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Von der Kindheit zur „veränderten Kindheit“

Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen und Risiken Kinder heute aufwachsen

Inhaltsverzeichnis

  1. Von der Aufklärung bis zur Reformpädagogik
  2. Veränderte Kindheit heute

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Nicht immer waren Kinder so im Fokus wie heutzutage: Ein historischer Rückblick macht die Entstehung des Konstrukts „Kindheit“ und den geschichtlichen Verlauf deutlich. Im Anschluss daran wirft die Autorin den Blick auf die „veränderte Kindheit“ und Sozialisation heute. Sie stellt Überlegungen an, welche Veränderungen die Gesellschaft seit einigen Jahren durchläuft, unter welchen Bedingungen Kinder heute aufwachsen und welche Relevanz das für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung hat.

Die Entstehung der Kindheit

Um den Begriff der „veränderten Kindheit“ zu deuten, ist zu klären, was Kindheit bedeutet, woher dieser Begriff kommt und wie er sich entwickelt hat. Nach einem handelsüblichen Lexikon ist der Begriff schnell definiert: „Kindesalter, Lebensabschnitt des Menschen, der sich von Geburt bis zum Beginn der Geschlechtsreife erstreckt. Man unterteilt ihn in die Säuglings- (1 Jahr), Kleinkind- (2. bis 5. Jahr) und Schulkindzeit (6. bis 14. Jahr)“. In der Geschichte ist jedoch zu erkennen, dass Kindheit nicht immer einen so wichtigen Charakter im Leben der Menschen hatte und kaum definiert wurde.

Im Mittelalter existierte kaum ein vergleichbares Verhältnis zum Kind. Es wurde nicht als gewollt oder ungewollt gesehen, sondern vielmehr als notwendig. Aufgrund der sehr hohen Kindersterblichkeitsrate war es eine Art Abwehrmechanismus der Eltern, um sich emotional nicht zu sehr auf ihre Kinder einzulassen (vgl. Ariès 2003, S. 15). Zusätzlich wurde die Dauer der Kindheit anders wahrgenommen. Sofern ein Kind einigermaßen selbständig war, wurde es recht bald als Erwachsener behandelt, wie das Zitat von Ariès deutlich macht (vgl. Ariès 2003, Seite 209):

„Deshalb gehörte das Kind auch, sobald es ohne die ständige Fürsorge seiner Mutter, (…) auskam,  der Gesellschaft der Erwachsenen an und unterschied sich nicht länger von ihr.“

Daraus wird ersichtlich, dass der Begriff der Kindheit ein gesellschaftsabhängiger und somit veränderbarer Begriff ist. So unterliegt auch die Bedeutung von Erziehung den gesellschaftlichen Änderungen: Zwar waren Schulen im Mittelalter zwar vorhanden, aber stärker durch einen anderen Erziehungscharakter geprägt als heute. Sie zielten unter anderem auf religiösen Nachwuchs ab, der später zu Führungspersonen ausgebildet werden sollte. Sozialisation fand zudem kaum im Umfeld der Familie statt, sondern aus einem Gemisch von Nachbarn, Freunden, Dienern und Kindern.

Erfindung des Buchdrucks: Teilung in Kinder- und Erwachsenenwelt

Die Erschaffung der Kategorie Kindheit hängt nach Postman unter anderem mit der Erfindung des Buchdruckes und der Druckerpresse von Gutenberg im 15. Jahrhundert zusammen. Neben anderen prägenden Faktoren trug die Etablierung einer neuen Lesekultur maßgeblich dazu bei. Nun grenzten sich Erwachsene mit der Lese-Fähigkeit sowie dem Interessengebiet Buch und verschriftlichten Ideen von Kindern ab. Ein Zitat von Postman macht das deutlich (siehe Postmann 1983, Seite 31):

„Aus dieser neuen Erwachsenenwelt waren Kinder per definitionem ausgeschlossen. Indem nun die Kinder aus der Erwachsenenwelt vertrieben wurden, musste eine andere Welt entworfen werden, die sie bewohnen konnten. Diese Welt nannte man Kindheit.“

Während des 16. und 17. Jahrhunderts vertiefte sich diese Ansicht. Die Kindheit wurde als Kategorie akzeptiert und verinnerlicht. Zunehmend wurden sich die Erwachsenen des „Andersseins“ des Kindes bewusst, bedingt durch eine Hilflosigkeit und Schwäche im Vergleich zu den Erwachsenen. Man begann nun außerdem sexuelle Themen nicht mehr so offen anzusprechen und eine Art Scham zu entwickeln. Mit dieser neuen Einstellung entwickelte sich auch das Verlangen der Erwachsenen, die Unschuld der  kleinen Jungen und Mädchen zu beschützen und weiter pflichtbewusst auf die Bildung und Formung des Kindes einzuwirken. Dies wird auch darin deutlich, dass erstmalig Spielzeug, Kleidung und auch Bücher für Kinder entstanden.


 

Aufklärung und Industrialisierung: Familie aus Eltern und Kindern

Die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert trug ihr Übriges dazu bei. Bedeutende Vertreter wie John Locke, Jean Jacques Rousseau oder PestalozziPestalozzi||||| Johann Heinrich Pestalozzi`s (1746 - 1827) pädagogisches Ziel war es eine ganzheitliche Volksbildung zu erreichen, und die Menschen in ihrem selbstständigen und kooperativen Wirken in einem demokratischen Gemeinwesen zu stärken. Er legte Wert auf eine harmonische und ganzheitliche Förderung von Kindern in Bezug auf intellektulle, sittlich-religiöse und handwerkliche Fähigkeiten. Grundidee ist dabei, ähnlich wie in der Montessori-Pädagogik, dass die Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich selbst zu helfen.   beeinflussten die Gedanken um Erziehung weiter. Nach John Locke (1632-1704) wird ein Kind wie eine unbeschriebene Tafel geboren; die Verantwortung dafür, wie diese Tafel beschrieben wird, liegt  nach ihm bei den Eltern, die somit für die Entwicklung des Kindes zuständig sind. Parallel dazu erfolgte im 18. und 19. Jahrhundert eine andere Gesellschaftsentwicklung, zur Industriegesellschaft hin. Diese nahm  Einfluss auf das Leben der Jungen und Mädchen, denn es entwickelte sich eine gesellige Lebensform hin zu einer geschlossenen Familie, bestehend aus Eltern und Söhnen und Töchtern. Zusätzlich wurde  das Leben auf dem Land  abgelöst vom Leben und Arbeiten in Städten. Es entstanden die ersten Gedanken daran, dass Kinder mehr Möglichkeiten benötigen, um sich in soziale Gefüge einzuordnen, mehr mit ihren Peers zusammen zu sein und andere Geselligkeiten zu erleben. Robert Owen (1771-1858), der die Bedingungen für Fabrikarbeiter verbessern wollte, schuf ein Betreuungsinstrument für die Kinder seiner Arbeiter - grob zu vergleichen mit der Idee des Kindergartens.

In Deutschland gründete Friedrich  Fröbel als Schüler Pestalozzis 1940 den ersten Kindergarten. Er veröffentliche pädagogische Ansätze, die heute und in nachfolgenden pädagogischen Richtungen relevant sind. Fröbel gilt heute als anerkannter Reformpädagoge und „Gründungsvater“ des Kindergartens.  Sein Erziehungskonzept galt als neu und revolutionär, da plötzlich das Kind in seinen Bedürfnissen bedacht wurde. Hier zeichnet sich deutlich der Unterschied zu anderen Kindereinrichtungen der Zeit ab, da diese vermehrt der „Aufbewahrung“ der Mittelschichtkinder dienten, solange die Eltern arbeiteten.

Die Hochphase erreichte die Kategorie Kindheit laut Postman in der Zeit zwischen 1850 und 1950. Aus einer nicht existierenden Kindheit bildete sich im Lauf der Geschichte durch verschiedene Einflüsse in der Gesellschaft der Begriff heraus. Mit dem Begriff und der Entdeckung der Kindheit wurden Erziehungsgedanken deutlich und gefordert. Je nach verändertem Verständnis der Kindheit folgten daraus verschiedene Erziehungsprinzipien und pädagogische Ansätze.


 

Kindsein heute: Die „veränderte Kindheit“

Wie die geschichtliche Entstehung zeigt, ist das Thema einer „veränderten Kindheit“ nicht erst seit den letzten Jahren aktuell. Veränderungen und soziale Entwicklungen gab es immer. Jedoch scheinen sie sich in der heutigen Zeit, auch durch die Medialisierung und die Pluralisilierung von Lebenslagen, schneller zu entwickeln. Während das Telefon über Jahrzehnte seine Berechtigung hatte, boomt das Handy seit wenigen Jahren und mit ihm iPods, Chartlisten für Klingeltöne, Videostream, et cetera. Die "Handy-Generation" erfährt Annerkennung durch Größe und Kapazität von Handy-Modellen. Es ist nicht zu bestreiten, dass die heutige Gesellschaft  von technologischem Fortschritt, Wandelungsprozessen und einer zunehmenden Komplexität geprägt ist.

Zudem bestimmen soziostrukturelle Veränderungen die heutige Kindheit, denn der demografische Wandel verändert auch zunehmend die Familienstruktur. In der heutigen Zeit wird Nachwuchs nicht mehr hauptsächlich zur späteren Versorgung der Eltern gezeugt, sondern aus emotionalen Beweggründen. Durch gestiegene Erwartungen an eine angemessene Elternrolle, existenzielle Unsicherheit und das Bedürfnis nach unabhängiger Lebensplanung schwinden kinderreiche Familien. Auch andere Familienformen wie Ein-Eltern-Familien, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien oder Stieffamilien sind gängige Lebensmodelle und bilden somit eine vielfältige Erweiterung zum herkömmlichen traditionellen Familienbild. Zusätzlich arbeiten häufiger beide Elternteile oder Erziehungsberechtige, so dass die Familienzeit, wie sie früher üblich war, abnimmt. 

Auch die Erziehungsvorstellungen haben sich mit der Zeit geändert. Dadurch, dass Kinder nicht mehr nur mit materieller Versorgung assoziiert werden, sondern mit emotionalen Werten, setzen Eltern sie häufig in Bezug zu Glück, Sinngebung und Lebenserfüllung. Üblich ist eine zunehmende Kind-Zentrierung bei den Elternteilen. Zusätzlich hegen sie einen Leistungsgedanken, der bei Jungen und Mädchen zu Leistungsüberforderung führen kann.

Veränderte räumliche und zeitliche Bedingungen

Nicht zu unterschätzen sind auch die veränderten räumlichen und zeitlichen Lebensbedingungen von Kindern: Ein steigendes Verkehrsaufkommen in Städten und Dörfern schränkt sie in ihren Bewegungsfreiräumen ein und erhöht das Risiko an Verkehrsunfällen. Die heutige Stadtplanung führt häufig zu einer Verinselung, die Eltern und damit auch Kinder zu mehr Mobilität auffordert. Ohne öffentliche Verkehrsmittel oder ein eigenes Auto kommt man häufig nicht mehr zu Freunden, zum Einkaufen oder in den Kindergarten. Die Abhängigkeit der Kinder von der Fahrbereitschaft der Eltern hat damit Konsequenzen auf die Herausbildung von Freundschaften und sozialen Kontakten der Kinder. Die Häufigkeit von Wohnungs- oder Ortswechsel trägt weiterhin dazu bei, dass soziale Kontakte nicht mehr feste Bindungen beinhalten, sondern oft auch funktional sind. Das „Einfach-mal-spielen-gehen“ von früher hat sich in vielen Fällen zu einer terminlichen Vereinbarung der Eltern entwickelt. Damit haben sich auch die Spielräume von Jungen und Mädchen verändert.

Auch die zeitliche Komponente erfährt zunehmend eine Veränderung. Dadurch, dass Spielen häufig als Termin vereinbart wird und Jungen und Mädchen zudem eventuell feste Termine zum Reiten, Schwimmen oder Fußball haben, erleben sie bereits in früher Kindheit das Gefühl von Zeitdruck und die Erfahrung, „keine Zeit zu haben“. Auch Kinderspielzeug und -spiele haben sich verändert: Hersteller haben Kinder als Konsumenten entdeckt. Im Vergleich zur Spielbiografie eines heute 30-Jährigen ist zum einen die größere Auswahl an Spielsachen auffällig. Zum anderen hat auch die tatsächliche Anzahl von Spielen oder Kuscheltieren zugenommen, die Jungen und Mädchen heutzutage besitzen - eingeleitet durch eine kommerzielle Kinderkultur. Dabei kann nicht nur eine Veränderung der Spielumwelt von Jungen und Mädchen ausgemacht werden, sondern auch eine Veränderung des Spielverhaltens. Traditionelle Spiele werden ausgetauscht durch Spiele, bei denen es um Leistung oder Konkurrenz geht. Für neuartige Spielkonstruktionen müssen die Mitspieler die Anleitung häufig erst genau studieren, bevor das Spiel starten kann. Häufig werden auch Geschichten aus Fernseh-Serien adaptiert, wie zum Beispiel beim „König-der-Löwen-Spiel“. Dabei wird deutlich, dass Spielen und Spiele bestimmten Mode-Erscheinungen nacheifert, wie beispielsweise Tamagotchi, Power Ranger oder Diddl. Die Rolle der Medien ist dabei immens: Dadurch, dass Kinder weniger draußen sind und Elternteile weniger häufig die traditionelle Familienzeit miteinander verbringen, sind Fernseher, DVDs oder Videos als Ersatz in die Kinderzimmer getreten.

Die Zeit, die Kinder für soziale Kontakte und Spielen verwenden, sinkt damit; die Reizüberflutung durch Comics oder Zeichentrickfilmen, durch Computer-, Internet- oder Konsolen-Spiele steigt. Auch dort geht es um Leistung und Konkurrenz, was zu einer Überstimulierung von Sinneseindrücken führen kann.

Diese vorher erwähnten Veränderungen beeinflussen besonders die Funktion der Sozialisation in folgender Art und Weise:

  • Jungen und Mädchen sind weniger selbsttätig, sondern konsumieren zunehmend. Spiele geben ihnen vor, wie gespielt werden soll
  • Medien prägen die Kinder. Erfahrungen aus zweiter Hand, wie  Filme über Tiere, verdrängen eigene Erlebnisse
  • Kindheit wird öfter standardisiert. Generelle Erziehungsratgeber versprechen passende Antworten, die vermeintlich für alle Kinder gelten.

Konsequenzen für die Kinder: Begrenzung und Abhängigkeit

Die „veränderte Kindheit“ reduziert die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Jungen und Mädchen. Oft haben sie nur noch die Möglichkeit, „Programme“ zu wählen, die in den Tagesablauf eingefügt werden. Ihre Zeit und Aktivität wird häufig begrenzt, geteilt oder unterbrochen. Statt eines flüssigen Ablaufs dominieren eingegrenzte Zeiten, die für etwas Bestimmtes vorgesehen sind. Ebenso sind die Kinderräume begrenzt, vor allem durch Gefahren in der Stadt oder Verbotschilder jeglicher Art. Außerdem können die Bedingungen es zum Verlust einer kontinuierlichen, emotional-stabilen Basis führen, vor allem dadurch, dass Jungen und Mädchen  bereits unter einer konsumausgerichteten und erwachsenenorientierten Erwartung stehen.