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Einführung in die Entwicklungspsychologie

Inhaltsverzeichnis

  1. Kindheitskonzepte
  2. Der kulturelle Kontext
  3. Implizite Entwicklungstheorien

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Implizite Entwicklungstheorien

Die Frage nach den impliziten Entwicklungstheorien lässt sich als Frage nach der Annahme von Kontinuität oder Diskontinuität der menschlichen Entwicklung reformulieren. Diese Frage, das Kernanliegen der Entwicklungspsychologie (Montada, 1982, S. 56), erregt wie kaum eine andere die wissenschaftlichen Gemü-ter. Viele Kleinkindforscher teilen den Standpunkt Anneliese Korners (1979), dassbei den meisten Menschen eine Kontinuität der Selbsterfahrung über den Lebenslauf hinweg vorhanden ist – trotz häufig niedriger Korrelationen zwischen Verhaltensweisen zu verschiedenen Zeitpunkten.

Die gegenteilige Auffassung demonstriert Jerome Kagan in seinem Buch «Die Natur des Kindes», das 1987 in deutscher Übersetzung erschien. Den Befürwortern des von ihm als Mythos bezeichneten Glaubens an die Kontinuität, nämlich Freud und Piaget und vereinzelten jüngeren Autoren wie Sroufe (1979), schreibt er ein emotionales Bedürfnis nach dieser Anschauung zu. Insbesondere die Vorstellung, dass Eltern irgendeinen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder haben könnten, hält er für absurd. US-amerikanische Eltern hielten unerschütterlich an diesem Volksmärchen fest, da dieser durch ihre subjektiven Erfahrungen gestützt würde!

Kagans Einstellung zur Eltern-Kind-Bindung wird in dem folgenden Zitat deutlich: «Jede Gesellschaft benötigt einen transzendentalen Gegenstand, dem die Bürger ihre Loyalität erweisen können. Früher gehörten Gott, die Schönheit und Nützlichkeit des Wissens und die Reinheit der treuen, romantischen Liebe zu den heiligsten Gütern in unserer Gesellschaft… Die Heiligkeit der Mutter-Kind-Bindung ist vielleicht eines der letzten noch unbefleckten Ideale. Die Flut von Büchern und Zeitschriftenartikeln über Bindung und über die Notwendigkeit eines direkten Hautkontaktes zwischen Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt wird von starken Emotionen erzeugt, und man muss annehmen, dass nicht immer wissenschaftliche Tatsachen die Diskussion bestimmen. Sollte es richtig sein, dass jeder engagierte Erwachsene ein Kleinkind versorgen kann (dies ist noch nicht bewiesen), so wird ein weiterer moralischer Imperativ hinfällig sein.» (Kagan, 1987, S. 89f)

Nun könnte man einwenden, dass diese Publikation schon einige Zeit zurückliegt und Kleinkindforschung, Evolutionäre Psychologie, Kulturpsychologie und die Neurowissenschaften inzwischen hinreichend Belege für den Einfluss der Eltern auf die kindliche Entwicklung bereitstellen. Erstaunlicherweise tauchen aber immer wieder Publikationen auf, die schnell viel beachtete Bestseller werden, die genau diese Argumentation wiederholen: Eltern haben keinen Einfluss außer der Bereitstellung der Gene auf die Entwicklung ihrer Kinder (Rowe, 1994). Die verschiedenen Sichtweisen sind in einer Flut populärer Sachbücher dokumentiert, die aufgrund ihrer beachtlichen Auflagenhöhen ein generelles gesellschaftliches Interesse dokumentieren.

Erstaunlicherweise wird auch die Anlage-Umwelt- Debatte, die doch nun wirklich zu den Akten gelegt sein sollte, immer wieder belebt (Sameroff, 2010). Intensiviert hat sich die Diskussion über die (Sonder-) Stellung des Menschen unter den Primaten (vgl. Boesch, 1980; Tomasello, 2008).

Ähnliche emotionale Reaktionen löst immer noch die Psychoanalyse in weitenTeilen der akademischen Psychologie aus. So fand die Fahndung des Wissenschaftsjournalisten Zimmer (1986) nach widersprüchlichen Aussagen im Originaltext Freuds große Anerkennung. Erfreulicherweise gibt es eine Reihe von Psychoanalytikern, die ihrerseits die Erkenntnisse der empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.en Kleinkindforschung rezipieren und sowohl für die Forschung als auch für die klinische Arbeit nutzen. Allen voran zu nennen sind hier Margret Mahler und Bruno Bettelheim. Letzterer wäre übrigens ein geeigneterer Kandidat als Freud, um ihn mit Piaget in einem Atemzug zu nennen, da beide ein ähnliches Verständnis von Entwicklung als aktive Konstruktion haben (z. B. Bettelheim, 1967). Seine Ansichten zur Psychosenentwicklung stehen andererseits in hoher Übereinstimmung mit den Ausführungen der Verhaltensforscher Tinbergen zum Entstehen des frühkindlichen Autismus (Tinbergen & Tinbergen, 1972). Freud selbst hat sich dagegen kaum zur Entwicklung in diesem frühen Lebensabschnitt geäußert.

In der französischen psychoanalytischen Schule, wie sie von Serge Lebovici (z. B. 1983) begründet wurde, werden Erkenntnisse der Interaktionsforschung für die klinische Diagnostik genutzt. Es zeigt sich, dass es sehr wohl möglich ist, von unterschiedlichen theoretischen Positionen her zu ähnlichen Anschauungen zu kommen, wenn nur Offenheit für die Phänomene vorhanden ist – das heißt die impliziten Theorien den Blick nicht allzu sehr einengen.

Die impliziten Theorien der Wissenschaftler sind wichtige Bestandteile des Erkenntnisprozesses, die es aufzudecken und zu reflektieren gilt, wenn ein allgemein gültiges Verständnis von Entwicklung angestrebt wird. Alle drei Perspektiven, das Kindheitskonzept, der kulturelle Kontext und die implizite Entwicklungstheorie hängen natürlich miteinander zusammen und stellen verschiedene Zugangsweisen zu dem Gegenstandsbereich – Entwicklung im Säuglingsalter – dar.

Zum Weiterlesen:

Entwicklungs-psychologische Grundlagen der ersten Jahre (nifbe-Themenheft 17)