Beiträge chronologisch

Grundlagen der Frühkindlichen Bildung

Entwicklungspsychologische, pädagogische und soziologische Perspektiven

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklungspsychologische und pädagogische Grundlagen
  2. Soziologische Perspektiven
  3. Zusammenfassung und Fazit

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1.1 Entwicklungspsychologische und pädagogische Perspektiven

In der Frühpädagogik und ihren humanwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen wie der Entwicklungspsychologie und der Neurobiologie besteht Einigkeit darüber, dass die ersten Lebensjahre durch schnelle und vielfältige Entwicklungsprozesse gekennzeichnet sind, bei denen Lernvorgänge eine entscheidende Rolle spielen. Die moderne Entwicklungspsychologie versteht Entwicklung dabei als einen andauernden Wechselwirkungsprozess zwischen Individuum und Umwelt, dessen Verlauf von beiden Seiten aktiv mitgestaltet wird (Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004, S. 21ff.). Auf Seiten des Individuums können die Ebenen der genetischen Aktivität, der neuronalen Aktivität und des Verhaltens unterschieden werden; bei den Umwelteinflüssen wird zwischen physischer, sozialer und kultureller Umwelt differenziert.

Unter Lernen versteht man den absichtlichen und den beiläufigen individuellen oder kollektiven Erwerb von geistigen, körperlichen, sozialen und emotionalen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Lernen kann nach Steiner (2006, S. 139) unter dem Gesichtspunkt der Verhaltensänderung und unter dem Gesichtspunkt des Wissenserwerbs betrachtet werden.

Von Geburt an bringen Kinder hierfür die biologische Ausstattung und DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die  physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen.  mit (vgl. u.a. Dornes, 1994; Eliot, 2004) und sind schon im ersten Lebensjahr zur extrem raschen Nutzung von Informationen aus der Umwelt fähig. Auch verfügen sie wahrscheinlich über domänenspezifische Wissenselemente, die ihnen die Orientierung in der physikalischen und sozialen Umwelt erleichtern und den Aufbau von Wissen unterstützen (Sodian, 2002, S. 447ff.). Gopnik, Kuhl & Meltzoff (2005, S. 179) sprechen davon, dass sich innerhalb der ersten Lebensjahre das gesamte Konzept, das Kinder von Menschen, Dingen und Wörtern haben, aufgrund von Lernprozessen radikal ändert.

Stärker noch als der Lernbegriff beinhaltet der Bildungsbegriff die Seite der aktiven individuellen Auswahl und Aneignungsweise durch das Individuum. Schäfer (2005, S. 18ff.) postuliert, dass Bildung eine besondere Form des Lernens sei. Der Bildungsbegriff berücksichtigt den subjektiven Sinn und die Bedeutsamkeit, die erworbenes Wissen und Können bzw. erlerntes und angewendetes Verhalten für das Individuum besitzt. Unter Bildung sind dann nur diejenigen Anteile von Entwicklungs- und Lernprozessen zu verstehen, die dazu beitragen, dass das Individuum seine Möglichkeiten des Handelns, Fühlens und Denkens gegenüber sich selbst sowie der sozialen und materiellen Umwelt erweitert. Durch diese Erweiterung erhöht sich für das Individuum die Wahrscheinlichkeit, gemäß seiner eigenen Bedürfnisse und Interessen selbstwirksam agieren zu können, Kohärenz im Wollen und Handeln zu erreichen, sich an eine gegebene Umwelt zu adaptieren und sie im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten mitgestalten zu können.

Für die frühe Kindheit können diese Bildungsprozesse in verschiedene Dimensionen – zwischen denen jeweils wechselseitige Bezüge bestehen – differenziert werden (Viernickel, 2008; Viernickel & Stenger, 2010).

  1. Als erstes ist die sozial-emotionale Dimension zu nennen: Bildung ist Beziehungsbildung, der Aufbau von stabilen, gefühlsmäßig besetzten besonderen Beziehungen zu anderen Menschen. Solche Bindungs- oder bindungsähnlichen Beziehungen gelten als Voraussetzung dafür, dass sich junge Kinder voller Aufmerksamkeit ihrer Umwelt zuwenden und diese aktiv und konzentriert erkunden können und wollen.
  2. Bedeutsam ist zweitens die Handlungsdimension: Bildung vollzieht sich als aktive Aneignung von Welt, als neugieriges Forschen und Entdecken. Bildungsprozesse sind selbstverstärkend, denn Handlungserfolge setzen Hormone frei, die positive Emotionen auslösen und somit Belohnungscharakter haben.
  3. Drittens kann frühkindliche Bildung als Aneignungs- und Ausdruckstätigkeit in Bezug auf kulturelles Wissen und kulturelle Praxen beschrieben werden. Kinder sind Schöpfer ihrer eigenen Kultur, aber sie beziehen sich dabei auf Sinnzusammenhänge, Themen und kulturelle Praktiken, die sich ihnen zuvor erschlossen haben.
  4. Und schließlich sind Bildungsprozesse in einer identitätsorientierten Dimension zu denken: Bildung in der frühen Kindheit muss zu einem erheblichen Anteil als Persönlichkeitsbildung verstanden werden im Sinne der Ausformung und zunehmenden Erkenntnis über Eigenschaften und Besonderheiten der eigenen Identität (Stern, 1992).

In diesen Prozessen übernehmen erwachsene Bezugspersonen – zuerst die Eltern, sobald institutionelle familienergänzende Betreuung einsetzt, jedoch auch pädagogisches Personal in Kindertageseinrichtungen – mehrere miteinander zusammenhängende, aber dennoch zu differenzierende Funktionen: als Beziehungspartner/in, als Ko-Konstrukteur/in sprachlicher und kultureller Bedeutungen und Wissensbestände sowie als Arrangeur/in des Bildungsraums Kita, der Eigenaktivität und forschendes Lernen ermöglicht und befördert.

 

Die Pädagogin / der Pädagoge als Beziehungspartner/in


Kinder brauchen Beziehungen, um sich bilden zu können. In den ersten Lebensjahren eines Kindes assoziieren wir hierzu in erster Linie den Aufbau von Bindungsbeziehungen zu Mutter und Vater, aber auch zu anderen Personen, die ein Kind ständig betreuen. Unter Bindung («attachment») versteht man dabei eine besondere und enge emotionale Beziehung, die sich im Laufe der Zeit als überdauernde kognitiv-emotionale Repräsentation, als sogenanntes inneres Arbeitsmodell ausbildet und damit nicht nur aktuelle, sondern langfristige Bedeutung für die kindliche Entwicklung hat. Werden die grundlegenden psychischen, physischen und sozialen Bedürfnisse in den ersten Lebensjahren in der Regel prompt und angemessen beantwortet, entwickelt sich eine sichere Bindung, die beim Kind zu geistigen Repräsentationen von sozialen Beziehungen als zuverlässig und tragfähig und zu einem Bild von sich selbst als emotional kompetent und selbstwirksam führt (Bowlby, 1975).

Ob die emotionalen Beziehungen, die in institutionellen Betreuungssettings zwischen pädagogisch Tätigen und Kindern entstehen, als Bindungsbeziehungen zu fassen sind, wird kontrovers diskutiert (vgl. Ahnert, 2007; Erndt-Doll & Winner, 2009). Jedoch herrscht ein Konsens dahingehend, dass Kinder, je jünger sie sind, desto dringender eine räumlich und emotional verfügbare Bezugsperson benötigen, um sich aktiv und angstfrei mit der Umwelt auseinanderzusetzen und Bildungserfahrungen machen zu können. Nach der Bindungstheorie steht das Bindungsverhaltenssystem in einer Wechselwirkung mit dem Explorationssystem (Schölmerich & Lengning, 2004). Sind in einer aktuellen Situation die kindlichen Bindungsbedürfnisse erfüllt, so erkunden Kinder neugierig und offen ihre Umwelt. Sobald sie jedoch irritiert, überfordert oder müde werden, benötigen sie die Rückversicherung und den körperlichen Kontakt zur Bezugsperson.

Bestätigende Beziehungserfahrungen sind auch für die frühkindliche Identitätsentwicklung relevant. So geht Stern (1992) davon aus, dass jedes Kind von Geburt an ein subjektives Identitätsempfinden hat, dass sich durch die aktive Beteiligung an Interaktionen – über Blickkontakte und durch den Einsatz mimischer, gestischer und (vor-)sprachlicher Kommunikationsmittel – weiterentwickelt. Die Reaktionen der Bezugspersonen formen das kindliche Selbstbild in Bezug darauf, welche der eigenen Verhaltensweisen für angemessen gehalten werden, wie die eigenen Signale aufgenommen werden und wie darauf reagiert wird (Lally, 1996). Auch in der neueren neurobiologischen Forschung finden sich Hinweise, dass der Strukturaufbau des menschlichen Gehirns in den ersten Lebensjahren in weit stärkerem Maße als früher angenommen durch soziale Beziehungserfahrungen mitbestimmt ist (Hüther, o.J.).

In institutionellen Betreuungssettings ist deshalb der Aufbau einer positiven und möglichst stabilen emotionalen Beziehung zwischen Betreuungsperson und Kleinkind eine wichtige Aufgabe. Berücksichtigt man den bereits ausgeführten fundamentalen Zusammenhang zwischen emotionaler Sicherheit, einem Grundvertrauen in soziale Beziehungen, der Neugierde auf die Umwelt und die Entwicklung der Persönlichkeit, benötigt jedes Kind Vertrauen von und zu seinen Bezugspersonen, die nachempfinden und in Worte fassen wollen, was das Kind bewegt. Im Kontext einer Gruppenbetreuung muss sichergestellt sein, dass zu jeder Zeit eine angstfreie Atmosphäre hergestellt wird und jedes Kind achtsame, wertschätzende und warme Zugewandtheit erfährt sowie eine Anerkennung seiner Person, seiner Interessen, Meinungen und Fähigkeiten.

Von besonderer Bedeutung hierfür ist die Qualität der regelmäßigen sozialen Interaktionen zwischen Bezugsperson und Kind. Hierin liegt jedoch auch eine besondere Herausforderung, denn Erzieher/innen müssen sich in der Regel parallel mit mehreren Kindern auseinandersetzen. Sichere Fachkraft-Kind-Bindungen oder -beziehungen entstehen anscheinend in jenen Kindergruppen, in denen die Gruppenatmosphäre durch ein empathisches Verhalten der Erzieher/innen bestimmt wird, das gruppenbezogen ausgerichtet ist und die Dynamik
der Gruppe reguliert. Gleichzeitig sollten aber die wichtigsten emotionalen Bedürfnisse einzelner Kinder zuverlässig und feinfühlig beantwortet werden (Ahnert, 2004, S. 268f.). Das soziale Miteinander in der Kindergartengruppe wirkt weiter als ein Modell für die Gestaltung aktueller und zukünftiger sozialer Kontakte und Beziehungen. Soziale Kompetenzen und die Fähigkeit zu kooperieren werden zu großen Teilen über sozialen Austausch – nicht nur, aber auch mit der Pädagogin / dem Pädagogen erworben.

In Kindertageseinrichtungen müssen demnach aus bindungstheoretischer Sicht strukturelle Bedingungen gegeben sein, unter denen die pädagogisch Tätigen zu sicheren Bezugspersonen werden und die damit verbundenen Funktionen zuverlässig erfüllen können. Eine Kontinuität und Vorhersagbarkeit der Anwesenheit dieser Bezugspersonen sollte ebenso gegeben sein wie deren räumliche Nähe bzw. gute Erreichbarkeit. Die Pädagogen/innen sollten die Möglichkeit haben, feinfühliges Verhalten gegenüber einzelnen Kindern regelmäßig zu realisieren sowie die Gruppendynamik zu überschauen und ggf. durch ihr Verhalten regulieren zu können. Sie sollten keinesfalls regelmäßig durch die Gleichzeitigkeit von Bedürfnissen (zu) vieler Kinder in stresserzeugende Entscheidungs- oder Dilemmasituationen geraten, in denen sie Gefahr laufen, ihre emotionale Zugewandtheit und Responsivität zu verlieren. Dies gilt umso stärker, je jünger die zu betreuenden Kinder sind.

 

Die Pädagogin / der Pädagoge als Ko-Konstrukteur/in sprachlicher und kultureller Bedeutungen und Wissensbestände


Grundsätzlich hält jede Situation für ein Kind Erfahrungsmöglichkeiten bereit, die in vielgestaltiger, kreativer Form als «Rohmaterial» für Verarbeitungs- und Bildungsprozesse herangezogen werden. Jedes Kind konstruiert so eigentlich die Welt – seine Welt – aufs Neue. Jedoch erfolgen diese Konstruktionen in ständiger Auseinandersetzung mit und unter Zuhilfenahme der bereits erfolgten Konstruktionen von Interaktionspartnern, welche wiederum zu einem großen Teil den gesellschaftlichen Konsens über Bedeutungen, Symbole und Konstruktionen enthalten. Nur in Auseinandersetzung mit ihnen kann Bedeutung kreiert und in einem interpretativen Prozess gehandhabt und abgeändert werden.

Für den Erwerb kognitiven und sozialen Wissens und um in die kulturelle und soziale Welt hineinzuwachsen, ist das Kind deshalb in spezifischer Weise auf Interaktion und Kommunikation angewiesen. Die Sprache gilt dabei als ein zentrales «Werkzeug». Erwachsene als die kompetenteren Interaktionspartner sind dem Kind auf seinem Weg, die Regeln der sozialen Welt und die kulturellen Bedeutungen und Symbole zu erschließen, eine unverzichtbare Hilfe. Daneben kommt auch der Interaktion mit anderen Kindern als gleichrangigen Spielpartnern
eine große Bedeutung zu. Sie ermöglicht es dem Kind, unterschiedliche Standpunkte zu erkennen, zu verstehen und miteinander zu vergleichen, und darüber sein eigenes Verständnis von Phänomenen und Situationen qualitativ zu verändern.

Neben der Gestaltung einer Umwelt, die der kindlichen eigenaktiven Auseinandersetzung mit der Welt entgegenkommt, haben pädagogisch Tätige die Verantwortung, zu klären, welche Sachverhalte, Wertorientierungen, Kompetenzen und Wissensbestände für so wichtig und notwendig gehalten werden, um einen «Bildungskanon» für die frühe Kindheit zu formen und hierbei selber, in Form von sprachlichen Rahmungen und weiter führenden Impulsen, Unterstützung und Anregung zu geben.

Die Häufigkeit und Art und Weise, in der Erwachsene mit Säuglingen und Kleinkindern sprechen, gilt als einer der zentralen Einflussfaktoren auf frühe Bildungsprozesse (König, 2008). Übereinstimmend wird die Bedeutung eines regelmäßigen, fokussierten und entwicklungsangemessenen sprachlichen Inputs durch eine responsive und sprachlich kompetente Bezugsperson hervorgehoben, der erfolgt, während das Kind in Aktivitäten engagiert ist, die für es eine subjektive Bedeutsamkeit besitzen. Hierbei ist es von besonderer Bedeutung, inwieweit sich der Erwachsene mit seinen sprachlichen Angeboten auf die Kompetenzen des Kindes zur Informationsaufnahme und -verarbeitung einzustellen vermag. Diese Anpassung wird u.a. durch unterschiedliche Sprachstile realisiert (Grimm & Weinert, 2002, S. 547ff.). Im ersten Lebensjahr des Kindes erfüllt die «Ammensprache», auch «infant directed speech» genannt, wichtige sprachanbahnende und auch interaktionsregulierende Funktionen. Sie ist charakterisiert durch eine einfache Syntax und reduzierte Satzlängen, ein eingeschränktes Vokabular, längere Pausen, viele Wiederholungen und eine höhere Tonlage sowie durch die Übertreibung der prosodischen Konturen (Klann-Delius, 2004, S. 167).

Die Ammensprache sollte ca. zu Beginn des zweiten Lebensjahres von einem unterstützenden Sprachstil abgelöst werden. Um neue Wörter zu erlernen und die dialogischen Fähigkeiten zu erweitern, braucht das Kind jetzt Bezugspersonen, die darauf achten, wohin das Kind sieht, worauf es zeigt und was es fragt und die diese kindlichen Handlungen nicht nur durch einfaches Benennen, sondern durch erweiternde Umschreibungen verbal begleiten.
Die Bezugspersonen lenken die Aufmerksamkeit des Kindes auf einen begrenzten Ausschnitt der Umwelt und initiieren einen Dialog mit einer einfachen und sich häufig wiederholenden Struktur, die wie ein Gerüst wirkt, das den Worterwerb stützt. Außerdem signalisieren sie dem Kind in zunehmendem Maße, dass sie eine Antwort in Form von konventionellen Wörtern anstelle von Lautnachahmungen bzw. statt ungenauer Benennungen präzise Namen einfordern und eine aktive Teilnahme auch an längeren Dialogen erwarten. Für die Konsolidierung einer Wortbedeutung ist variable Spracherfahrung wichtig. Bezugspersonen bieten diese, indem sie im DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  nicht nur weitere Aspekte der Bedeutung eines Wortes erwähnen, sondern auch Beiträge des Kindes aufnehmen und erweitern. Es kommt zu einer ko-konstruktiven Aushandlung von Bedeutungen (Bruner, 1990).

Die Interaktionsqualität verschiebt sich im Lauf der ersten Lebensjahre von einem feinfühlig-nachgehenden zu einem stärker didaktisierend-vorbereitenden Modus. Im dritten Lebensjahr gilt deshalb ein lehrender Sprachstil («motherese») als bildungsförderlich, bei dem die Bezugsperson anregende Fragen stellt, eigene Äußerungen wiederholt und variiert sowie Äußerungen des Kindes aufgreift und deren Inhalt bestätigt, ihm dabei aber eine korrekte syntaktische Rückmeldung gibt und so als Sprachmodell fungiert. Erfahrungen mit erfolgreichen Sprachförderkonzepten bei Kindern mit langsamem Wortschatzaufbau (sogenannte «late talkers») weisen ebenso wie Interventionsstudien (u.a. Beller et al., 2007) auf weitere Aspekte eines bildungsförderlichen Sprachangebots hin. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Techniken des Stimulierens und Modellierens der frühkindlichen sprachlichen Aktivität beschrieben worden (Motsch, 2006). Dazu gehören die sprachliche Begleitung der eigenen Handlungen in Pflege- und Spielsituationen («selftalking»), die parallele Beschreibung kindlicher Intentionen, Gefühle und Bedürfnisse («parallel-talking») und frühe, regelmäßige und interaktiv gestaltete Bilderbuchbetrachtungen (Fletcher & Reese, 2005). Das mehrfach wiederholte Angebot eines begrenzten, auf die alltäglichen Handlungen und Interessen des Kindes und ihm wichtigen Situationen und Personen bezogenen Wortschatzes scheint im zweiten Lebensjahr eine außerordentlich erfolgreiche sprachförderliche didaktische Strategie zu sein (Ellis Weismer & Robertson, 2006; Tracy & Lemke, 2009). Darüber hinaus sind das Singen von Kinderliedern, dialogische Spiele, bei denen das Kind das Abwechseln von Initiative und Reaktion erfährt und das Aufsagen von Reimen, Versen und Fingerspielen didaktische Elemente, die sowohl spontan als auch in wiederkehrenden Situationen, z.B. vor dem Mittagessen oder beim Aufräumen als Rituale installiert werden sollten.

Diese sprachlichen Formate entsprechen nach Nelson (1996) dem «mimetischen Stadium», das Kinder vor dem vierten Lebensjahr kennzeichnet und das durch eine prä-symbolische, handlungsgebundene Repräsentationsweise und den pragmatisch-dialogischen Gebrauch von Sprache charakterisiert ist.

Dass spezifisch gestaltete verbale Interaktionen zwischen pädagogisch Tätigen und Kindern, die eine ausgeprägte dialogische Qualität besitzen, einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren für gelingende Entwicklungs- und Bildungsverläufe auch von Kindern im Kindergartenalter ist, wurde vor allem in den britischen REPEY- und EPPE-Studien (vgl. Siraj-Blatchford et al., 2002; Sylva et al., 2003) dokumentiert. Von besonderer Bedeutung hierbei sind wiederkehrende, intensive gedankliche Austauschprozesse, die je nach Situation vom Kind oder von der pädagogisch tätigen Person initiiert und vom jeweils anderen Gesprächspartner engagiert und mit der Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen, aufgenommen werden. Sie werden als «sustained shared thinking» – anhaltendes gemeinsames Nachdenken – bezeichnet und scheinen die kognitive und sprachliche Auseinandersetzung über die eigenen Handlungen und Vorstellungen massiv zu befördern (vgl. hierzu auch Gauvain & Rogoff, 1989).

Ein gelingender Dialog zwischen pädagogisch tätiger Person und Kind entsteht, wenn diese bereit ist, sich auf die Ebene und Perspektive des Kindes einzulassen und mit ergebnisoffenen Fragen dazu beiträgt, dass ein Handlungs- und Sinnzusammenhang rekonstruiert wird. Nach Siraj-Blatchford et al. (2002) geht es darum, die von Kindern initiierten Gespräche zu erweitern und durch gedankliche Impulse zu vertiefen, um ihnen Gelegenheiten zu bieten,
neue Erkenntnisse und Kompetenzen zu erwerben und die eigenen Lernprozesse zu reflektieren. Wissen wird damit weniger durch Instruktion, sondern durch die gemeinsame, intensive Beschäftigung mit einem Thema generiert. Schweinhart und Weikart (1997) gelang es in umfangreichen Langzeitstudien, nachhaltig positive Effekte von auf Dialogen basierenden Fachkraft-Kind-Interaktionen nachzuweisen.

Pädagogisch Tätige können nur dann als Dialogpartner verfügbar sein und in der beschriebenen Weise zu diesen komplexen kindlichen Bildungsprozessen beitragen, wenn genügend Zeit und Möglichkeiten im Tagesablauf vorhanden sind, um sich einzelnen Kindern oder kleinen Gruppen ungestört zuzuwenden. Eine derart verstandene Pädagogik ist auf angemessene Fachkraft-Kind-Relationen angewiesen, die die Voraussetzung dafür bilden, dass sowohl der Eins-zu-Eins-Kontakt mit Kindern als auch die Arbeit mit nach Entwicklungsstand oder Interesse flexibel zusammengesetzten Kleingruppen regelmäßig realisiert werden können. In großen Gruppen muss darauf geachtet werden, dass sich Untergruppen spontan bilden können oder bewusst für bestimmte Aktivitäten arrangiert werden.

 

Die Pädagogin / der Pädagoge als Arrangeur/in des Bildungsraums Kindertageseinrichtung


Erkenntnis ist in den ersten Lebensjahren eng an aktives Handeln, an Wahrnehmung, Motorik und Versprachlichung gebunden. Das Kind muss selbst aktiv sein können, durch sein Handeln, den Einsatz aller Sinne und körperlicher Empfindungen in Interaktion mit der Umwelt treten. Ist das Weltbild des Kindes in den ersten ein bis zwei Lebensjahren noch ein sensorisch-motorisches, was bedeutet, dass Kleinkinder durch Klettern und Kriechen, Rutschen und Rennen ihr Denken und ihre Sprache weiterentwickeln, entwickelt sich das Denken ab dem zweiten Lebensjahr zunehmend als verinnerlichtes Handeln. Das Entwickeln von Sinn und Bedeutung ist hierbei eine Leistung, bei der Kinder nicht lediglich Vorhandenes abbilden oder übernehmen. Unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen und bekannte kulturelle Sinnkontexte setzen sie sich handelnd, empfindend, denkend und in schöpferischer Form in Bezug zu den Phänomenen ihrer Umwelt und zu anderen Menschen. Vorstellungsmuster und Handlungsmöglichkeiten werden durch kreatives Erproben und Spielen ausdifferenziert, verändert oder völlig verworfen. So konstruieren Kinder Erkenntnisse und Bedeutungen mit immer neuen Facetten und schaffen sich in eigenaktiver Aneignungs- und Ausdruckstätigkeit selbst die Strukturen, die ihr Handeln und Erkennen bestimmen und bereichern (Viernickel, 2000). Die schöpferischen, kreativen Aspekte dieser Bildungsprozesse zeigen sich besonders im symbolischen Spiel und der Fantasietätigkeit.

Nach Hohmann und Weikart (1995) brauchen Kinder für dieses aktive Lernen die Möglichkeit, unmittelbare Erfahrungen in ihrer Umwelt machen zu können. Die Rolle der Erwachsenen besteht nun darin, für diese Lerngelegenheiten zu sorgen und ihnen einen breiten Erfahrungsreichtum zu ermöglichen. Schäfer (2005) formuliert, dass Kinder in einer anregenden Lernumgebung nicht motiviert werden müssen, sie ergreifen selbst die Initiative.

Pädagoginnen und Pädagogen haben die Aufgabe und Verantwortung, durch Raum- und Zeitgestaltung eine Lebenswelt in der Kindertageseinrichtung zu schaffen, die den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entspricht und ihnen Gelegenheiten für differenzierte Wahrnehmungen, interessante und herausfordernde Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten sowie forschendes Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski, 1987) gibt. Diese Lebensumwelt ist auch eine eigene Bildungs- und Lernkultur, die kulturelle Praktiken, Kommunikations- und symbolische Ausdrucksformen repräsentiert, praktiziert und anbietet. Durch Auswahl von Materialien, Büchern und Angeboten entstehen Möglichkeiten, kulturelle Kompetenzen zu entwickeln und damit an Kultur und Gesellschaft teilhaben zu können. Die pädagogisch Tätigen treffen hier Entscheidungen, wie Kindern Welt gezeigt werden soll (vgl. Mollenhauer, 1983, S. 52ff.), und Kinder orientieren sich an eben jenen Sinngebungen und Strukturierungen, die diese – vor allem im Kontext tragfähiger emotionaler Beziehungen – ihnen anbieten. Sie enthalten zu einem großen Teil gesellschaftlich anerkannte und konsensfähige Übereinkünfte, sodass ein Kind über diesen Weg auch permanent mit den Normen, Regeln, Wissensbeständen und Praktiken seines Kulturkreises bzw. Lebensraumes in Berührung kommt.

Kulturelle Bildung bedeutet in diesem Sinne nicht in erster Linie die Beschäftigung mit Kulturgütern, sondern das «Hineinwachsen, Wahrnehmen und sich Auseinandersetzen mit kulturellen Lebensformen und Sinngestaltungen in ihrer Form- und Bedeutungsvielfalt» (vgl. Stenger, 2010, 51). Die kulturell geprägten Praktiken, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster (Begrüßungen, Essen, Morgenkreise, Tagesrhythmen ...) werden ebenso wie die Kulturtechniken des Erzählens, Lesens, Schreibens, Ordnens, Vergleichens oder Rechnens für Kinder in Alltagssituationen erfahrbar und als eigene Erfahrungen verarbeitbar. Parallel hierzu sind sie an der gemeinsamen Konstruktion kulturellen Sinns über die Medien bildnerischen Gestaltens, der Musik oder der Sprache direkt und unmittelbar beteiligt.

Das Schaffen von anregenden Lernumwelten bezieht sich demnach nicht nur auf die physischen, also räumlichen und materiellen Gegebenheiten, sondern auch auf die interaktiven. Es müssen ausreichend Gelegenheiten vorhanden sein, um mit Kindern und Erwachsenen in einen intensiven Austausch zu treten, und darüber neue Erfahrungen zu machen. Hohmann und Weikart (1995) betonen die Bedeutung der Gleichzeitigkeit von anregender materieller und intellektueller Umwelt («physical and intellectual environment»). Dies wiederum setzt auf Seiten der Erzieherinnen und Erzieher eine reflektierte pädagogische Planung und eine systematische Beobachtung der kindlichen Entwicklungsverläufe voraus.

Jedes Kind ist in gewisser Weise einzigartig in seinem Zugriff auf Weltphänomene, seine aktuellen Bedürfnisse und Interessenslagen. Zur Planung und Gestaltung von Bildungsangeboten ist die Kenntnis von typischerweise von Kindern eines bestimmten Entwicklungsalters zu erwartenden Themen bzw. Entwicklungsschritten zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Basis. Um Kinder mit ihren individuellen Zugängen wahrzunehmen und um ihre Themen erkennen und beantworten zu können, bedarf es genauer und regelmäßiger Beobachtungen sowie ihrer Dokumentation und Auswertung. Siraj-Blatchford et al. Sprechen vom «framing» (2002, S. 24ff.), als pädagogischem Rahmen, zu dem unter anderem die Beobachtung der kindlichen Aktivitäten und darauf aufbauend die Gestaltung des pädagogischen Alltags sowie das Angebot von Projekten gehören.

Beobachten und Dokumentieren müssen deshalb als Fachaufgaben einen festen Platz im Arbeitsalltag haben. Ergänzend zur Achtung der Persönlichkeit eines jeden Kindes und seiner individuellen Zugänge sind die jeweilige Lebensgeschichte und Lebensbedingungen einzubeziehen, die sich aus einer Mischung zahlreicher Komponenten zusammensetzen wie der Familienkonstellation und dem Umgangs- und Erziehungsstil in der Familie, ihrer sozioökonomischen Situation, ihrer Einbindung in soziale Netzwerke und dem kulturellen Hintergrund.

Dabei gilt der Grundsatz, Unterschiede anzuerkennen und als Potenziale zu verstehen. Der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Familien kommt deshalb ebenfalls eine besondere Bedeutung im Kontext der erfolgreichen Umsetzung des Bildungsauftrages zu.

Die Basis bildungsförderlicher Arrangements in Kindertageseinrichtungen bildet demnach das Zusammenspiel von Wissen über die Bildungsfähigkeit und eigenaktive Aneignungstätigkeit junger Kinder, der spezifischen Kenntnis der individuellen Voraussetzungen, Interessen und Themen jedes einzelnen Kindes und seines familiären Hintergrundes sowie eines im Team immer wieder auszuhandelnden und weiter zu entwickelnden Konsenses über zentrale pädagogische Leitlinien und Ziele, die gleichzeitig Entscheidungen darüber nach sich ziehen, welche Ausschnitte bzw. Entwürfe von «Kultur» und «Gesellschaft» Kindern in der Tageseinrichtung gezeigt werden sollen. Aus diesem Anforderungsprofil ergibt sich zwingend, dass ein gewisser Anteil der Arbeitszeit auf Tätigkeiten entfallen muss, die für dessen Erfüllung notwendig und zielführend sind, also Zeit, die für sogenannte mittelbare pädagogische Arbeitsaufgaben anfällt und zur Verfügung gestellt werden muss, wie das Beobachten und Dokumentieren, die Zusammenarbeit mit Familien oder den fachlichen Austausch im Team.