Hans-Joachim Müller

Selber denken macht schlau

Philosophieren mit Kindern als pädagogische Grundhaltung

Was ist Philosophieren? Diese Frage ist von ihrem Charakter her selbst eine philosophische Frage und kann nicht per Definition beantwortet werden. Eine mögliche Antwort setzt reflexives Denken voraus. Deshalb ist es sinnvoll, sich mit einigen Fragen zu beschäftigen und im Ergebnis für sich selbst zu erkennen, was Philosophieren sein könnte.

Welche Anlässe können zum Philosophieren mit Kindern führen?

Kinder fragen viel, besonders häufig kommen im Kindergartenalter die „Warum-Fragen“vor. Diese Fragen entstehen aus dem Staunen der Kinder über Erscheinungen (Phänomene), denen sie begegnen und die sie sich nicht erklären können. Es geht also darum, dem Grund, der vor dem Akt des Staunens liegt, auf die Spur zu kommen.

Das geschieht bei Kindern wie bei Erwachsenen durch Nachdenken (Reflexion). Die Frage ist demnach eine geistige Suchhandlung, die nicht aus dem Nichts entsteht, sondern das Ergebnis denkender Erfahrung ist (John Dewey).

Leider empfinden Erwachsene Kinderfragen häufig als lästig oder bemühen sich, umfassende Antworten zu geben, um so den Kindern ihr Verständnis von Welt zu vermitteln. Beide Formen dieses Umgangs mit Kinderfragen lassen Fragelust und Fragekompetenz langsam absterben. In der Schule werden die Kinder an sogenannte „didaktische Fragen“ gewöhnt, auf die es immer eine Antwort gibt, die wiederum zumindest eine(r) im Raum kennt – die Lehrkraft.

Frageblitzlichter und Frage-Gärten
Frageblitzlichter und Frage-Gärten sind zwei Methoden, die Kindern eine positive Bedeutung des Fragens vermitteln und sie gleichzeitig zum selbständigen Nachdenken anregen.

Das Blitzlicht geht so: „Woran denkt ihr, wenn ihr das Wort ‚Wald‘ hört?“ Die Kinder nennen ihre Assoziationen und verraten damit schon, welches für sie ein Wesensmerkmal des angesprochenen Begriffs darstellt.

Ein Frage-Garten lasst sich auf diese Weise bauen: „Wenn ich gleich mit dieser Glocke klingele, überlegt ihr bitte, welche Frage für euch beim Glockenton ganz wichtig war. Merkt sie euch und sprecht eure Frage in mein Diktiergerat“ (die Kinder können bekanntlich noch nicht schreiben). Die Fragen werden aufgeschrieben, mit einem für die Kinder verständlichen Symbol versehen und mit Bindfaden im Gruppenraum aufgehängt. Zu festgelegten Zeitpunkten wird eine Frage abgeschnitten, von der Erzieherin vorgelesen und mit den Kindern erörtert. Dabei reichen zehn Minuten Gesprächszeit zunächst völlig aus. Selbstverständlich darf dieser Zeitrahmen überschritten werden. Die Kinder merken auf diese Weise, dass es auf ihre Fragen „ankommt“.


Mit dem Hebammen-Prinzip zur Sinnfrage

Wie also reagiere ich, wenn mich zum Beispiel ein Dreijähriger fragt: „Warum regnet es?“ Statt dem Kleinen den Wasserkreislauf zu erläutern, entspräche es guter Praxis des philosophischen Umgangs mit Kinderfragen, das „Hebammen-Prinzip“ anzuwenden und das heraus zu holen, was sich im Kopfe dieses Kindes bereits an Alltags- und Erfahrungswissen angesammelt hat. Das geschieht durch die einfache Rückfrage: „Was denkst du denn, warum es regnet?“ Die vielleicht überraschende Antwort meines Gesprächspartners: „Es regnet, weil die Blumen durstig sind!“

Diese Antwort verdeutlicht zweierlei: Zum einen hat das Kind keine Wissens- sondern eine Sinnfrage gestellt, die nicht immer als solche erkannt wird. Da Kinder in diesem Alter Welt erkunden, treten Sinnfragen häufiger auf als wir Erwachsene an- bzw. wahrnehmen. Gerade deshalb ist es wichtig, zurück zu fragen. Zum andern wird sichtbar, dass dieses Kind durchaus in der Lage ist, seine Welterfahrung kausal zu deuten: Es muss einen Grund haben, warum es regnet. Da mit Wasser Durst gelöscht werden kann (eigene Erfahrung, die allerdings nicht auf dem Konsum von Regenwasser fußt), gibt es womöglich Lebewesen, die ebenfalls Durst empfinden, nicht in geschlossenen Räumen leben und sich nicht bewegen können um sich Getränke zu holen. Eine beachtliche Denkleistung, die der Junge erbracht hat und von der wir möglicherweise niemals etwas erfahren hätten, wenn wir sogleich mit dem Wasserkreislauf aufgewartet hätten.

Die beiden Bücher von Antje Damm, „Frag mich“ und „Ist 7 viel?“ (Moritz Verlag) eignen sich in besonderer Weise für diesen an Fragen orientierten Einstieg ins Philosophieren. Die Kombination von Bild und Frage ermöglicht unterschiedliche Zugänge, zumal die Bilder sich nicht darauf beschränken, die Frage zu illustrieren, sondern jeweils eigene Deutungen zulassen. Während der erste Titel Fragen enthält, die ein Gesprächsangebot enthalten, tragen die Fragen im zweiten Band bereits philosophischen Charakter.



Anlässe für nachdenkliche Gespräche

Steine, Löffel, Vögel, natürliche und künstliche Gegenstände oder eine Blume liefern ebenfalls Anlasse für philosophische Denkbewegungen.

Eine Steine-Sammlung führt zur Betrachtung zunächst der Besonderheiten, schließlich der Gemeinsamkeiten „aller Steine dieser Welt“ (Was macht den Stein zum Stein?), aber auch zu der Frage: „Woher weiß ich eigentlich, dass Gebilde dieser Art ‚Stein‘ heißen? Die Sprache als menschliche Konvention gerät so in den Blickpunkt, gerade für Kinder, die diese Sprache erlernen, eine wichtige Erfahrung (Der Stein könnte auch „BLUBB“ heißen!).

Löffel und Vögel lassen sich von ihrem jeweiligen Wesen her vergleichen: Unterschiede und Ähnlichkeiten erkennen, nicht wertend vergleichen, beides zentrale Methoden des Philosophierens, und Gemeinsamkeiten veranschaulichen. In diesem Falle nicht durch einen Gesprächsdiskurs, sondern auf präsentative Weise: Zeichnet einen „Löffelvogel“!

Gegenstände sortieren bereitet Kindern schon in frühem Alter Vergnügen, sie wollen den Dingen eine (ihre) Ordnung geben. Indem sie bestimmte Gegenstände „der Natur“ zuordnen, verraten sie ihren Naturbegriff („Alles, was lebt..., alles, was wächst..., alles, was grün ist...“ usw.). Wenn über eine präsentierte Blume gesprochen wird, kann die Frage auftauchen, ob diese glücklich ist. Dies vertieft nicht etwa Fragen des kindlichen Naturverständnisses, sondern führt auf Umwegen zu kindlichen Glückskonzeptionen – ein „Klassiker“ des Philosophierens mit Kindern.



Dem Streit auf der Spur

Im Folgenden mochte ich eine exemplarische, philosophische Denkbewegung aufzeigen. Dies kann mit Hilfe eines kurzen Textes, in diesem Falle eines Gedichts aus dem Band „Ich lieb dich trotzdem immer“ (Angela Sommer-Bodenburg, dtv) geschehen:

Wenn/auf dem Hof/die Großen/uns Kleine/immer/stoßen.
Dann/war ich/gerne/auf dem Mond,/denn der/ist unbewohnt.

Indem ich den Text in zwölf Teile gliedere, schaffe ich die Voraussetzungen für ein Texttheater mit zwölf Mitspielerinnen und einer Dirigentin. Jedes Kind spricht nur seinen Textteil, wenn die Dirigentin mit dem Finger auf es zeigt (auch mehrmals hintereinander). Wie das Kind seinen Text spricht, bleibt ihm überlassen. Es fängt an, sich auf diese Weise in der Kunst des Deutens zu üben, eine Grundfähigkeit (Basiskompetenz) für das Philosophieren und eine angenehme Alternative zum Vorlesen.

An diesen Text werden Fragen geknüpft, die vier Stufen einer philosophischen Denkbewegung exemplarisch markieren:

(1) Ist es wirklich immer so, dass die Großen die Kleinen stoßen?
Was tun die Großen außerdem noch? Wie verhalten sich die Kleinen? Tun wirklich alle Großen immer dasselbe? (Mit diesen Fragen regen wir das Hinterfragen einer gegebenen Situation an.)

(2) Was heißt überhaupt „groß“ bzw. „klein“? Kann man zugleich groß und klein sein? Gehörst du eher zu den Großen oder zu den Kleinen? (Mit diesem Fragen klären wir miteinander die relativen Begriffe groß und klein.)

(3) Was ist schon daran, groß zu sein? Gibt es auch Gutes beim Kleinsein? Was warst du lieber? Warum? Wie fühlt man sich, wenn man klein ist? Was meinst du, wie sich wohl die Großen fühlen? (Mit diesen Fragen holen wir persönliche Wertungen ins Bewusstsein und versuchen uns in andere einzufühlen/Empathie.)

(4) Was tust du, wenn es Streit gibt? Warum gibt es überhaupt Streit (Streitgründe)? Würdest du auch manchmal gern auf den Mond oder sonst wohin verschwinden? Weshalb? Warum nicht? Was nutzt es, wenn man davon läuft? Gabe es noch anderes, was du tun könntest?

Dieses Beispiel einer philosophischen Denkbewegung läßt sich in entsprechend abgewandelter Form auf viele Texte anwenden und hilft allen Beteiligten, philosophisches Denken erfahrbar und begreifbar zu machen – auch und gerade im Kindergarten.

Philosophieren mit Bilderbüchern
Mit dem Buch „Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte“ (Martin Baltscheit, Beltz Verlag) findet eine Form des Philosophierens statt, die noch relativ selten vorkommt, die situative Rollenbefragung. Die Vorleserin greift eine Stelle der Geschichte heraus, die eine szenische Leerstelle enthält, also Raum für Fragen bietet. Sie fordert die Zuhörenden auf, sich in den Löwen hinein zu versetzen und sich zu überlegen, was der Löwe in dieser Situation denken konnte. Die Kinder antworten in knappen Sätzen und offenbaren damit ihre Fähigkeit zur Empathie (die unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann), ebenfalls ein wichtiges Handwerkszeug des Philosophierens.

Bei Kindern im Kindergartenalter kommt es darauf an, Fähigkeiten durch philosophische Fragestellungen zu entwickeln, die sich am ehesten mit den Begriffen „Differenzierendes Wahrnehmen“, „Differenzierendes Denken" und „Differenzierendes Handeln“ beschreiben lassen.


Werte(n) lernen durch Philosophieren – mit Kindern „Philosophisches“ in der Kita entdecken

Wie können Kinder in der Kita Werte erkennen und entsprechend handeln? Was ist überhaupt ein „Wert“ oder gar ein „Grundwert“? Das Philosophieren weist Wege, wie Kinder durch eigenes Nachdenken etwa über „Gut“ und „Böse“, über „Gerechtigkeit“ oder „Regeln“ werteorientiertes Handeln als Bestandteil eines gelingenden Lebens begreifen. Damit erfährt das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung jene Unterstützung, die es braucht, damit kindliche Bildungsprozesse als Persönlichkeitsbildung verstanden und verständigungs- und werteorientiertes Lernen ermöglicht werden.

Zugleich lernen Kinder mit jenen Verunsicherungen umzugehen, die sich aus dem Widerspruch zwischen Wertevermittlung und tatsachlichem Verhalten vieler Erwachsener ergeben.

Bevor Pädagoginnen und Pädagogen mit Kindern über Werte philosophieren, empfiehlt sich eine Art Selbstprüfung: Was verstehe ich unter „Werten“, wie sieht meine persönliche Werteskala aus, welche Werte erscheinen mir unverzichtbar, welche verhandelbar? Nur wer selber noch Fragen an sich und die Welt hat, eignet sich für philosophische Gespräche.

Philosophieren mit Kindern verlangt, sich selbst zu erkennen, indem ich meine Grundüberzeugungen davon benenne, was eigentlich „gut“ und was „böse“ ist. Philosophieren mit Kindern setzt voraus, sich selbst zu prüfen, zum Beispiel, was ich weiß oder nicht weiß. Wenn diese „Selbstprüfung“ im Team des Kindergartens geschieht, kann dabei eine lehrreiche, interne Fortbildung entstehen, die hilft, eine gemeinsame Grundlage für einen nachdenklich-philosophischen Umgang mit den anvertrauten Kindern zu finden.

Als Einstieg für eine Teamfortbildung über „Werte“ dient ein „Blitzlicht“: Woran denke ich, was geht mir durch den Kopf, wenn ich den Begriff „Werte“ höre? Blitzlichter fordern assoziatives Denken heraus, es geschieht spontan und ohne langes Überlegen. Die Gedankenassoziationen der Teilnehmer/innen werden auf Kärtchen notiert und ausgelegt. Die Notate werden in passende Gruppen sortiert. Auf diese Weise entsteht ein erstes Gedankenbild der Gruppe – durch eigenes Tun und nicht durch Vermittlung von wem auch immer.

Eine etwas eingeschränkte Form des Blitzlichtes bietet das Akronym. Das Wort wird nicht waagerecht, sondern senkrecht an eine Tafel geschrieben:

W
E
R
T

Zu jedem Buchstaben notieren die Teilnehmer/innen einen Begriff, der für sie in einem Zusammenhang zu ihrem Verständnis von „Wert“ steht. Schließlich schreiben die Teilnehmer/innen Wörter mit dem Baustein „wert“ auf. So entsteht eine Sammlung eigener Gedankensplitter, die den inhaltlichen Einstieg in ein schwieriges Thema ermöglicht und zugleich verdeutlicht, dass sich die Unterschiedlichkeit der Menschen auch im Umgang mit der „Wertefrage“ widerspiegelt.

Werte geben Orientierung im Leben, helfen bei schwierigen Entscheidungen. Aber welches sind diese gemeinsamen Werte, nach denen eine Gesellschaft oder eine Gruppe von Menschen ihr Zusammenleben ausrichtet? Hat nicht jede(r) ihren/seinen eigenen, kleinen Werte-Kompass vor Augen? Und hat sich nicht im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte die Wertigkeit der Werte stets verschoben? Zählen in unserer Gesellschaft primär noch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Frieden und Toleranz oder geraten diese in den Hintergrund zugunsten von Schönheit, Fitness, Ehre und Familie, Statussymbolen („Mein Haus, mein Auto, mein Boot“) oder Egoismus („Unterm Strich zähl „ich!“)?

Kann man angesichts dieser Differenz Kindern Werte beibringen wie Vokabeln oder mathematische Einsichten? Kann man wirklich „Werteerziehung“ betreiben und damit Kulturaneignung durch Gewöhnung verlangen? Die Alternative wäre Kulturaneignung durch Fragen, also eine reflexive Form. Dazu gehörte, Kinder zum Werten zu erziehen. Diesen Weg beschreibt das Philosophieren als Haltung, Methode und Inhalt.

Philosophieren bedeutet, gute Gründe für etwas durch eigenes Nachdenken zu finden, das eigene Vorstellungsleben auf den Begriff zu bringen und Begriffe zu klären versuchen. Nehmen wir als erstes Beispiel den Wert „Gerechtigkeit“. Warum sollte ein Mensch in Afrika, der abends vor Hunger nicht in den Schlaf kommt, sich Gedanken darüber machen, wie die Welt in 50 Jahren aussieht? Seine Motivation, dies zu tun, erhöhte sich, wenn weltweit soziale Gerechtigkeit als Maßstab menschlicher Beziehungen verwirklicht wäre. Gerechtigkeit ist ein weltweit bekanntes, basales Prinzip, das in keiner Gesellschaftsordnung erfunden, wohl aber in vielen noch umgesetzt werden muss.

Wenn „Gerechtigkeit“ als Wert eine allgemeine Zielorientierung darstellt, bedarf es einer Norm als konkrete Handlungsorientierung (Normen als Werte in kleiner Münze) sowie einer Regel (konkrete Umsetzung). Konkret verlangte die Norm „Gleichbehandlung“ (du sollst jede/n gleich behandeln) die dazu gehörige Regel (niemand betritt ohne Erlaubnis den Außenbereich).

Kinder bewegen sich auf dem Wege des Philosophierens zum wachsenden Verständnis der vielfältigen Erscheinungsformen von Gerechtigkeit, wobei austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit in der Lebenswelt des Kindes eine besondere Rolle spielen.

Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget veranschlagte den Übergang von der heteronomen (Autoritäten setzen Regeln) zur autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en Phase (Kinder entscheiden zunehmend selbst, was gut und böse ist) auf das Stadium des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule. Tatsächlich beginnt dieses zweite Stadium in der moralischen Entwicklung von Kindern bereits im Kindergarten.

Diese Tatsache erfordert zunehmend nachdenklich-philosophische Gesprächssituationen, in denen Klärungsversuche unternommen werden. Bilderbücher eignen sich dabei in besonderer Weise, diese Prozesse einzuleiten und zu begleiten und die Methode des Philosophierens für beide Seiten (Kinder und Erzieher/innen) gewinnbringend zu nutzen.

In der Regel handelt es sich dabei um solche Kinderbücher, die zum selbstständigen Nachdenken anregen, ohne didaktische Absicht („pädagogischer Zeigefinger“) daher kommen und eine Aufforderung zur Selbsttätigkeit darstellen. Sie sind ungeeignet, wenn sie den Leserinnen und Lesern vorschreiben, was sie zu tun und was sie zu denken haben. Kinderbücher sollen nicht Werte oder Inhalte normativnormativ|||||Normativ  bedeutet normgebend, somit wird etwas vorgeschrieben, dass Normen, Regeln oder ein „Sollen“ beinhaltet. vermitteln, keine Werte vorschreiben, sondern zum Werten auffordern. Dies gilt auch für Bücher mit für uns sympathisch erscheinenden Werten!

Erstes Beispiel: Gerechtigkeit
Dünnes Eis: Der Novemberfrost hatte den Teich mit einer dünnen Eishaut überzogen. Der dünne Lulatsch lief Schlittschuh. Der dicke Lulatsch stand am Ufer und schimpfte: „Das ist nicht gerecht, dünner Lulatsch! Du kannst aufs Eis und ich nicht!“ „Gerecht, gerecht!“, rief der dünne Lulatsch. „Du bekommst immer die größte Wurst, dicker Lulatsch. Du solltest von Gerechtigkeit schweigen“ (Im Zwölfminutenwald, S. 25).

Mit der schlichten Frage „Wer von den beiden hat Recht?“ entsteht eine Diskussion über den Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit.

Zweites Beispiel: Ameise und Bemeise
„Gut!“, sagte Ameise, „wir teilen.“ „Aber halbe-halbe!“, sprach Bemeise. „Halbe-halbe? Du hast nichts getan“, rief Ameise. „Was schreist du?“ fragte Bemeise: „Ich habe gesagt, dass du die Schokolade suchen sollst. Ich habe gesagt, dass du sie tragen musst. Ich habe gesagt, dass die Verpackung weg soll. Und ich habe ausgerechnet, dass wir halbe-halbe machen müssen. Mir zittern die Knie vor Anstrengung!“ (Im Zwölfminutenwald, S. 26).

Auch hier führt die einfache Frage „Wer von beiden hat Recht?“ zum Nachdenken, in diesem Falle über Verteilungsgerechtigkeit. In beiden Gesprächsrunden steht nicht die Parteinahme der Kinder für den einen oder anderen Kontrahenten im Mittelpunkt, sondern ihre Gründe, nach denen sie urteilen. Philosophieren ist vornehmlich das Erwägen von Gründen, nicht das Gegeneinanderstellen von Meinungen.

Drittes Beispiel: Gerechtigkeit
Ein Bild zeigt einen Bären mit einem Fisch in der Hand, einen Hund auf Skiern, eine Katze, einen kleinen Matrosen und zwei Schneefiguren sowie zwei Männer mit Pudelmützen, die sich unterhalten. Die Kinder erhalten fünf Bonbons (oder vergleichbare Gegenstande) mit dem Auftrag, diese gerecht an die abgebildeten, acht Personen zu verteilen und ihre Entscheidungen zu begründen.

So entwickeln sich Gespräche, die sowohl Elemente der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit, aber auch emotionale Elemente bei Entscheidungen nach Gerechtigkeitsgrundsätzen berühren (z.B. Sympathie und Antipathie).

Viertes Beispiel: Freundschaft
Die Frage, welche Haltungen und Motive unser Verhältnis zur Natur bestimmen, bewegt auch den DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  um die Inhalte von Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ist es „Liebe“ zur Natur, sind es Nützlichkeitserwägungen, konnte es auch so etwas wie „Freundschaft“ sein? Das auszuloten gelingt, wenn versucht wird, das Vorstellungsleben der Kinder zu „Freundschaft“ auf den Begriff zu bringen.

Auf einem Tisch liegen etwa 20 Bildkarten, darunter eine, die einen Baum zeigt. Die Kinder werden gebeten, sich eine Karte mit einer Figur zu nehmen, mit der sie gern befreundet sein wurden (Anmerkung: In der Regel wird stets auch die „Baumkarte“ von einem Kind genommen!). Die Kinder präsentieren ihre Karte der Gruppe und erklären, weshalb sie mit der ausgesuchten Figur befreundet sein mochten. Besonders spannend ist die Präsentation der „Baumkarte“, da diese die Frage herausfordert „Kann man mit einem Baum befreundet sein?“ (Falls kein Kind die „Baumkarte“ greift, kann man diesen Umstand zum Anlass nehmen die Frage zu stellen, ob man nicht mit einem Baum befreundet sein kann.) Erfahrungsgemäß nennen die Kinder für eine Freundschaft mit einem Baum Gründe, die dem eigenen Nutzen zuzuordnen sind. Mit der Frage „Und was hat der Baum von der Freundschaft mit dir?“ lässt sich ein derartiges Phänomen hinterfragen und die Kinder werden angeregt, über das Wesen von Freundschaft nachzudenken. Tatsachlich nennen an dieser Stelle viele Kinder Gründe, weshalb auch der Baum von dieser Freundschaft profitiert.

Als eine Art Dilemma-Geschichte in Bildform wird ein Bild von einem Baum, in dessen Krone sich ein Baumhaus befindet, in die Mitte gelegt. Die Kinder werden gefragt, wer sie lieber sein wurden, der Baum oder das Baumhaus, und warum? Hinzugefügt werden kann die Frage, ob sie in einem Baum, mit dem sie befreundet sind, ein Baumhaus errichten wurden? Mithilfe dieses Dilemmas (Baum leidet vielleicht, in einem Baumhaus spielen Kinder gerne) werden die Kinder angehalten, durch Gebrauch ihres eigenen Verstandes moralische Entscheidungen zu treffen.

Fünftes Beispiel: Gut und Böse
Das Bilderbuch „Steinsuppe“ von Anais Vaugelade eignet sich wie kaum ein zweites, Kinder über das, was „gut und was „böse ist, reflektieren zu lassen. Ein alter Wolf nähert sich dem Dorf der Tiere. Am Haus der Henne klopft er, denn er will sich aufwärmen und eine Steinsuppe kochen. Am Ende entsteht eine schmackhafte Gemüsesuppe, zu der viele Tiere Zutaten beigesteuert haben und die in gemütlicher Runde verzehrt wird. Mittendrin steht der Wolf auf, verabschiedet sich und geht. Die Frage, ob er wiederkomme, lässt er unbeantwortet. Wer dem Vorlesen ein Blitzlicht zum Titelbild des Buches voranstellt – Was denkt ihr, was geht euch durch den Kopf, wenn ihr dieses Bild seht? – erfährt, welche gedanklichen Assoziationen Bilder erzeugen und wie sie unsere Wertungen beeinflussen. Die meisten Kinder stellen negative Verbindungen her, wobei die „Märchen-Sozialisation“ („der böse Wolf“) sicherlich ihren Teil dazu beiträgt. In der Mitte der Geschichte – die Tiere sitzen beim Abendessen und der Wolf teilt die Suppe aus – empfiehlt es sich, die Kinder zu fragen, ob die vom Titelbild geschürten Erwartungen erfüllt worden sind („Habt ihr gedacht, dass der Wolf so ist?“). Als der Wolf die Tafelrunde verlasst, fragt ihn die Ente: „Kommen sie bald wieder?“ Aber der Wolf antwortet nicht. An dieser Stelle sollten die Kinder die Möglichkeit erhalten, begründet über das mögliche Verhalten des Wolfs zu spekulieren: Kommt er wieder oder nicht?

Die Schlussfrage leitet den eigentlichen Diskurs ein: „Ist das in dieser Geschichte ein guter oder ein böser Wolf?“ Erfahrungsgemäß beteiligen sich Kinder lebhaft an dieser Debatte und offenbaren dabei indirekt ihr aktuelles Verständnis von „gut“ und „böse“.

Dabei kommt schon ein Vierjähriger auf die Idee, dass er beides ist, denn zum einen „trickst“ er die anderen Tiere aus, zum anderen verschafft er ihnen einen schönen Abend. Indem wir mit Hilfe einer Geschichte wie „Steinsuppe“ Kinder ihr Vorstellungsleben von „gut“ und „böse“ entwickeln lassen, entsprechen wir einer Forderung des Philosophen Jürgen Habermas, wonach nur diejenigen moralischen Prinzipien als universell gültig anzusehen sind, auf die sich Teilnehmer/innen in einer von Zwang freien, gleichberechtigten Diskussion haben verständigen können (Diskursethik).


LITERATUR

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus
frühe kindheit 03-18, S. 30-35
 

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