt. Die Erntekindergärten sind ein wichtiges Mittel zur Entlastung der Bäuerin und Landarbeiterfrau. Die Vorteile für das Kind und die Familie sind in ihrer Erntezeit unbestreitbar“ (o. V. 1935, S. 27). 1938 existierten 5.575 Erntekindergärten und vier Jahre später c. 6.000 bis 6.600 Erntekindergärten, die unter NSV-Trägerschaft geführt wurden (vgl. Konrad 2004, S. 163).

neueroeffnungEröffnung eines NSV-Kindergarten in Neu-Isenburg (Quelle: Ida-Seele-Archiv)



Von Anfang an war den Nazis die gemeinsame Betreuung von „arischen“ sowie jüdischen, als auch „weniger wertvollen“ Kindern ein Dorn im Auge. Ab 1935, mit Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“, wurde jüdischen, erbkranken und anderen schwächlichen Kindern der Besuch eines „deutschen Kindergartens“ untersagt. Die frühpädagogische Fürsorge galt ausschließlich, wie eine Münchener Kindergartenleiterin resümierte, „den gesunden, tüchtigen und wertvollen deutschen Kindern. Ihnen soll der Kindergarten zur Blutsheimat werden“ (zit. n. Berger 2015a, S. 87). Die nicht erwünschte Betreuung jüdischer Kinder betreffend, wurde von den einzelnen Städten und Gemeinden unterschiedlich gehandhabt. Beispielsweise durften in Augsburg schon ein Jahr vor dem Erlass der "Nürnberger Rassegesetze" „arische“ Kinder nicht mehr zusammen mit jüdischen Kindern einen Kindergarten besuchen (vgl. Berger 2015a, S. 87 ff.). Kindergärtnerinnen jüdischer Abstammung wurde von der hiesigen "NSV-Gauamtsleitung Schwaben" strengstens verboten „arische“ Kinder zu betreuen. Man befürchtete, der jüdischen Kindergärtnerin ihr Einfluss würde in jeder Hinsicht die „arischen“ Kinder verderben. Die in Augsburg geborene Jüdin Gertrud Dann, die seit 1932 im großräumigen Haus ihrer Eltern einen gemischt konfessionellen Privatkindergarten leitete, musste bereits zwei Jahre später nach Eröffnung ihrer Einrichtung die Betreuung „arischer“ Kinder einstellen, trotz reger Nachfrage „blutsdeutscher“ Eltern. Die Augsburger Kindergartenleiterin erinnerte sich rückblickend:

„Christliche und jüdische Kinder haben sich sehr gut vertragen. Die Eltern haben sich auch befreundet. Es gab keinerlei Schwierigkeiten, und darum haben die Kinder nicht kapiert, warum die anderen denn weiter kommen können und sie nicht. Es war auch zu schwierig für die Eltern, es ihnen zu erklären“ (zit. n. Lütkemeier 1992, S. 121 f).