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Wie Krippenkinder im digitalen Zeitalter lernen

Kitas bemühen sich darum, die Lebensrealität der Kinder in ihren Alltag aufzunehmen. Diesen Anspruch zu verwirklichen ist gar nicht so leicht, denn das Leben der Menschen verändert sich rasant. Wir befinden uns mitten in einer sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Revolution, die durch die Digitalisierung ausgelöst wurde und immer weiter vorangetrieben wird. Die Aufgabe von Pädagog*innen und Eltern besteht unter anderem darin, den Kindern die Welt, in die sie hineingeboren wurden, „zur Verfügung zu stellen“, damit sie erforscht und verstanden werden kann. Für diese Tätigkeit hat jedes Alter seine eigenen Methoden.

Krippenkinder sind mit der Entdeckung der Welt mittels elementarer Experimente beschäftigt. Die ersten Lebensjahre sind davon bestimmt, die eigene Lebensumgebung zu beobachten, zu ordnen und zu verstehen. Begonnen wird mit der Entschlüsselung der physikalischen Grundfunktionen der Welt: Die Mutter sucht den Blickkontakt zu ihrem Kind. Während das Kind sie erwartungsvoll ansieht, hält sie ein Tuch vor ihr Gesicht und nimmt es wenige Sekunden später wieder weg. Das Kind quietscht vor Vergnügen. Dieses Spiel wird immer und immer wieder wiederholt.

Für die Mutter ist es eine Freude, ihrem Kind diese fröhliche Reaktion zu entlocken. Für das Kind bestätigt sich eine Erkenntnis, die es schon früh gewonnen hat: Dinge, die ich nicht sehen kann, sind dennoch da! Diese Erkenntnis ist mehr als eine Erfahrung mit den physikalischen Eigenschaften unserer Welt, es ist die Erkenntnis, nicht alleine zu sein und das verlässliche Wissen, das eine Bezugsperson da ist, auch wenn sie aus dem Gesichtsfeld verschwindet.

Das Smartphone begleitet die Entwicklung

Die heute geborenen Kinder haben schon sehr bald nach der Geburt einen kleinen Bildschirm vor dem Gesicht. Dieser Bildschirm wird ihr Leben bestimmen, er wird sie während ihres gesamten Aufwachsens begleiten. Wenn das Kind älter wird, wird es seine Baby- und Kinderfotos auf diesem Bildschirm ansehen. Eine Bezugsperson wird über diesen Bildschirm mit ihm sprechen.

Diese Technologie gehört aber nicht zu den Phänomenen der Welt, die sich mit den Lernmethoden der frühen Jahre, dem Hantieren und Manipulieren, entschlüsseln lassen. Diese Lernmethoden reichen nicht aus, um für die Funktionsweisen der smarten Technologie Erklärungen zu finden.

Ein neugeborenes Kind hat keine Sprache, um Fragen zu stellen. Es kann nicht losgehen, um z. B. nachzusehen, was sich hinter einer Tür verbirgt. Es hat noch gar nicht erfahren, dass sich hinter der Tür etwas verbirgt. Die Welt um das Kind herum besteht aus Geräuschen, Licht und taktilen Reizen. Das kleine Kind muss diesem „Chaos“ eine Ordnung geben, um sich darin zurechtzufinden.

Es beobachtet die Welt um sich herum, beginnt mit den Personen und Gegenständen zu kommunizieren und findet Kategorien und Zusammenhänge. Immer wiederkehrende Ereignisse, sich wiederholendes Verhalten der Personen und rhythmische Abfolgen im Tages- und Wochenlauf führen zur Verstetigung von Wissen und damit zu Erwartungshaltungen des Kindes gegenüber Gegenständen und Personen.

Das Kind lernt, bestimmten Dingen Eigenschaften zuzuordnen und ein bestimmtes Verhalten der Bezugspersonen zu erwarten. Es vergewissert sich, indem es versucht, bestimmte Reaktionen immer wieder hervorzurufen. Das Lernen der ersten Jahre ist von Aktion und Reaktion bestimmt.

Die meisten Eigenschaften der dinglichen Welt sind sehr verlässlich hervorrufbar. Diese Erfahrung vermittelt dem Kind Sicherheit und hilft ihm, sich auf eine bestimmte Art und Weise richtig und sicher zu verhalten: Dinge fallen zu Boden, wenn sie vom Tisch geschubst werden. Dinge machen Geräusche, wenn man sie zusammenschlägt. Dinge lassen sich verbinden und wieder trennen. Dinge verändern ihr Erscheinungsbild, wenn sie sich schnell im Kreis drehen usw. Auf eine Aktion folgt eine Reaktion – dies ist die elementare Erfahrung der ersten Lebensjahre.

Wie verhält es sich aber mit dem Verstehen von Dingen und Funktionen, die technisch komplex aufgebaut sind oder digitale Elemente enthalten? Wir haben dies in einer Krippe in Berlin ausprobiert.

Die ferngesteuerten Autos

Im Raum der 18 Monate alten Kinder lagen eines Tages ferngesteuerte Autos und die dazugehörigen Fernbedienungen auf dem Boden. Die Fernbedienung funktionierte über Funk, es gab also kein sichtbares Element, welches eine Verbindung zwischen den kleinen Autos und dem Steuerelement hergestellt hat. Die Kinder waren neugierig, manche nahmen sich ein Auto und versuchten es auf dem Boden entlang zu schieben. Einige Kinder fanden die Fernbedienungen interessant und drückten darauf herum. Überrascht stellten sie fest, dass die Autos sich bewegten, wenn auf der Fernbedienung herumgedrückt wurde. Sie liefen zu den Autos, drehten diese um, schauten zu ihrer Bezugserzieherin und schließlich nahm ein Kind eine Fernbedienung in die Hand.

Nach und nach lernten die Kinder, dass eine Fernbedienung ein bestimmtes Auto fahren lässt. Einigen Kindern machte dieses Spiel Angst und sie verließen den Raum. Einige Kinder hielten sich am Rand des Geschehens auf und beobachteten. Die Kinder mit den Fernbedienungen versuchten, die Autos zum Fahren zu bringen. Sie brauchten noch Zeit, um festzustellen, dass ein Druck auf die kleinen Pfeiltasten die Fahrtrichtung der Autos bestimmt. Die Autos fuhren also wild durcheinander und einige Kinder liefen diesen hinterher, um sie anzuheben und in die richtige Fahrtrichtung zu stellen. Die Kinder blickten immer wieder zwischen den Fernbedienungen und den Fahrzeugen hin und her. Sie waren irritiert. Die gewohnte, so oft beobachtete Abfolge von Aktion und Reaktion war irgendwie unterbrochen.

Dies führte zur Faszination. Einige Kinder beschäftigten sich intensiv mit diesem Spiel. Die pädagogischen Fachkräfte haben die ferngesteuerten Autos an vielen aufeinanderfolgenden Tagen angeboten. Die Kinder wurden immer geschickter und konnten die Fahrzeuge bald sicher steuern. Die Fachkräfte unterstützten dieses Spiel, indem Fahrbahnen auf dem Boden mit farbigem Klebeband markiert wurden. Sie stellten einen großen Holzbogen darüber, durch den die Fahrzeuge hindurchfahren sollten. Im Lauf der Zeit gelang auch diese Übung.

Die Kinder gewöhnten sich an dieses Spiel, und bald wurde es uninteressant und die Kinder wandten sich anderen Welterkundungen zu. Zurück blieb die Frage: „Haben die Kinder verstanden, wie die Technik funktioniert, oder haben sie nur akzeptiert, dass es so ist?“
Kleinkinder sind an Fernbedienungen gewöhnt. Die Autotür öffnet sich auf einen Klick hin, der Fernseher geht an, wenn auf die Fernbedienung gedrückt wird. Dieser Vorgang ist sehr faszinierend. Schon Babys versuchen, an die Fernbedienungen zu Hause heranzukommen, um auf ihnen herumzukauen, herumzudrücken, sie fallen zu lassen und zu schütteln. Sie versuchen, die Funktionsweise der Fernbedienung zu entschlüsseln. Nur unterscheidet sich eine von Menschen gemachte Technik von den Naturphänomenen, auf die das Lernen der ganz kleinen Kinder ausgerichtet ist.

Wie funktioniert das?

An dieser Stelle stehen wir Erwachsenen vor einer Entscheidung: Wir können es hinnehmen, dass die Kinder die Technologien unserer Zeit einfach so akzeptieren, ohne sie zu verstehen. Wir können aber auch versuchen, diese Technologie verständlich zu machen. „Aber wie soll das funktionieren?“, werden Sie sich fragen, wer weiß denn schon, wie Signale ohne Kabelverbindung übertragen werden?

Auch ich weiß es nicht und kann es an dieser Stelle nicht erklären. In solchen Situationen sollten wir Pädagog*innen daran denken, dass die uns anvertrauten Kinder sehr schnell älter werden. Wir wissen, dass jedes neu erworbene Wissen in die schon gemachten Erfahrungen integriert werden wird und deshalb Erfahrungen sehr wichtig für das Lernen sind. Warum also sollten wir in der Krippe nicht darüber nachdenken, für welche wichtigen Phänomene unserer modernen Welt wir den Kindern einen Erfahrungsgrundstein mitgeben könnten?

Diesem Gedanken folgten auch die Fachkräfte der Kindergruppe. Sie holten einen Schraubenzieher und nutzten einen Morgenkreis mit den inzwischen 20 Monate alten Kindern, um gemeinsam herauszufinden, wie die ferngesteuerten Autos funktionierten. In dem aufgeschraubten Auto fanden sich ein kleiner Motor, ein Akku und die beweglichen Achsen, an denen die Räder befestigt sind. Es wurde ausprobiert, wie die Achse bewegt werden muss, damit das Auto in eine bestimmte Richtung fährt. Einige Kinder wussten, dass Akkus Strom brauchen. Die Kinder betrachteten das Innere des Autos mit Interesse und waren dann doch sehr froh, als das Auto wieder zusammengeschraubt war und wieder funktionierte. Sie wussten, dass Dinge, die kaputt sind, manchmal nicht wieder repariert, also zur Funktion zurückgebracht werden können.

Die bald 2-jährigen Kinder hatten einige wichtigen Erfahrungen gemacht: Sie hatten verstanden, dass sie die Autos bewusst steuern können. Sie konnten eine Fernbedienung bewusst und zielgerichtet einsetzen. Sie hatten in das Innere eines technischen Gegenstandes geschaut. Dies werden sie in ihrem Leben noch sehr häufig tun (müssen), aber ein Anfang war gemacht.

Digitale Technologien irritieren kleine Kinder und machen sie neugierig. Manche Phänomene passen noch nicht in ihre Erfahrungswelt und sind deshalb nicht direkt erklärbar. Trotzdem ist es wichtig, sie mit diesen Dingen zu konfrontieren und sie dabei „hinter die Kulissen“ schauen zu lassen.

Das Spielschema der Transformation ist eine wichtige Lernmethode vor dem 2. Lebensjahr. Dieses können sich die Krippen zunutze machen und immer mal wieder ein technisches oder digitales Gerät vor den neugierigen Augen der Kinder auseinandernehmen.

Soziales Lernen in der digitalen Welt

Die 20 Monate alte Lisa hat ein rechteckiges Bilderbuch gefunden. Sie schaut es sich aber nicht an, wie es eigentlich die Erwartung wäre. Sie läuft zu einer Gruppe Kinder, hält sich das Buch flach vor ihr Gesicht und sagt „klick“. Dann hält sie den Kindern die flache Seite des Buches hin und sagt „Foto gemacht“.

Wir Menschen lernen am Modell, das heißt, dass wir uns in unserem Verhalten an den Menschen um uns herum orientieren. Auf diese Weise lernen die Kinder, bezogen auf eine Situation übliches und nicht übliches Verhalten voneinander zu unterscheiden. Sie ahmen die Handlungen der erwachsenen Personen mit Gegenständen nach und erschließen sich so deren Sinn. Dazu brauchen sie nicht unbedingt die realen Gegenstände. Sie sind in der Lage, mit den Dingen „als ob“ zu handeln. Die Puppe wird „als ob“ mit dem Baustein gefüttert, und nun wird auch die Benutzung eines Tablets oder Smartphones in einer „als ob“-Handlung nachempfunden. Dieses Spiel sollte von den pädagogischen Fachkräften genau beobachtet werden. Das Interesse der Kinder an diesen Dingen kann so erkannt und zum Lernen genutzt werden.

Auch kann diese Beobachtung zum Thema von Elterngesprächen oder Elternabenden werden. Eltern ist es häufig nicht klar, dass schon Kleinkinder das Verhalten ihrer nahen Bezugspersonen übernehmen.
Anton (16 Monate) hat schon seit einigen Tagen nur noch eine freie Hand zum Spielen. Er hält in der anderen Hand die Attrappe eines Smartphones. Er legt sie selten aus der Hand. Während der Mahlzeiten besteht er darauf, dass sie neben seinem Teller liegt und zwar so, dass der Bildschirm zu sehen ist. Hin und wieder schaut er auf diesen imaginären Bildschirm.

Kinder verstehen schnell, dass die Dinge in ihrer Umgebung einen Sinn haben. Sie können nicht fragen, sondern erschließen sich aus der Beobachtung des Umgangs der Bezugspersonen mit den Gegenständen deren Sinn. Sie lernen dabei, dass Gegenstände mit unterschiedlichem emotionalen Engagement benutzt werden. Aus dieser Beobachtung wird abgeleitet, dass je nach emotionalem Engagement die Verbindung der Dinge zur benutzenden Person größer oder kleiner ist.

Anton möchte es seinem Vater gleichtun und ahmt dessen Verhalten nach. Das wichtigste Attribut der Vaterfigur ist das Smartphone. Für Anton ist es ein richtiges Verhalten, das Smartphone stets mit sich herumzutragen. Die Reaktion der pädagogischen Fachkräfte sollte entsprechend respektvoll und gewährend ausfallen. Ein Gespräch mit den Eltern ist jedoch notwendig. Sie müssen verstehen, wie sehr sie ihr Kind mit dem eigenen Verhalten beeinflussen.

Zum Schluss

Die digitale Revolution verschont auch die Krippen nicht. Die Erwachsenen tragen digitale Geräte in den Händen, die uns umgebenden Gegenstände sind zunehmend digitalisiert. Die kleinen Kinder beobachten indirekte Funktions- und Handlungsweisen im familiären und institutionellen Alltag. Pädagogische Fachkräfte in den Krippen sollten sich über diese Entwicklung Gedanken machen, indem sie das Thema in Teammeetings diskutieren und im Team abgestimmte Handlungen daraus ableiten.

Es gibt noch sehr wenige Erfahrungen in diesem Bereich, also muss experimentiert, beobachtet und reflektiert werden. Ganz wichtig: Die Kinder brauchen weiterhin jede Menge einfache Alltagsmaterialien zum Hantieren und Manipulieren. Sie brauchen die Möglichkeit, die elementaren Spielhandlungen wieder und wieder auszuführen und viele Stunden Zeit und Gelegenheit für Erkundungen in der Natur. An diesem Vorgehen muss die Krippe nichts ändern, im Gegenteil, sie sollte es intensivieren.

Intensiviert werden sollten auch die Beobachtung und die auswertenden und reflektierenden Gespräche darüber im Team. Nur so kann erkannt werden, für welche technischen und digitalen Phänomene die Kinder Interesse zeigen und wie die Krippe angemessen darauf reagieren kann. Nur so kann die Krippe mit den Eltern aufklärend zusammenarbeiten.

Der Einsatz von Tablets und Apps in der Krippe spielt dabei gar keine Rolle. (Eine Ausnahme bildet die Alltagsdokumentation oder die Kommunikation mit den Eltern in den Händen der Pädagog*innen.) Den Kindern wird weiterhin von den pädagogischen Fachkräften vorgelesen und vielleicht wird ein altes Smartphone oder Tablet einmal aufgemacht, um gemeinsam darüber zu staunen, was sich in seinem Inneren befindet.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung aus
klein und gross 05 / 2021, S. 26-29


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