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Kinder (1) im Kontext von häuslicher Gewalt

Inhaltsverzeichnis

  1. Gewalt in Geschlechter- und Generationenverhältnissen
  2. Häusliche Gewalt und Kindeswohl (8)
  3. Häusliche Gewalt und die Entwicklungsrisiken für Kinder und Jugendliche
  4. Frauenhäuser als vorübergehende Schutz- und Unterstützungsorte
  5. Häusliche Gewalt und die Bedeutung von Kindertagesstätten
  6. Ressourcen stärken und Resilienz durch Partizipation befördern
  7. Fazit und Ausblick
  8. Anmerkungen
  9. Literatur

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Gewalt in Geschlechter- und Generationenverhältnissen

Der Begriff Gewalt gewinnt angesichts gesellschaftlicher und sozialer Verwerfungen (soziale Ungleichheit, Anstieg der Kinderarmut, Ungleichheit im Zugang zu Impfstoffen, inhumane Flüchtlingspolitiken etc.) und aufgrund weltweiter kriegerischer Auseinandersetzungen an Bedeutung. Er wird nicht nur in wissenschaftlichen Kontexten und DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput. en vielfältig thematisiert, sondern scheint auch allgegenwärtig zu sein, da er alle gesellschaftlichen Bereiche zu durchdringen vermag. Dennoch gilt der Begriff bis heute als vieldeutig, da er von unterschiedlichen Gruppierungen in verschiedenen Kontexten und wissenschaftlichen Disziplinen mit verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Gewalt zu erfassen gestaltet sich daher nicht einfach und ist schon gar nicht eindeutig, da Interpretationen, emotionale und moralische Aufladungen sowie Bewertungen, die wiederum nicht unabhängig von gesellschaftlichen, historischen, kulturellen und sozialen Zusammenhängen nachvollzogen werden können, die Definition erschweren. So kann, was heute noch nicht als Gewalt erkannt wird, im Zuge historischer und gesellschaftlicher Transformations¬prozesse und damit verbundener veränderter gesellschaftlicher Normen oder Regeln zukünftig zum nicht mehr tolerablen Sachverhalt werden und in Folge gar als strafrechtlich relevante Tat gelten (2) (vgl. Henschel 2019, S. 16).

Gewalt stellt einen dynamischen Begriff dar, der durch wechselseitige und aufeinander bezogene Bedingungsgefüge, spezifische Kontexte und soziale Interaktionen gekennzeichnet ist, wobei das Prozessurale dieses Geschehens berücksichtigt werden sollte. Zugleich korrespondiert der Gewaltbegriff auch mit Begriffen von Macht, Herrschaft und Aggression (3), wie er sich auch in jeweils konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, sozialen Interaktionen und Kontexten manifestiert. Gewalt kann sich darüber hinaus im engeren Sinn als strafrechtlich relevante Form äußern oder auch als subtilere Handlung verstanden werden. Je nach erweitertem (4) oder eng (5) geführten Gewaltbegriff, je nach theoretischem, disziplinärem und auch intendiertem Zugang zur Gewaltthematik ergeben sich daher unterschiedliche Auseinandersetzungen mit bzw. Erkenntnisse hinsichtlich dieses Begriffs. Darüber hinaus sind damit differente öffentliche Diskurse sowie konkrete und unterschiedliche Präventions- oder Interventionsmaßnahmen verbunden, wenn Gewalt vorausschauend eingedämmt oder gar beseitigt werden soll (vgl. Schubarth 2000, S. 62-65).

Erklärungsansätze zur Gewalt aus einer soziologischen Perspektive suchen die Ursachen ihrer Entstehung eher in den gesellschaftlichen und sozialstrukturellen als in den individuellen Bedingungen. Sie unterscheiden daher zwischen manifester und struktureller Gewalt. Als manifeste Ausprägungen werden dabei unterschiedlichste Formen psychischer (z. B. Erniedrigung, Herabsetzung oder Zwangskontrolle), physischer (z. B. Schlagen, Treten, Würgen) oder sexueller Gewalt (z. B. Vergewaltigung, sex. Missbrauch, sex. Belästigung) verstanden. (6) Der Begriff der Strukturellen Gewalt geht auf Johan Galtung (1975) zurück und meint Formen der Gewalt, die über gesellschaftliche Regeln und Strukturbedingungen hergestellt werden, die nicht unmittelbar erkennbar sind und sich z. B. durch Exklusion und Diskriminierung spezifischer gesellschaftlicher Gruppierungen auszeichnen sowie durch mangelnde gesellschaftliche Teilhabe gekennzeichnet sein können (vgl. Kreft/Mielenz 1996, S. 260). Auch wenn dieses Konzept, da es als vage und in der Forschung als schwer operationalisierbar erachtet wird, mitunter auf Kritik stößt (vgl. Christ 2017, S. 13 f.), ist Strukturelle Gewalt ein hilfreiches Konstrukt in der Betrachtung von Generationen- und Geschlechterverhältnissen. Denn Gewalt als Strukturelement und zugleich als erfahrbare soziale Praxis, die sich in spezifischen Interaktionssituationen und Kontexten sowie in unterschiedlichen Formen Bahn brechen kann, erfordert nicht nur Analysen hinsichtlich individueller gewaltbegünstigender Motive und Befindlichkeiten (7), sondern auch detaillierte Beschreibungen und Erklärungen hinsichtlich dessen, was als unautorisiert gilt (vgl. Knöbl 2017, S. 6 f.), also von der gesellschaftlichen Ordnung und ihrem Gewaltmonopol abweicht (vgl. Christ 2017, S. 10) und durch asymmetrische Macht- und Dominanzverhältnisse geprägt ist.

Bis heute stellen Kategorien wie z. B. Geschlecht sowie Alter Organisations- und Ordnungsprinzipien mit spezifischen gesellschaftlichen Regeln dar. In konkreten sozialen Kontexten, in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, wie auch im Erwerbs- und Privatleben finden sich Hierarchisierungen einerseits in Strukturen, andererseits aber auch in den sozialen Praxen von Männern und Frauen sowie zwischen Erwachsenen und Kindern wieder. Zudem können sie sich durch wechselseitige Beeinflussung verstärken. Diese asymmetrischen Macht- und Dominanzverhältnisse können geprägt sein durch Einstellungen und Haltungen, die dazu beitragen, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder Alters, aufgrund eines spezifischen sozialen oder kulturellen Hintergrunds oder aber aufgrund körperlicher oder psychischer Beeinträchtigungen usw. Abwertungen erfahren, die zudem ungleiche gesellschaftliche und soziale Partizipationsmöglichkeiten eröffnen. Die Folge können Grenzüberschreitungen und -verletzungen sein, die Gewalthandeln zu begünstigen vermögen.

Die Herabsetzung des anderen, wie sie sich z. B. in ihrer Extremausprägung in der Nichtanerkennung der individuellen menschlichen Würde und körperlichen und psychischen Unversehrtheit, oder aber in der Absprache des gleichen Wertes und gleicher Rechte äußern kann, schafft damit, neben asymmetrischen gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen, die Möglichkeit zu manifestem gewalttätigen Verhalten. So werden bis heute durch traditionelle und spezifische gesellschaftliche Überzeugungen und Werthaltungen, die Kindern und Frauen weniger Rechte, Autonomie und Selbstbestimmung zuerkennen, Zugangschancen, gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung verwehrt; Gewalt wird hierdurch begünstigt. Menschen, die Gewalt ausüben, können ihr Gewalthandeln somit „[…] unter Ausnutzung einer gesellschaftlich vorgeprägten relativen Machtposition“ (Hagemann-White 1981, S. 24) legitimieren.

Die Dynamik der Geschlechterverhältnisse, die auch die Entwicklung der individuellen geschlechtlichen Identität der Kinder im Sozialisationsprozess beeinflusst, unterschiedliche soziale Erwartungen an das jeweilige Geschlecht (Geschlechterrollen) sowie damit einhergehende kognitive Vereinfachungen und Pauschalisierungen von Personengruppen (Geschlechtsstereotypen) beinhalten kann, beeinflusst diese Asymmetrien. Sie befördert Geschlechterungleichheit und Hierarchisierungen zwischen Erwachsenen und Kindern und sie kann, aufgrund der differenten Positionszuweisungen, Gewalt gegenüber Frauen, Kindern und Jugendlichen begünstigen.


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