Beiträge chronologisch

Inklusion und Chancen-Gerechtigkeit

Diversity und Verschiedenheit in der Elementarpädagogik

Inhaltsverzeichnis

  1. Orientierung an Norm(wert)en
  2. Intersektionalität: Alles wirkt miteinander
  3. Doing difference – institutionalisierte Benachteiligung
  4. Reflexion von Vielfalt
  5. Das Fremde und das Eigene
  6. Literatur

Gesamten Beitrag zeigen

»it’s not fair« – mit diesem Satz beginnt eines der führenden englischsprachigen Praxisbücher zum Thema Inklusion und DiversityDiversity|||||Im Deutschen wird der Begriff auch auch als Vielfalt benutzt und meint besonders, dass soziale Vielfalt konstruktiv genutzt wird. Im Diversity Management wird besonders auf eine positive Wertschätzung der individuellen Verschiedenheit eingegangen, um eine produktive Gesamtatmosphäre zu erreichen. in der Arbeit mit Kindern (Griffin 2008, S. 6). Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, wie sehr soziale und individuelle DispositionDisposition|||||Wörtlich gemeint ist damit sowohl eine Anordnung von Material, als auch die  physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit zum Beispiel zum Lernen. en Bildungsteilhabe und –erfolg beeinflussen, aber »… alle Kinder … haben das Recht, sich in einem Umfeld von Gleichwürdigkeit und Respekt für Vielfalt zu entwickeln und zu entfalten… « (DECET 2007, S. 1).

Dieses Recht und seine Umsetzung sind in unserem Bildungssystem gewollt, aber immer noch nicht gewährleistet. Und so sehr wir um benachteiligende Faktoren wissen und um Lösungswege ringen, so hartnäckig halten sich tradierte Überzeugungen, institutionelle Traditionen und Verunsicherung bei den AkteurInnen.


Verschiedenheit und Vielfalt in der Erziehungswissenschaft


Die Diskussion um Vielfalt und Verschiedenheit ist nicht neu in der  Erziehungswissenschaft – von Adornos »Miteinander der Verschiedenen«, der »Verschiedenheit der Köpfe« von Herbart über neuere Perspektiven im Kontext von PluralitätPluralität|||||Pluralität bezeichnet die Koexistenz von Vielfalt. In der heutigen Gesellschaft bedeutet das, dass es häufig  vielfältige, individuelle  Interessen und Lebensstile, Bildungswege, Familienkonstellationen etc. in der Gesellschaft geben kann., Vielfalt und Verschiedenheit (vgl. Hinz 1993; Gogolin et al. 1997; Prengel 2006; Lutz/Wenning 2001). Der Umgang mit Vielfalt war und ist eine Hauptherausforderung in pädagogischen Institutionen – und damit auch in unserer Gesellschaft.

Begriffe wie Verschiedenheit, Diversity, Chancengerechtigkeit und Heterogenität
halten zunehmend Einzug in der Elementarpädagogik – zu Recht: Heterogenität ist ein sozialer Tatbestand, mit dem es umzugehen gilt, und das von Beginn an. International ist die Verbindung dieser Bereiche bereits mit größerem Selbstverständnis in wissenschaftlicher Forschung und pädagogischer Praxis etabliert (vgl. DECET 2004). Hier tut sich ein Feld auf, das in Deutschland noch breiter interdisziplinärinterdisziplinär|||||Unter Interdisziplinarität versteht man das Zusammenwirken von verschiedenen Fachdisziplinen. Dies kann auch als „fächerübergreifende Arbeitsweise“ verstanden werden, z.B wenn Psychologen, KinderärztInnen, ErzieherInnen und Lehrende zusammen an einer Fragestellung arbeiten. hinterfragt und verankert werden muss.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden diverse methodische, didaktische und institutionelle Herangehensweisen diskutiert, um einen besseren Umgang mit Vielfalt – als Beitrag zur Chancengerechtigkeit – zu erreichen. Besonders die Schulpädagogik kennt diesen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. . Aber wie gehen wir in elementarpädagogischen Kontexten mit Verschiedenheit um? Wie begegnen wir der Vielfältigkeit kindlicher Existenz?
 


Orientierung an Norm(wert)en

»Für viele Menschen definiert sich Heterogenität … als Streuung um oder als Differenz zu einer unterstellten ›Norm‹. Viele betrachten zum Beispiel als normal, … was häufig ist. Andere nehmen … den Mittelwert der sogenannten Normalverteilung, auch wenn er vielleicht nur eine Minderheit darstellt. Für wieder andere ist normal, wer normgerecht ist, wer vorgegebenen Ansprüchen genügt. … In allen …  Sichtweisen bedeutet:

  • Heterogenität ›Abweichung‹ von einer Norm
  • Integration Einbeziehung des ›Andersartigen‹
  • Differenzierung ›Sonderbehandlung‹ gegenüber der Normalgruppe.
 
Verstehen wir aber unter ›Normalität‹, dass jeder Mensch einzigartig (und indiesem Sinne ›immer anders‹) ist, dann bedeutet:

  • Heterogenität schlicht ›Unterschiedlichkeit‹
  • Integration ›Gemeinsamkeit‹
  • Differenzierung Raum für die ›Individualität‹ aller« (Brügelmann 2002, S. 31f.).

Wir stoßen hier auf diverse Begriffe, die die Debatte um Vielfalt und Verschiedenheit prägen: andersartig, Mittelwert, Unterschiedlichkeit und das ewig lebendige Paar »Norm« und »Abweichung«. Die Auseinandersetzung mit Kindheit war und ist oft geprägt von dem Wunsch nach klarer Identifizier und Zuordbarkeit sowie Orientierung an einer festgelegten »Normalität« – ein Versuch der Standardisierung kindlicher Entwicklung, der unter anderem dazu führt, dass Kinder immer häufiger als zu fördernde oder gar gefährdete Menschen wahrgenommen werden (vgl. Kelle/Tervooren 2008). Aber wie individuell kann Förderung geschehen, wenn wir uns an einer Skala und einem (vermeintlich objektiven) Mittelwert orientieren? Wie individuell lassen wir Kinder sein, wenn wir sie nach Rastern beurteilen und aufgrund derer einer bestimmten Entwicklungs-, Lern- bzw. Leistungsgruppe zuordnen? Aus welcher Berechtigung heraus definieren wir Normen und deren Abweichung?

»… Aus empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden. feststellbaren Durchschnittswerten werden in der Aufmerksamkeit der Erzieherin Normen, an denen die Entwicklung von Kindern gemessen wird. Der Blick auf Kinder verschiebt sich: Nicht mehr das Interesse an der Individualität der Kinder steht im Vordergrund, sondern die Fixierung auf Abweichungen von Entwicklungsnormen. Die elementarpädagogische Arbeit verlagert sich von der schwerpunktmäßigen Förderung individueller Interessen und Kompetenzen, die über das Lernen am Modell auch auf andere Kinder ausstrahlen können, zu einer kompensatorischen Bearbeitung von Defiziten…« (Knauf 2009).

Die Fokussierung auf Normalität, Abweichungen und Defizite ist, neben Stereotypisierung und drohender Stigmatisierung, insofern auch problematisch, als Diagnostik in der Pädagogik anders verläuft als zum Beispiel im medizinischen Bereich – in der Pädagogik kann es kein Patentrezept geben, gerade mit Blick auf eine wirklich individuelle Unterstützung des jeweiligen Kindes. Und ausschlaggebend ist noch immer, dass PädagogInnen nicht »Defekte « diagnostizieren, sondern vor allem Stärken wahrnehmen sollten. Ressourcenorientierung ist das Schlüsselwort, auch wenn die Realität momentan leider noch davon abweichen mag. Differenzkonstruktionen – die Herstellung vermeintlicher Unterschiedlichkeiten –, die, wie das Wort schon sagt, »konstruiert« sind, sind nicht »nur« Ordnungs- und Zuweisungskategorie, um gesellschaftliche Gefüge überschaubar und fassbar zu machen. Das damit einhergehende Prinzip der Grunddualismen (z.B. »männlich – weiblich«) stellt in seiner Polarisierung – dem Ansinnen, zwei gegensätzliche Positionen festzulegen – eine konstruierte Ungleichheit her. Hier geht es schnell um (Be-/Ab-)Wertungen. Diese Ungleichheit schlägt sich in dem Moment, in dem eine Abweichung vom Normalitätskonstrukt von außen festgemacht wird, nachgewiesenermaßen auf Bildungserfolg und die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe nieder: »… Komplementarität beruht nicht nur auf Ungleichartigkeit, sondern bedeutet auch Ungleichwertigkeit und Hierarchie …« (Klinger, zit. nach Lutz/Wenning 2001, S. 17).

 

Intersektionalität: Alles wirkt miteinander

Griffin plädiert im Kontext von Diversity in der frühkindlichen Bildung vornehmlich für eine Auseinandersetzung mit den Feldern Gender, Ethnizität, kultureller Hintergrund (inkl. Religionszugehörigkeit und Sprache), soziale Herkunft (inkl. familiale Gefüge), »Behinderung« und Sexualität (Griffin 2008, S. 29). Wagner kommt mit Blick auf die deutsche Situation ebenfalls zu einer Fokussierung auf Geschlecht, körperliche Handikaps, Migrationshintergrund, Ethnizität und/oder Hautfarbe, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung und Religionszugehörigkeit (vgl. Wagner 2008).

Allerdings wird der Intersektionalität von Verschiedenheitskategorien immer noch zu wenig Rechnung getragen: Jeder Mensch ist in sich vielfältig; es treffen also immer verschiedene Dimensionen von Verschiedenheit auf ein Individuum zu, die sich untereinander bedingen (Kunze/Solzbacher 2008, S. 16). Die Zuordnung eines Individuums zu einer der Differenzkategorien ist ein »… analytisches Hilfsmittel, aber auch immer eine grobe Vereinfachung… « (ebd.).

Vor diesem Hintergrund ist auch die Kita ein Ort institutionalisierter Diskriminierung – wobei Kindertageseinrichtungen von allen Bildungseinrichtungen wahrscheinlich das größte Potenzial bergen, hier in einer Art Pionierfunktion positiv voranzugehen. »… Jedes Kind hat einen Anspruch darauf, als Individuum in seiner Eigenart und Einzigartigkeit gesehen und anerkannt zu werden. Es hat ein Recht auf Differenz. Gleichzeitig hat es einen Anspruch darauf, als eines unter Gleichen behandelt zu werden, gleichberechtigt zu sein…« (Bräu 2005, S. 138).

Bislang fehlt ein in der gesamten Kita-Landschaft selbstverständliches, breites Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reflexion von Differenz und DiversitätDiversität|||||siehe Diversity. Die Förderung und Unterstützung unserer Kinder beruht auf guter Diagnostik –, wenn diese jedoch von einem konstruktgeprägten diagnostischen Blick beeinflusst wird, werden wir der Einzigartigkeit und dem Potenzial eines jeden Kindes nicht gerecht. Griffin schlägt vor diesem Hintergrund für pädagogische Fachkräfte auch die besondere Auseinandersetzung mit Themen wie Diskriminierung, Vorurteilen, Stereotypen und Chancengerechtigkeit vor (Griffin 2008, S. 11).



 
Doing difference – institutionalisierte Benachteiligung

Die Einrichtung Kindertagesstätte ist, wie alle anderen Bildungseinrichtungen auch, nicht frei von »doing gender«, »doing ethnicity« oder anderen Manifestationsprozessen von Verschiedenheitskonstrukten. Da aber in der frühkindlichen Pädagogik, wie wohl in keiner anderen Bildungsinstitution sonst, Beobachtung und Wahrnehmung durch die pädagogischen Fachkräfte in Förder- und Entwicklungsprozessen eine so wichtige Rolle einnehmen, gilt es hier besonders, sich die Macht von Zuweisungskategorien bewusst zu machen.

Wir wissen, dass Wahrnehmung bewusst und unbewusst an unsere bisherigen (Lebens-)Erfahrungen in unserer sozialen Umwelt gekoppelt ist. Wahrnehmung ist dabei keineswegs immer ein bewusster Prozess. Sie steuert aber unser Denken und Handeln und hängt direkt zusammen mit unserem Selbstkonzept, unserer Selbstwahrnehmung, unseren Erwartungseffekten und unseren Interaktionen und Einschätzungen, zum Beispiel in der Personenbeurteilung (vgl. Kanning 1999). Eigene, internalisierte Konstrukte und Stereotypien wirken auf unsere Wahrnehmungen und Entscheidungen.

Dies ist gerade für eine Einrichtung wie den Kindergarten von Bedeutung, wo Beobachtung, Wahrnehmung und Dokumentation als Formen der pädagogischen Diagnose zum Alltagsgeschäft gehören und Förderprozesse initiieren und steuern. Aus der Praxis wird in diesem Kontext oft der Ruf nach Checklisten oder ähnlich pragmatischen Alltagslösungen laut. Angesichts der organisatorischen Rahmenbedingungen in Kitas – man denke an den Personalmangel und andere fehlende Ressourcen – ist das Verlangen danach absolut verständlich und nachvollziehbar. Die Verwendung solcher Raster oder Screenings ist jedoch generell mit Vorsicht zu genießen. Gerade im Kontext individualisierter Förder- und Unterstützungsprozesse dürfen wir nicht versuchen, Vielfältigkeit und Individualität durch das Aufzwingen einer Normalskala zu reglementieren und letztlich dadurch wieder zu homogenisieren.

Diese Versuche stehen nicht auf einem wissenschaftlich gesicherten Sockel, sondern scheinen vielmehr Indikator für das Ausmaß an Unsicherheit im Umgang mit Differenz zu sein. Wenn hier aber ein hohes Reflexions- und Handlungsniveau von der Praxis erwartet wird, bedarf es einer entsprechenden inhaltlichen »Grundbesohlung«, und zwar als durchgängiges Prinzip. Konstruktive Schritte zu einem flexibleren, souveränen Umgang mit Heterogenität könnten zum Beispiel durch neue, vertiefende Forschung, engeren Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis und bessere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Bildungsträgern entstehen. Hier steckt ein großes Potenzial für eine inhaltliche und praxisorientierte ProfessionalisierungProfessionalisierung|||||Eine Professionalisierung findet im weiteren Sinne statt wenn die Entwicklung einer privat oder ehrenamtlich ausgeübten Tätigkeit zu einem  Beruf wird. Im Rahmen der Professionalisierung werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisierungen erreicht. Professionalisierung bedeutet auch die Entwicklung eines Berufs zu einer Profession, darunter wird meist ein akademischer Beruf mit hohem Prestige und Anerkennung verstanden.  .



Reflexion von Vielfalt – Der Blick über den Tellerrand


Gerade in den englischsprachigen Ländern werden die Dynamiken von Diversity und Verschiedenheit in der Elementarpädagogik von Wissenschaft und Praxis sehr vielfältig angegangen (vgl. Robinson/Diaz 2010) und verschiedene Projekte und Handlungsansätze erprobt. Der Intersektionalität von Verschiedenheitskategorien wird dabei versucht, zunehmend Rechnung zu tragen (vgl. Newman 2007; Cole 2006).

Als ein Beispiel im Umgang mit Verschiedenheit wird hier auf den Anti-Bias-Approach aus den USA hingewiesen (vgl. Gramelt 2010). ErzieherInnen sind auf die Mitarbeit und Unterstützung von Trägern und Eltern angewiesen. Der Anti-Bias-Ansatz ist unter anderem deswegen so wertvoll, weil er bewusst pädagogische Fachkräfte, Kinder und Eltern miteinander denkt. Ziele für Kinder umfassen zum Beispiel:

»… Jedes Kind muss Anerkennung und Wertschätzung finden, als Individuum und als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe, dazu gehören Selbstvertrauen und ein Wissen um seinen eigenen Hintergrund (Ziel 1). Auf dieser Basis muss Kindern ermöglicht werden, Erfahrungen mit Menschen zu machen, die anders aussehen und sich anders verhalten, sodass sie sich mit ihnen wohl fühlen und Empathie entwickeln können (Ziel 2). Das kritische Denken von Kindern über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierungen anzuregen heißt auch, mit ihnen eine Sprache zu entwickeln, um sich darüber verständigen zu können, was fair und was unfair ist (Ziel 3). Von da aus können Kinder ermutigt werden, sich aktiv und gemeinsam mit anderen gegen einseitige oder diskriminierende Verhaltensweisen zur Wehr zu setzen, die gegen sie selbst oder andere gerichtet sind (Ziel 4) …« (Gaine/van Keulen, zit. nach Preissing/Wagner 2003, S. 52).

Die ergänzenden Implikationen für PädagogInnen geben wertvolle Hinweise, welche Bewusstwerdungsprozesse und Interventionsmöglichkeiten seitens der Fachkräfte wichtig sind: » … ErzieherInnen müssen sich ihrer eigenen Bezugsgruppenzugehörigkeit bewusst werden und erkennen, welchen Einfluss diese auf ihr Handeln hat … ErzieherInnen müssen kritisch sein gegenüber den Diskriminierungen und Vorurteilen in ihrer Kindertageseinrichtung, im Elementarbereich und allgemein in der Bildungspolitik … Und sie brauchen die Fähigkeit, Dialoge über Diskriminierung und Vorurteile zu initiieren und am Laufen zu halten, denn das ist ihre Form aktiver Einmischung …« (ebd.).

 


Das Fremde und das Eigene – das Fremde in mir

Jedes Kind ist in sich vielfältig – so vielfältig die Existenz und Identität unserer Kinder, so vielfältig müssen auch unsere pädagogischen Ansätze sein, um ihnen gerecht werden zu können. Kinder begegnen Neuem zunächst mit Neugier und sind sehr kreativ darin, den Umgang mit Unbekanntem für sich zu lösen. Dies sind wertvolle Ressourcen, gerade für kindliche Entwicklungsprozesse. Im Laufe der Sozialisation tritt diese Neugier bisweilen in den Hintergrund und weicht dem Bedürfnis, die soziale Umwelt durch eine Zuweisung zu Kategorien zu ordnen – klare Zuweisungen geben auch Sicherheit und entlasten im Umgang mit Fremdem jeglicher Art. Kennt man aber sich selbst, das »Eigene«, ist »selbst-kompetent« und in sich sicher, führt »das Fremde« zu weniger Verunsicherung, und wir müssen nicht so sehr zu konstruierten Ordnungssystemen greifen, um Unbekanntes handhabbar zu machen.

Die Reflexion von Differenz-»Ordnungen« ist eine Einladung, sich selbst bewusst in aller Vielfalt kennenzulernen und sich die vielen verschiedenen Dimensionen, die uns innewohnen, und ihr Zusammenspiel, ihre Intersektionalität zu vergegenwärtigen. So kann es besser und zufriedenstellender gelingen, Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, Menschen in ihrer Vielfalt wahrzunehmen und ihnen offen gegenüberzutreten.

Wenn wir dem Bildungsziel, die Persönlichkeit, Begabungen und Fähigkeiten wirklich ganzheitlich zu fördern, gerecht werden wollen, müssen wir diese Prozesse stärker in unserer Pädagogik verankern. So bleibt Begegnung mit Kindern, aber auch Menschen insgesamt, immer neu, vielfältig und spannend, weil nichts stagniert, sondern sich im Takt neuer (Lebens-/Bildungs-)Erfahrungen und Begegnungen permanent verändert. Wir sollten von den Kleinen und ihrer Neugier und Offenheit lernen und nicht zulassen, dass »Anderssein« und damit einhergehende Einschränkungen bereits im Kita- Alltag manifestiert werden.

 
Re-Manifestation und Markierungen – brauchen wir neue Begrifflichkeiten?

In der Soziologie wird oft von Manifestierungen gesprochen, wenn es darum geht, die Internalisierung von Konstrukten zu beschreiben. Aber reicht dieser Begriff aus, und beschreibt er tatsächlich stimmig den sozialisationsbedingten Verlauf von Internalisierungsprozessen? Manifestation klingt leicht nach einem einmaligen Ereignis – und prompt sind Stereotype unwiederbringlich einverleibt. Diese Sichtweise vernachlässigt das Prozesshafte von Internalisierungsvorgängen. Insofern scheint der Begriff der »Re-Manifestation« passender: Re-Manifestation suggeriert nicht, dass permanent vermeintlich neue Zuweisungen internalisiert werden, sondern bereits angeeignete Konstrukte von Verschiedenheit erneut bestätigt und erst dadurch kontinuierlich manifestiert werden. Sie werden durch einen sozialisationsgebundenen Wiederholungsprozess zur vermeintlichen Realität – und diese verfestigten Konstrukte können schnell zu Überzeugungen werden, die sich dann in Interaktion und Kommunikation zukünftig deutlich niederschlagen. Mit jeder Interaktion in Bildungs- und Förderprozessen werden diese selbstkonstruierten Realitäten erneut berührt und gestärkt. Gerade in PädagogInnen-Kind-Beziehungen muss man sich deshalb der eigenen blindenFlecken und Diskriminierungsmomente bewusst sein. Unsere eigenen Erfahrungen und Überzeugungen steuern unsere Beziehungs- und Interaktionsangebote – ob wir wollen oder nicht.

Wir bewegen uns hier im Umfeld der »Etikettierung«, dem Einordnen in Schubladen. Ressourcenorientierte Förderung und diversitätssensible Wahrnehmung von Kindern ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg, Begabungen und Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen. Mit einer unreflektierten Zuweisung zu einer Kategorie – zum Beispiel »Migrantenkind«, »typisch Mädchen/Junge«, »schwul«, »behindert« oder einfach »anders« – heften wir nicht nur ein Etikett an. Wir stecken die Kinder in eine Schublade, die sich eklatant auf ihre gesamte Bildungsbiografie auswirken wird. Das ist mehr als ein umgehängtes Etikett: Wir »markieren« die Kinder fürs Leben. Da dies nicht immer bewusst geschieht, wird hier für einen Begriff der »unbewussten Markierungen« plädiert. Ein Etikett scheint leichter abnehmbar als eine Markierung, die – im wahrsten Sinne des Wortes – durch »alle Poren dringt« und noch stärker ihre Spuren im Inneren hinterlässt. Ein Etikett wird außen angeheftet, eine Markierung trägt man direkt auf der Haut – sie ist näher und berührt tiefer.

Bereits Kinder äußern Vorurteile und werden Opfer von Benachteiligung (vgl. Preissing/Wagner 2003; Boldaz-Hahn 2008, S. 102ff.). Negieren wir diese Tatsachen oder treten wir ihnen nicht deutlich genug entgegen, werden wir dem Bildungsauftrag nicht gerecht. Dabei geht es um Akzeptanz und Wertschätzung – und weg von dem leidigen Begriff der Toleranz. Das lateinische »tolero« heißt wörtlich übersetzt »Ich ertrage« – und wer von uns möchte schon ertragen werden?

 

Literatur


  • Boldaz-Hahn, S. (2008): »Weil ich dunkle Haut habe« – Rassismuserfahrungen im Kindergarten. In: P. Wagner (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder, S. 102-112.

  • Bräu, K. (2005): Individualisierung des Lernens – Zum Lehrerhandeln bei Bewältigung eines Balanceproblems. In: K. Bräu / U. Schwerdt (Hrsg.): Heterogenität als Chance. Münster: Lit-Verlag, S. 138.

  • Brügelmann, H. (2002): Heterogenität, Integration, Differenzierung. Empirische Befunde –pädagogische Perspektiven. In: F. Heinzel / A. Prengel (Hrsg.): Heterogenität, Integration und Differenzierung in der Primarstufe. Opladen: Leske + Budrich, S. 31-43.

  • Cole, M. (Hrsg.) (2006): Education, equality and human rights – issues of gender, race, sexuality, disability and social class. New York: Routledge.

  • DECET – Keulen, A. van / Malleval, D. / Mony, M. / Murray, C. / Vandenbroeck, M. (Hrsg.) (2004): Diversity and equity in early childhood training in Europe. Brüssel: DECET.

  • DECET (2007): Orientierungen für die pädagogische Praxis. Brüssel: DECET.

  • Gogolin, I. / Krüger-Potratz, M. / Meyer, Meinert A. (Hrsg.) (1997): Pluralität und Bildung. Opladen: Leske + Budrich.

  • Gramelt, K. (2010): Der Anti-Bias-Ansatz. Zu Konzept und Praxis einer Pädagogik für den Umgang mit (kultureller) Vielfalt. Wiesbaden: VS.

  • Griffin, S. (2008): Inclusion, equality and diversity in working with children. Harlow: Heinemann Library.

  • Hinz, A. (1993): Heterogenität in der Schule. Hamburg: Curio.

  • Kanning, U. (1999): Die Psychologie der Personenbeurteilung. Göttingen: Hogrefe.

  • Kelle, H. / Tervooren, A. (Hrsg.) (2008): Ganz normale Kinder – Heterogenität und

  • Standardisierung kindlicher Entwicklung. Weinheim: Juventa.

  • Klinger, C. (2001): Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: H. Lutz / N. Wenning (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 11-24.


  • Kunze, I. / Solzbacher, C. (Hrsg.) (2008): Individuelle Förderung in der Sekundarstufe I und II. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.



Hinweis:

Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Herder-Verlags dem in der nifbe-Schriftenreihe erschienenen Buch "Vielfalt von Anfang an.Inklusionin Krippe und Kita. Freiburg: Herder (2011) entnommen.




Verwandte Themen und Schlagworte