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Individuelle Förderung und Selbstkompetenz-Entwicklung

Inhaltsverzeichnis

  1. Potenziale und Kompetenzen
  2. Individuelle (Früh-)Förderung
  3. Ressourcenorientierung
  4. Kultur der Anerkennung
  5. Fazit
  6. Literatur

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Ko-AutorInnen dieses Beitrag:


Jedem Kind sind Begabungen gegeben. Diese Begabungen sind vielfältig und unterschiedlich.  Aufgabe von PädagogInnen ist es, dieser Unterschiedlichkeit im pädagogischen Handeln Rechnung zu tragen. Die Unterstützung des Einzelnen bei der Entfaltung seiner individuellen Begabungen ergibt sich zuallererst aus der Wertschätzung seiner Persönlichkeit. Sie ist aber auch eine Antwort auf gesellschaftliche Notwendigkeiten in einer demografisch bedenklichen Situation. Die zukünftig immer weniger werdenden Kinder und Jugendlichen müssen so gut wie möglich gebildet und ausgebildet sein.

 

Ein geeignetes Mittel zur Unterstützung der Begabungsentfaltung ist die individuelle Förderung. Dabei geht es um die Persönlichkeitsentwicklung eines jeden Kindes. Dies trägt dazu bei, dass die Umsetzung von Begabungspotenzialen in individuelle Leistung verbessert wird. Wie der Begriff der individuellen Förderung nahelegt, spielt hier das Verhältnis von PädagogIn und Kind eine zentrale Rolle. Die PädagogInnen sind es, die Begabungen erkennen, förderliche Umgebungen schaffen müssen und vieles mehr. Die Kinder sind aktive Mitgestalter derartiger Prozesse. Ihr Verhältnis zur ErzieherIn oder Lehrkraft bestimmt maßgeblich den Lernprozess. Diese PädagogIn-Kind-Beziehungen deutlicher als bisher zu beleuchten, ist vor allem auch deshalb notwendig, weil es bestimmter Voraussetzungen bedarf, um Begabungen in Leistung umzusetzen. Eine Voraussetzung ist die Entwicklung von Selbstkompetenzen.


 

Um Fähigkeitspotenziale ausschöpfen zu können, bedarf es bestimmter persönlicher Kompetenzen


Aufgrund der individuellen Verschiedenheit von Begabungen ist es notwendig, eine breit angelegte Definition zugrunde zu legen. Dies gilt in besonderem Maße für die Begabungsförderung in der Elementar- und Primarpädagogik, da wir es hier mit Kindern in Altersgruppen zu tun haben, deren Fähigkeiten entwicklungsbedingt noch nicht festgelegt sind, aber auch im Hinblick auf ein immer wieder angemahntes chancengerechtes Bildungssystem.


Begabungen können recht allgemein als »Fähigkeitspotenziale« (Heller/Perleth 2007: 141) bezeichnet werden, die nicht Fertigkeiten oder Kompetenzen an sich beschreiben, sondern nur die Möglichkeit zu diesen. Als Beispiel für ein mehrdimensionales, typologisches Modell sei das Münchener Begabungsmodell vorgestellt (Heller/Perleth 2007: 143; Abb. 1). Hier ist deutlich zu sehen, dass es vieler Voraussetzungen bedarf, damit Begabung in Leistung umgesetzt wird:

Abb Begabungsmodell

 


Heller und Perleth (2007) sehen Begabungsentwicklung als kontinuierlichen Interaktionsprozess zwischen internen Anlagefaktoren und externen Sozialisationsfaktoren. In dem Modell wird deutlich, dass die Entfaltung von Begabungen sowohl von Persönlichkeitsmerkmalen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst wird. Die Selbstkompetenzen finden sich im Münchner Begabungsmodell als nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale (obere Leiste der Grafik). Man kann auch die (Lern-)Umweltfaktoren (untere Leiste der Grafik) so organisieren, dass sie für die Förderung von Persönlichkeitsmerkmalen relevant werden; dies machen die Pfeile in der Grafik ebenfalls deutlich. Deshalb ist die individuelle Förderung mit ihren besonderen Ansätzen und Methoden vor allem im Hinblick auf den Bildungsauftrag der Schule hier von Bedeutung.

Die folgenden Themen werden vor dem Hintergrund dieser Faktoren behandelt, vor allem der nicht kognitiven Persönlichkeitsmerkmale, da deren Förderung maßgeblich von der Qualität der Beziehungen zwischen PädagogInnen und Kindern beeinflusst wird.

 


 

Individuelle (Früh-)Förderung als Beitrag zur Fähigkeitsentfaltung und Persönlichkeitsentwicklung


So wie es wichtig ist, die Gleichwertigkeit aller Begabungen anzuerkennen, ist es unerlässlich, jedes einzelne Kind in Kindertagesstätte und Grundschule in den Blick zu nehmen. Entsprechend gilt die individuelle Förderung im Kontext einer »Bildung für alle« seit einigen Jahren national und international als Qualitätsindikator von Bildungsreformen. Sie ist Bestandteil des Bildungsauftrags (z.B. Forum Bildung 2002). Inzwischen ist eine verbesserte individuelle Förderung als zentrale Leitlinie in Bildungs-und Orientierungsplänen und in Erlassen bzw. Schulgesetzen in zahlreichen Bundesländern verankert.

Bemerkenswert ist in vielen Veröffentlichungen zur individuellen Förderung das überaus hohe Ziel der optimalen Entfaltung von Begabungen und der Nutzung von Chancen (Klafki 2002; Bönsch 2004; Braun/Schmischke 2006). Gleichwohl mangelt es bildungspolitisch – zum Teil auch von Seiten  der Wissenschaften – an der Konkretisierung dessen, was dies bedeutet und wie man diese optimale Förderung umsetzen und in Bezug auf ihren Erfolg überprüfen kann. Allzu häufig findet sich statt eines Blickes auf die Individualität doch eher einer auf (scheinbar) homogene Gruppen. In derSchule ist noch immer die triviale wie langlebige Dreiteilung nach fachlichem Leistungsvermögen verbreitet, d.h. den »Leistungsschwachen« werden die »besonders Begabten« (und nicht die »Leistungsstarken«) gegenübergestellt; das sogenannte »Leistungs-Mittelfeld« wird zwar genannt, scheint in Bezug auf Förderung aber unberücksichtigt zu bleiben. In der Kita werden beispielsweise die Lauten den Stillen, die Aktiven den Ruhigen gegenübergestellt. Auch hier bleiben Varianzen zwischen diesen beiden Polen unberücksichtigt. Dies hat Konsequenzen auch für die Beziehung zwischen PädagogIn und Kind.

Individuelle Förderung muss definiert werden

PädagogInnen können nicht auf eine eindeutige Definition von individueller Förderung zurückgreifen und deshalb wird häufig das aus den zahlreichen Veröffentlichungen »herausgepickt«, was gerade ins (Kita-) Konzept oder (Schul-)Profil passt, oder das, was nicht zu viele Reformen nach sich zieht. Dabei wird nicht selten eher einseitig auf Voraussetzungen für Leistungserbringung eingegangen. In der Schule steht im besten Fall beispielsweise die Gestaltung der Lernumgebung im Vordergrund. Die Persönlichkeitsmerkmale, wie etwa die Selbstkompetenzen, stehen seltener im Fokus der Förderung oder werden gar als »Bringschuld« der SchülerInnen angesehen, die diese Kompetenzen in der frühen Sozialisation bereits erworben haben müssten, um überhaupt »beschulbar« zu sein (vgl. Kunze/Solzbacher 2008).

Um die Möglichkeiten individueller Förderung möglichst in vollem Umfang pädagogisch umsetzen zu können, bedarf es deshalb zunächst der Beschreibung dessen, was die einzelne ErzieherIn und Lehrkraft unter individueller Förderung versteht. In der Forschungsstelle Begabungsförderung des nifbe wird individuelle Förderung aus den oben genannten Gründen wie folgt definiert:

Unter individueller (Früh-)Förderung werden alle Aktivitäten von PädagogInnen verstanden, die mit der Intention erfolgen, die Persönlichkeitsentwicklung und die Entfaltung der Fähigkeiten und Begabungen eines jeden Kindes zu unterstützen. Ausgangspunkt sind die Lebenswelt des Kindes, seine spezifischen Bedürfnisse und die Bewältigung seiner Entwicklungsaufgaben. Grundlegend sind die PädagogIn-Kind-Beziehung und deren Reflexion. Individuelle Förderung orientiert sich an den Ressourcen des Kindes. Grundorientierung ist der Respekt vor Vielfalt (Diversity). Ziel ist die Umsetzung eines ganzheitlichen Bildungsanspruchs. Die Professionalität der PädagogIn besteht darin, eine geeignete Lernumgebung zu arrangieren, die das Kind anregt, seine Entwicklung selbsttätig zu gestalten.

Dies soll im Folgenden im Hinblick auf unser Thema weiter verdeutlicht werden, denn die Umsetzung in die Praxis bedarf einer bestimmten »Grundhaltung« und passender Instrumente und Methoden.

 


 

Von ressourcenorientiertem pädagogischem Denken ausgehen und Verschiedenheit anerkennen


In der nifbe-Forschungsstelle Begabungsförderung wird derzeit die Praxis individueller Förderung in Kita und Grundschule erforscht. Die Ergebnisse der ersten Studie zeigen, dass individuelle Förderung in dem von uns definierten Sinne in Kindertagesstätten einen wichtigen Stellenwert einnimmt (Behrensen/Sauerhering/Solzbacher/Warnecke 2011). Das Handeln von ErzieherInnen orientiert sich entscheidend daran, die Entwicklung und das Lernen jedes einzelnen Kindes in seiner individuellen Art und seinem eigenen Tempo zu unterstützen. Den ErzieherInnen ist bewusst, dass es hierfür maßgeblich auf eine gelungene Beziehung zum Kind ankommt. Erkennbar ist auch, dass sie mit ihrer professionellen Sicht auf die einzelnen Kinder deren jeweiligen individuellen Entwicklungsverlauf differenziert betrachten können. Dies gilt insbesondere für die Frage, wie die Fähigkeiten der einzelnen Kinder eingeschätzt werden. Erkennbar ist der verbreitete Wunsch, die Kinder nicht entlang ihrer Defizite zu betrachten, sondern von ihren Ressourcen auszugehen.

Im Widerspruch zu dem von ErzieherInnen geäußerten Wunsch, ressourcenorientiert zu denken und zu handeln, steht der empirische Befund, dass eher defizitorientierte als ressourcenorientierte Beobachtungsinstrumente eingesetzt werden. Das kann daran liegen, dass ressourcenorientierte Beobachtungsverfahren (wie Bildungs- und Lerngeschichten oder die Leuvener Engagiertheitsskala) deutlich weniger vorhanden und zumeist aufwendiger in der Handhabung sind als defizitorientierte Verfahren (wie viele standardisierte Beobachtungsbögen). In Schulen sieht der Befund ähnlich aus, wenn diese überhaupt (systematische) Beobachtungsverfahren einsetzen. Zugleich hat der Blick auf die Defizite der Kinder in Kitas ebenso wie in Schulen eine lange Tradition. Für individuelle Begabungsförderung wäre es wichtig, noch einen Schritt weiterzugehen, und sich von der Diskussion um Defizitorientierung versus Ressourcenorientierung zu verabschieden und sich stattdessen der Anerkennung von Verschiedenheit zu widmen. Dieser Blickwechsel würde es ermöglichen, den individuellen Entwicklungsprozess des Kindes in den Blick zu nehmen. Die für Kind, Eltern und PädagogIn häufig belastende Orientierung an einem idealtypischen Entwicklungsverlauf könnte aufgegeben werden. Zugleich könnten Entwicklungsherausforderungen kontextualisiert betrachtet und berücksichtigt werden, wie das oben dargestellte Münchner Begabungsmodell es nahelegt. Damit wird es dann auch möglicherweise leichter, individuelle Entwicklungsverläufe in den Blick zu nehmen und Förderpläne unter Berücksichtigung der Stärkung der Persönlichkeitsmerkmale zu konzipieren, damit Kinder ihre Begabungspotenziale voll zur Entfaltung bringen können. Geringe Selbstkompetenzen als Ursachen für eine eingeschränkte oder nicht begabungsgerechte Leistungsentfaltung mitzudenken, kann demnach als pädagogische Herausforderung betrachtet werden und sollte von ErzieherInnen und LehrerInnen als Teil des pädagogischen Auftrags betrachtet werden, sofern das noch nicht der Fall ist.

 


 

Selbstkompetenzen fördern durch herausfordernde Lernumgebungen und eine Kultur der Anerkennung

Der Begriff »Selbstkompetenzen« umfasst eine enorme Spannbreite, sowohl in der Psychologie als auch in der Pädagogik. Komponenten der Selbstkompetenz sind beispielsweise Selbstvertrauen, Selbstmotivation und Frustrationstoleranz (vgl. Aufsatz von Kuhl et al. in diesem Band). In der Tradition der (Schul-)Pädagogik ist die Selbstkompetenz ebenso wie die Sach-, die Sozial- und die Methodenkompetenz eine von vier Kompetenzen, die gemeinsam die Lernkompetenz bilden. Die Lernkompetenz wird als grundlegende Voraussetzung für das lebenslange Lernen verstanden (vgl. Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt 2002). Wir gehen allerdings davon aus, dass der Lernerfolg mit der Selbstkompetenz viel enger verzahnt ist als mit den anderen drei Kompetenzen, weil Lernen die Beteiligung des Selbst voraussetzt (vgl. z.B. Kuhl/Hüther 2007). Selbstkompetenz liegt demzufolge nicht auf der gleichen Ebene wie die Sach-, die Methoden- und die Sozialkompetenz, sondern kann als Basiskompetenz betrachtet werden. Derzeit wird jedoch sowohl im elementar- als auch im schulpädagogischen Diskurs eher die Methodenkompetenz betont (Bayerisches Staatsministerium 2006; Gisbert 2004; Klippert/Müller 2010). Hier wird die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens vor allem auf den Erwerb von Lerntechniken reduziert, während die Bedeutung des Aufbaus von Selbstkompetenz eher unterschätzt wird.

Die Grundlagen für die Selbstkompetenz werden zwar in den frühen Phasen des kindlichen Lebens erworben, sie kann aber auch später ausgebaut werden. Damit sind auch die Beziehungen zu PädagogInnen im institutionellen Rahmen, beispielsweise zu ErzieherInnen und LehrerInnen von prägender Bedeutung (vgl. dazu Giesecke 1999 und Schweer 2008). Die Qualität professioneller pädagogischer lässt sich unter folgenden gemeinsamen (!) Aspekten betrachten:

  • der Bindungs- bzw. Beziehungsqualität (im Sinne von Bindungssicherheit in Anlehnung an die Bindungstheorie bietet die Beziehung eine »sichere Basis« zur Exploration)
  • der Interaktionsqualität (d.h. Sensitivität/Feinfühligkeit/Warmherzigkeit der Fachkraft in der Interaktion mit einzelnen Kindern und mit der gesamten Gruppe)
  • der Stabilität der Beziehung (d.h. Dauer, Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Kontakte)
  • der Involviertheit bzw. das Engagement der Fachkraft in Kontaktsituationen mit dem Kind (Intensität als quantitative Dimension, zählbar z.B. als Dauer und Häufigkeit der Sprechakte)(vgl Schwer 2011).

Immer wieder können PädagogInnen Situationen schaffen, in denen Kinder sich als selbstkompetent erleben. Dieses geschieht z.B., wenn Kinder bei der Bewältigung von Schwierigkeiten sensibel begleitet werden, seltener wenn ihnen Lösungen vorgegeben oder alle Probleme aus dem Weg geräumt werden. Dies drückt sich auch in der folgenden Arbeitsdefinition unserer Forschungsstelle aus:

Die Entwicklung von Selbstkompetenz ist als lebenslanger Prozess zu verstehen. Selbstkompetenz bezeichnet die Fähigkeit, in sich verändernden Zusammenhängen motiviert und aktiv gestaltend handeln zu können. Für den Aufbau von Selbstkompetenz sind (professionelle) pädagogische Beziehungen ebenso von zentraler Bedeutung wie die Gestaltung der Lernumgebung. Die Handlungsfähigkeit des Einzelnen hängt entscheidend von der Fähigkeit ab, Wissen und Emotionen miteinander zu verbinden. Eine hohe Selbstreflexivität ist dabei unabdingbar.


Selbstkompetenzförderung wird somit von zwei Komponenten maßgeblich beeinflusst: zum einen von der Gestaltung der Beziehung zwischen PädagogIn und Kind, zum anderen durch die Gestaltung einer anregenden Lernumgebung. Diese beiden Bereiche sind im tatsächlichen Miteinander nicht zu trennen.


Konstruktivistische PädagogInnen gehen z.B. mit der Kommunikationswissenschaft (vor allem mit Watzlawick 1967) seit Langem von der Erkenntnis aus, dass Unterricht sich nicht nur auf der Sachebene, sondern immer auch – mit dieser verbunden – auf der Beziehungsebene abspielt, wobei die Beziehungsebene die Sachebene dominiert: Lehrer und Schüler begegnen sich zunächst als Persönlichkeiten; sie beurteilen sich gegenseitig aufgrund persönlicher Werte (vgl. Stevens 2001). Unterricht hat also zuallererst eine zwischenmenschliche und erst dann eine institutionelle bzw. professionelle »Bedeutung«: Erst im zweiten Schritt sehen sich LehrerInnen und SchülerInnen in ihren Funktionen und Rollen.

Daraus erwachsen der Gestaltung von Lernprozessen vielfältige neue Anforderungen – auch für Bildungsprozesse in Kitas. Die Praxis des Lehrens und Lernens ist dann der »kommunikative Versuch der Ermöglichung der beabsichtigten Lernprozesse, der Anbahnung und Anleitung von Können und Verstehen« (Hermann 2003: 633), u.a. durch den gezielten Ausbau von Selbstkompetenz und nicht – wie die Standarddiskussion dies mitunter suggeriert – eine »Technik des Herstellens und Verteilens von Wissen«.

Die Entwicklung von Selbstkompetenz hängt davon ab, ob Lernen selbstwirksam ist. Lernen ist selbstwirksam, wenn Kinder eigenaktiv werden und für sich eine persönliche Bedeutung zu den Lerninhalt herstellen (vgl. dazu Kuhl et al. in diesem Band). Selbstwirksames Lernen ist nur dann möglich, wenn Erfolgserfahrungen bei der Bewältigung ansprechender und herausfordernder Aufgaben gemacht werden können. Die Gestaltung der Lernumgebung kann also einen positiven Einfluss auf die Selbstkompetenzentwicklung nehmen, wenn Konzepte zum Tragen kommen, die die Kinder zur Eigenaktivität anregen. In solchen Lernsettings wird das Kind aufgefordert, sich Ziele zu setzen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Der Freiraum, der SchülerInnen dabei eingeräumt wird, wurde in Untersuchungen als besonders bedeutsam für die Entwicklung des Selbstkompetenz angesehen (vgl. dazu Renkl/ Helmke/Schrader 1997: 382). Der sinnvolle Einsatz geeigneter Methoden in der Kita und im schulischen Unterricht kann den Kindern Räume eröffnen, Erfolgserlebnisse zu haben und mit Misserfolgen umzugehen (z.B. bei der Projektarbeit oder der Wochenplanarbeit). Gelingt es, bei den Interessen und Fähigkeiten der Kinder anzuknüpfen, also eine persönliche Bedeutung der Lerninhalte für die Kinder zu eröffnen, wirkt sich dies entscheidend auf die Motivation der Kinder aus.

Ich-Stärke wird maßgeblich im Dialog erlernt. Achtung, Wärme, Rücksichtnahme sowie emphatisches Verstehen, Echtheit und Aufrichtigkeit schaffen Vertrauen und Respekt als wichtige Grundlagen für gelungene Lehrer-Schüler-Beziehungen (vgl. Tausch/Tausch, die zahlreiche Studien zum Lehrerverhalten seit den 1950/60er Jahren durchgeführt haben) und auch ErzieherIn-Kind-Beziehungen. Es ist insbesondere die Erfahrung, wertgeschätzt zu werden, die das Selbstvertrauen in das eigene Begabungspotenzial und dessen Umsetzung in individuelle Leistung beeinflusst. Positiv unterstützt wird dies z.B. durch Konzepte wie die »Bildungs-und Lerngeschichten«, in denen das Kind u.a. positive Rückmeldungen auf seine Entwicklung erhält – Ressourcenorientierung ist hierbei das entscheidende Stichwort. Des Weiteren ist die Nutzung neuer Formen der Leistungsbewertung in der Schule zu nennen, etwa Lernentwicklungsberichte, Portfolios, Lerntagebücher oder Schülerselbst- und -mitbewertungen. Darüber kann und sollte mit den Kindern in einen Dialog über deren jeweilige Lernfortschritte getreten werden, ebenfalls mit dem Ziel, für die (Lern-)Entwicklung Notwendiges respektvoll zu kommunizieren. Dann kann dass Kind spüren: »Ich bin gemeint«. In Lernentwicklungsberichten z.B. kann deutlich gemacht werden, dass Frustrationstoleranz sich lohnt und geschätzt wird. Auch Feedbackverfahren, wie Zwischenberichte oder Gespräche, können als sehr wertschätzend und motivierend erlebt werden und zum »Durchhalten« ermutigen. Eine gute Feedback-Kultur ist ein wichtiger Teil einer Kultur der Anerkennung. Dazu gehören auch Rituale des gemeinsamen Feierns von Erfolgen. Es gilt, an den Schulen eine Lernkultur und eine Lernumgebung zu schaffen, die den SchülerInnen Möglichkeiten eröffnet, ihre Selbstkompetenzen zu erweitern.

Dies ist in Kitas aufgrund ihres Auftrags der Erziehung, Bildung und Betreuung zunächst anders. Hier sind Bindungen und Beziehungsarbeit als pädagogische Mittel explizit verankert. Durch die stärkere Betonung des Bildungsauftrags muss jedoch in der Kita die Bedeutung der Beziehungsarbeit noch deutlicher im Hinblick auf Lernen und Bildung reflektiert werden. Die Beziehungsqualität zwischen LehrerIn/ErzieherIn und Kind kann als Indikator für das Leistungs- und Entwicklungsvermögen eines Kindes in der jeweiligen Bildungsinstitution gelesen werden. Je nachdem, wie Persönlichkeits- und Fähigkeitsmerkmale wahrgenommen und gefördert werden, können sich Kinder entwickeln. Durch entsprechende Beziehungserfahrungen werden sie mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl auf kognitiver als auch emotionaler Ebene angesprochen.

Hier wird der Zusammenhang zwischen den eingangs genannten Bedingungen für die Entwicklung von Selbstkompetenzen, authentische Beziehungsgestaltung und anregend gestaltete Lernumgebung, nochmals deutlich. Professionelles pädagogisches Handeln zeichnet sich durch eine immer wieder auszutarierende Passung dieser beiden Komponenten aus. Das Ziel ist die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung, die bestimmt ist vom Grundsatz gegenseitiger Wertschätzung und der Ablehnung von Diskriminierung sowie Zielen der Integration und Partizipation. Auf diesbezügliche (evaluierte) Förderansätze kann derzeit nicht zurückgegriffen werden, sodass Kitas und Schulen strukturierte beziehungssensible Förderung selbst konzipieren und erproben müssen.

 


 

Fazit: Professionelle Beziehungen brauchen geeignete strukturelle Rahmenbedingungen


Damit Beziehungen in Institutionen gelingen, bedarf es einer pädagogischen Haltung,4 die auf fundierten Kenntnissen kindlicher Entwicklungsund Bildungsbedingungen basiert und der kontinuierlichen Reflexion unterliegt. Diese Reflexion umfasst sowohl die Dimension der Beziehungsgestaltung als auch das Wissen um das einzelne Kind mit seinen spezifischen Entwicklungs- und Lernbedingungen. Unterstützt wird dies durch entsprechende Formen der kollegialen Zusammenarbeit. Dafür benötigen LehrerInnen und ErzieherInnen einen entsprechenden institutionellen Rahmen, der ihnen Zeit für die Beziehungsgestaltung, die Auswahl und Anwendung der passenden Methoden und Instrumente, Zeit für notwendige Fortbildung und auch für die kollegiale Zusammenarbeit bietet. Auch die ErzieherInnen und LehrerInnen benötigen eine Kultur der Anerkennung.


Beeinflusst wird das pädagogische Handeln durch das Wissen darum, dass sich Kinder unterschiedlich verhalten und unterschiedliche Formen der Ansprache, Unterstützung und Nähe brauchen. In der Elementarpädagogik wird der Beziehungsaufbau unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der Kinder thematisiert. So gibt es beispielsweise ausführliche Eingewöhnungsprogramme, die den Kindern den Übergang von der Familie in die erste Bildungsinstitution erleichtern sollen. Auch in der Schule spielt die LehrerIn-Kind-Beziehung für das pädagogischeHandeln eine wichtige Rolle, aber strukturell besteht die Aufgabe der LehrerIn auch darin, Wissen zu vermitteln und Leistungen zu beurteilen. Die hieraus resultierenden Zwänge stehen einer aus pädagogischer Sicht als notwendig erachteten Beziehungsarbeit oft im Wege. Die einzelne GrundschullehrerIn muss die Erfüllung des Bildungsauftrags mit ihrem Selbstverständnis als PädagogIn vereinbaren.


Als hinderlich für eine Beziehungskultur als Grundlage für eine verbesserte individuelle Förderung werden in unseren Studien sowohl von den AkteurInnen in der Kita als auch von der Grundschule deshalb auch immer wieder die institutionellen Rahmenbedingungen genannt. Die ErzieherInnen klagen beispielsweise über die Gruppengröße oder die geringe Anzahl an Vor- und Nachbereitungsstunden, die zudem mit einer Vielzahl von organisatorischen Aktivitäten gefüllt sind. Von LehrerInnen wird ebenfalls die Klassengröße als Problem genannt. Erstaunlich häufig werden in den Schulen auch die räumlichen Bedingungen als unzureichend erlebt; dadurch sind die Möglichkeiten der Kleingruppenarbeit eingeschränkt und zuweilen ist es der LehrerIn im überfüllten Klassenraum kaum mehr möglich, zu einzelnen Kindern zu gelangen. Hinzu kommt der Auftrag im Rahmen der Schullaufbahnempfehlungen, die Kinder in das dreigliedrige Schulsystem einzuordnen und damit auch zu hierarchisieren. Rahmenbedingungen dieser Art können zum Hemmschuh für individuelle Förderung werden, da sie den Aufbau von echten (professionellen) Beziehungen beeinflussen. Hinzu kommen systemimmanente »institutionelle Verstörungen« (Bönsch 2001: 898), die »hierarchische Beziehungen, die der Echtheit entbehren« (ebd.), schaffen. Beziehungen werden teilweise nur noch sehr formalisiert durchgeführt und erlebt – mit Konsequenzen für PädagogIn und Kind.


Man muss also davon ausgehen, dass die Beziehungskulturen in Kita und Schule extrem von den strukturellen Möglichkeiten der Institutionen geprägt werden. Es muss auch aus diesem Grund dafür gesorgt werden, dass PädagogInnen bei den zahlreichen neuen und zum Teil sehr widersprüchlichen Ansprüchen, die an sie herangetragen werden, von Seiten der Bildungspolitik und der Wissenschaft die größtmögliche Unterstützung und Anerkennung erhalten. Als derartige Widersprüche werden z.B. immer wieder im Bereich der Schule der bildungspolitische Anspruch der Standardisierung auf der einen Seite und der Anspruch der individuellen Förderung auf der anderen Seite genannt. Für Kindertageseinrichtungen erscheint der Ruf nach mehr oder anderer Professionalisierung zum Teil als zeitlich uneinlösbar und mitunter überfordernd, was ebenfalls das Beziehungsverhalten schwächen könnte. Fest steht: Aus den aktuell sehr zahlreichen Reformen in beiden Institutionen ergeben sich eine Reihe neuer Anforderungen an eine institutionalisierte (Früh-)Förderung und an die Schule.


Dass es aufgrund der Rahmenbedingungen (wie Zeit und Personal) nicht immer gelingt, die spezifischen Potenziale aller Kinder gleichermaßen aufzudecken und zu berücksichtigen, wird dabei von vielen ErzieherInnen und Lehrkräften selbstkritisch reflektiert. Das Ziel allerdings wird anerkannt.


Bei der Umsetzung des Auftrags verstärkter Wahrnehmung und Förderung individueller Begabungen ist die Beziehungskompetenz ein Schlüsselelement. Sie ist Grundlage für das Erkennen von Begabungen und bei den Kindern Grundlage für die Entwicklung von Selbstvertrauen und den Glauben an die eigenen Fähigkeiten. Eines steht nämlich fest: Welche Bildungs- und Erziehungsziele auch immer gesellschaftlich diskutiert und favorisiert werden, welche Methoden und Instrumente man dafür als geeignet empfiehlt – alles muss über die pädagogische Beziehung, das persönliche Verhältnis vermittelt werden. Hierfür gibt es noch keine überzeugende Theorie (vgl. dazu Giesecke 1999): Wie geht man mit der Forderung nach Echtheit und Nähe um bei der gleichzeitigen zeitlichen Begrenztheit des pädagogischen Verhältnisses? Wie viel Emotionalität muss sein und wie viel kann ich aushalten, ohne immer wieder traurig zu sein, wenn ein Kind die Institution verlässt etc.? Ist in der Schule vielleicht aus solchen Gründen sehr selten die Rede von Emotionalität? In welchem Verhältnis muss Emotionalität zu einer ebenfalls notwendigen Distanz stehen? Kurz: Wie muss die pädagogische Beziehung gestaltet werden, damit das große Potenzial, das sie für die Entfaltung sichtbarer und verborgener Begabungen hat, genutzt werden kann? Was muss innerhalb einer gut funktionierenden Beziehung geschehen, wenn begabungsrelevante Kompetenzen gefördert werden sollen? Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.

 


 

Literatur

  • Arbeitsstab Forum Bildung (Hrsg.) (2002). Empfehlungen und Einzelergebnisse des Forum Bildung. Ergebnisse des Forum Bildung II. Bonn. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (2006).

     

  • Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Berlin, Düsseldorf.

 

  • Behrensen, B./Sauerhering, M./Solzbacher, C./Warnecke, W. (2011). Das einzelne Kind im Blick: Individuelle Förderung in der Kita. Freiburg: Verlag Herder.

 

  • Bönsch, M. (2001). Das Lehrer/in-Schüler/in-Verhältnis. In: L. Roth (Hrsg.), Pädagogik-Handbuch für Studium und Praxis. 2., überarb. und erw. Aufl. München: Oldenbourg.

 

  • Bönsch, M. (2004). Intelligente Unterrichtsstrukturen. Eine Einführung in die Differenzierung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

 

  • Czerwanski, A./Solzbacher, C./Vollstädt, W. (2002). Förderung von Lernkompetenz in der Schule. Recherche und Empfehlungen. Band 1. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

 

  • Faust-Siehl, G. (1996). Die Zukunft beginnt in der Grundschule: Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarstufe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

 

  • Giesecke, H. (1999). Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die Emanzipation des Kindes, 2. Aufl. Weinheim und München: Juventa.

 

  • Gisbert, K. (2004). Lernen lernen: Lernmethodische Kompetenzen von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim u.a.: Beltz.

 

  • Heller, K./Perleth, C. (2007). Talentförderung und Hochbegabtenberatung in Deutschland. In: K. Heller/A. Ziegler (Hrsg.), Begabt sein in Deutschland. Berlin u.a.: Lit.

 

  • Herrmann, U. (2003). Bildungsstandards – Erwartungen und Bedingungen, Grenzen und Chancen. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 49, S. 625–639.

 

  • Klafki, W. (2002). Schultheorie, Schulforschung und Schulentwicklung im politischgesellschaftlichen Kontext. Weinheim u.a.: Beltz.

 

  • Kuhl, J./Hüther, G. (2007). Das Selbst, das Gehirn und der freie Wille. Kann man Selbststeuerung auch ohne Willensfreiheit trainieren? In: Pädagogik, H. 11, S. 36–41.

 

  • Kunze, I./Solzbacher, C. (2008). Individuelle Förderung in der Sekundarfstufe I und II. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

 

  • Renkl, A./Helmke, A./Schrader, F.-W. (1997). Schulleistung und Fähigkeitsselbstbild: Universelle Beziehungen oder kontextspezifische Zusammenhänge? In: F. Weinert/A. Helmke (Hrsg), Entwicklung im Grundschulalter. Weinheim: Psychologie Verlags Union, S. 373–384.

 

  • Stevens, L. (2001). Denkpause: ein Arbeitsbuch für Lehrer zum Umgang mit Schülern beim Lehren und Lernen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

 

  • Schweer, M. (Hrsg.) (2008). Lehrer-Schüler-Interaktion. Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften (VS). 2. Vollständig überarb. Aufl.

     

  • Schwer, C. (2011). Begabung und Beziehung im Kindergarten: Die Erzieher/innen-Kind-Beziehung als Basis für die Umweltexploration jüngerer Kinder. Vortrag im Fachforums 2011 der nifbe-Regionalstelle Nord-Ost in Buchholz i. d. Nordheide am 09.03.2011.

 

  • Tausch, R./Tausch, A.-M. (1971). Erziehungspsychologie: psychologische Prozesse in Erziehung und Unterricht. Göttingen: Hogrefe.

 

  • Watzlawick, P./Bavelas, J./Jackson, D. (1967). Pragmatics of human communication: a study of international patterns, pathologies, and paradoxes. New York: W. W. Norton.





Hinweis:

Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Herder-Verlags dem in der nifbe-Schriftenreihe erschienenen Buch "Bildung braucht Beziehung. Selbstkompetenz stärken - Begabungen entfalten.  Freiburg: Herder (2011) entnommen.