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Einführung in die Entwicklungspsychologie

Inhaltsverzeichnis

  1. Kindheitskonzepte
  2. Der kulturelle Kontext
  3. Implizite Entwicklungstheorien

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Kindheitskonzepte

Jede Gesellschaft hat ihre lokalen Theorien über die Natur des kleinen Kindes, und auch Forscher und Wissenschaftler gehören zu diesen Gesellschaften. Auch wissenschaftliche Theorien und Untersuchungen reflektieren grundlegende Annahmen und Voreinstellungen über das Wesen des Kleinkindes. Solche forschungsleitenden Annahmen spricht Hay in seinem Sammelreferat im «Annual Review of Psychology» im Jahre 1986 über den Kleinstkindbereich an, wenn er die 1980er Jahre als Epoche der latenten Theorie (S. 136) charakterisiert. Nach seiner Meinung sind Theorien nicht expliziert, sondern existieren in den Sichtweisen der jeweiligen Wissenschaftler und bestimmen die Art der Fragestellung und die Wahl der Methoden. Bis heute hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Dazu kommt noch, dass das uns vertraute, in der Literatur dominierende euroamerikanische Menschenbild als Natur des Menschen missverstanden wird.

Die innere Welt von Säuglingen und deren Erlebnisqualität waren Gegenstand von Spekulationen seit den Anfängen. Sehen Säuglinge die Welt wie die pointillistischen Maler als unabhängige Informationseinheiten, wie Cohen und Younger (1984) vermuteten? Oder ist es nicht eher so, wie William Stern beschreibt: «So wie wir, wenn wir etwa mit geschlossenen Augen träumend auf dem Sofa liegen, von der Helligkeit, die durch unsere Augenlider dringt, dem fernen Geräusch der Straße, dem Druck der Kleider, der Temperatur des Zimmers nichts einzeln merken, sondern alles in unseren Gesamtempfindungszustand einschmelzen, so – nur noch viel vager und dumpfer – müssen wir uns die Sensibilität des kleinen Kindes denken.» (Stern, 1923, S. 71). Stern spricht weiter von einem wirren «Gesamtzustand der Ur-Sensibilität», der «einförmig und ungegliedert wie eine Nebenmasse» sei.

Es ist erstaunlich und verwunderlich, dass wir als Erwachsene keinen Zugang und keine Erinnerung mehr an diese Wahrnehmungen und Empfindungen haben, die doch auch Teil unserer Biographie sind. William Stern bietet dafür folgende Erklärung an:

»… und da wir Erwachsene… ein schon sehr kompliziertes Seelenleben haben, ist uns primitives Seelenleben gerade wegen seiner Einfachheit und der daraus folgenden Unähnlichkeit zu dem unseren so schwer in rechter Weise verständlich zu machen. In gewissem Sinne ist deshalb, so muß man sich resigniert gestehen, die Kindheit für uns ein einzig verlorenes Paradies.» (Stern, 1923, S. 12)

Versuche einer Aufklärung interner Repräsentationen sind traditionellerweise Gegenstand psychoanalytischer Modellvorstellungen. Köhler formuliert: «Eine weitere Frage, die uns Analytiker interessiert, ist, was das Neugeborene eigentlich erlebt» (1986, S. 83). Und sie zitiert Spitz (1972), der ähnlich poetische Vorstellungen äußert wie Stern einige Jahrzehnte vorher.

«Uns fehlen die Begriffe, es fehlen uns sogar die Worte, in welchen dieses Niemandsland menschlicher Anfänge zu beschreiben wäre. Wir wissen noch nicht,

wie von der Psyche des Neugeborenen zu sprechen, von den ersten Regungen seines Geistes in der zwielichten Welt vor Sonnenaufgang.» (Köhler, 1986, S. 83)

Lange Zeit war das am weitesten verbreitete implizite Kindheitskonzept im westlichen Kulturkreis das defizitäre Erwachsenenmodell. Obgleich die vielfältigen Kompetenzen des Säuglings immer wieder herausgestellt werden, werden diese nicht als eigene Qualitäten verstanden, sondern als passagere Stadien auf dem Weg zum Erwachsenen. Die sprichwörtliche Definition von Säugling ist jemand, der nicht sprechen kann (Hay, 1986, S. 143 [Übersetzung der Autorin]). Eltern berichten häufig, dass, wenn ein Kind älter wird, er oder sie mehr eine Person zu werden scheint (Hay, 1986, S. 145 [Übersetzung der Autorin]).

Der wissenschaftliche Sprachgebrauch reflektierte diese Sichtweise ebenfalls. Kleinkinder machen Fehler, z. B. den «stage 4 error» (ein Objekt an einem Platz suchen, an dem es einmal war, jetzt aber nicht mehr ist). Weite Bereiche der Forschung zur Wahrnehmungs- und kognitiven Entwicklung waren diesem Kindheitskonzept des defizitären Erwachsenen verhaftet.

Heute wissen wir, dass es zwar eine frühkindliche Amnesie der autobiographischen Erinnerung gibt, dass das mentale Modell des Säuglings aber auch keine formlose Nebelmasse ist. Vielfältige angeborene soziale und kognitive Kompetenzen sind die Grundlage der unglaublichen Entwicklungsgeschwindigkeit der ersten Jahre. Mit dieser Erkenntnis ist ein Perspektivenwechsel verbunden, nicht das Defizit in Bezug auf den Erwachsenenstatus herauszustellen, sondern verschiedene Entwicklungsphasen als eigenständige Erlebniswelten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Die Veränderlichkeit dieser privaten Welttheorien wurde schon früher diskutiert. Metcalf (1979) bezieht sich auf ein Konzept seines Lehrers Spitz, wenn er sagt, dass mit jedem Organisator die Erlebniswelt der Kinder sich so ändere, als lebten sie in einer völlig anderen Welt.

Die historische Betrachtung von Kindheitskonzepten zeigt die Bedeutung des Zeitgeistes auch für die wissenschaftliche Betrachtungsweise. Die hier referierten historischen Veränderungen entstammen alle dem euroamerikanischen Kulturkreis, einfach weil wir hier eine gute Dokumentation haben. Diese vertikale Betrachtungsweise muss aber um die horizontale, kulturspezifische und kulturvergleichende erweitert werden, um allgemeine Aussagen über Entwicklung machen zu können.