Besonderheiten ländlicher Regionen (Stadt/ Land)

Der folgende Beitrag ist ein Auszug eines  Forschungsprojektes im Rahmen des Master-Projektstudiums, welches von sieben Studentinnen der Leuphana Universität Lüneburg im Rahmen des Studiengangs Lehramt an Berufsbildenden Schulen mit der Fachrichtung Sozialpädagogik in Zusammenarbeit mit dem nifbe  durchgeführt wurde. Ziel war es durch empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Erhebungen Netzwerkprozesse im Bereich der Bildung, Erziehung und Betreuung in den Landkreisen Lüchow-Dannenberg, Uelzen und Lüneburg zu untersuchen, die zu einem gelingenderen Leben von Mädchen und Jungen im Alter von 0-10 Jahren im ländlichen Raum beitragen. Stand März 2010. Der folgende Auszug geht auf die Besonderheiten ländlicher Regionen im Vergleich Stadt/ Land ein.

 

Das besondere Forschungsinteresse gilt Netzwerkprozessen im Bildungsbereich der Landkreise Lüchow-Dannenberg, Uelzen und Lüneburg. Diese Landkreise, insbesondere Lüchow-Dannenberg und Uelzen, zeichnen sich durch ihre ländlichen Strukturen aus. Die Diskussion um den ländlichen Raum, insbesondere im Hinblick auf den Lebensalltag (Lebensqualität) und somit dem Aufwachsen von Mädchen und Jungen, hat an Aktualität nichts eingebüßt (vgl. Lange 1996a: 78). So sind es doch die regionalen und lokalen Umwelten, die den Kindern Räume der Aneignung ermöglichen. „Differenzen in den sozialräumlichen Lebenswelten bedingen deswegen einen unterschiedlichen Anregungsgehalt und ungleiche Chancen für Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen.
(…) Regionale Disparitäten nehmen Einfluss auf das Aufwachsen von
Kindern und Jugendlichen sowie die Lebenssituation ihrer Familien“ (BMFSFJ 2005: 69).
 
Regionale und lokale Entwicklungen prägen somit das Aufwachsen und den Lebensalltag von Mädchen und Jungen sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Die Autoren des 13. Kinder- und JugendberichteKinder- und Jugendberichte||||| Der Kinder- und Jugendbericht, der alle 4 Jahre erscheint wurde erstmals 1965 veröffentlicht, seitdem gibt es 13 der Berichte. Der Kinder- und Jugendbericht wird von einer beauftragten ExpertInnenkommission verfasst und von der Bundesregierung schriftlich herausgegeben. Ziel ist es auf der Basis des Wissens- und Erkenntnisstandes zukunftsweisende und realistische Handlungsoptionen für Politik und Gesellschaft zu erarbeiten, die in den politischen Gestaltung miteinbezogen werden kann. Der 13. Kinder- und Jugendbericht trug als Titel: Bericht über gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe.  s weisen zudem darauf hin, dass die unterschiedlichen Gegebenheiten, in denen Kinder gesellschaftlich aufwachsen, die objektiven Lebenschancen überaus unterschiedlich kennzeichnen (vgl. BMFSFJ 2009a: 45). So gilt es, neben der zentralen Stellung der Familie, die primäre Lebenswelt von Kindern hinsichtlich ihres Lebensraumes bei der Aneignung ihrer Welt zu berücksichtigen. Der Lebensraum bietet Mädchen und Jungen zum Teil unterschiedliche Chancen in Bezug auf Bildung. So ist das Leben auf dem Land von anderen Voraussetzungen und auch Problemlagen geprägt, als das Leben in der Stadt. Um Netzwerkprozesse im Bildungsbereich zu  analysieren, ist die entsprechende Berücksichtigung vorhandener Ressourcen und die Weiterentwicklung von Handlungsmöglichkeiten für das kindliche Leben auf dem Lande notwendig. Daher werden  die Besonderheiten ländlicher Regionen im Vergleich zur Stadt besonders herausgestellt.
Die nachstehenden Punkte erheben hierbei nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellen einen Überblick entsprechender Disparitäten zwischen den Besonderheiten des ländlichen und städtischen Raums dar.

 

 


 

Das Aufwachsen in unterschiedlichen Regionen

Aussagen über die Bedingungen des Aufwachsens von Mädchen und Jungen in ihren jeweiligen Regionen zu treffen, bedarf mehr als einer simplen Dichotomie von dem Stadtleben und dem Landleben. So akzentuieren die Autoren/-innen Alt, Blanke und Joos, dass vielmehr das wirtschaftliche und soziale Klima der Regionen ausschlaggebend seien, als die Urbanität als solche (vgl. Alt/ Blanke/ Joos 2005: 133).
 
Gebiete pauschal in Stadt oder Land zu unterteilen und damit über ihre
Lebensbedingungen zu urteilen, scheitert bereits daran, dass die Wirtschaftskraft, die geographische Lage sowie die kulturellen Eigenarten als bedeutende Faktoren für die jeweilige Region gelten und bereits hier deutliche Unterschiede zwischen den ländlichen Gebieten zu verzeichnen sind (vgl. Lange 1996a: 78). Zudem wurde in der vergangenen Diskussion (und zum Teil auch heute noch) ein verfälschtes Bild, ein Idealbild vom Stadt- bzw. Landleben konstruiert und somit die realen  Lebensbedingungen von Mädchen und Jungen auf dem Land mit ihren Konsequenzen vernachlässigt.
Immer wieder wurden Einzelaspekte, wie „(…) der Zusammenhang von Leben und Arbeiten, die Vollständigkeit der Familien, die  Mehrgenerationenfamilien in einem Lebens- und Arbeitsbereich, die unmittelbare Einsichtigkeit von Arbeitsvollzügen, die sozialen Beziehungsnetze der Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft sowie ein ungebrochenes Verhältnis zur Natur“ (Karsten/ Thunemeyer
1995: 142) unreflektiert hervorgehoben. Karsten und Thunemeyer gehen von einer veränderten Lebensbedingung von Landkindern aus, da diese besonders durch den auferlegten Schulwechsel (meist nach der Grundschule) in die nächstgelegene Stadt einen ständigen Wechsel vom Land-Stadt-Leben vollziehen (vgl. Karsten/ Thunemeyer 1995:142f.).
Darüber hinaus stellt die Einordnung in ‚das Dorf‘ bereits eine Heraus-
forderung dar, welches in der Idealvorstellung ein homogenes Sozialgebilde mit festen Strukturen abbildet. Dörfliche Gemeinschaften verfügen jedoch mittlerweile in verschiedenen Ausprägungen über Aspekte der Heterogenität sowie ansatzweise über kulturelle Vielfalt (vgl. Lange 1996a: 79). Das klassische Dorfleben wurde  insbesondere vor 1945 durch die Landwirtschaft und somit durch spezifische Arbeits- und Lebensorganisationen bestimmt.

Die Höfe existierten meist autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit., was durch die dort lebende Personenanzahl möglich wurde. Die Arbeit wurde geschlechtsspezifisch aufgeteilt, Frauen kümmerten sich um den Haushalt, die Männer führten die Außenarbeiten (Land- und Vieharbeit) durch.
Die Expansion der Technisierung der Arbeitsvollzüge in den unmittelbaren Bereichen der Arbeitsorganisation (bspw. in der Viehhaltung, in der Getreidewirtschaft u.v.m) (vgl. Karsten/ Thunemeyer 1995: 144f.),
führte dazu, dass sich der landwirtschaftliche Betrieb völlig neu entwickelte. Der Trend ging von der Mehrgenerationenfamilie zur Kleinfamilie. Viele Landwirte gaben ihren Betrieb auf oder sie führen ihn mittlerweile als Nebenerwerbsquelle. Das Bild vom Landleben wird, so kann festgehalten werden, zwar noch immer durch die klassische Landwirtschaft geprägt, jedoch steht diese zunehmend im Hintergrund. Die altbewährten Strukturen vor allem in kleineren Dörfern lösen sich zunehmend auf, was sich auch durch die Konstellation der Dorfbewohner/-innen zeigt. So leben neben den alteingesessenen Bürger/-innen immer mehr Neubürger/-innen, die aufgrund der geringen Lebenserhaltungskosten und Mieten immer häufiger auf dem Land sesshaft werden (vgl. Rauschenbach/ Wehland 1989: 116). Herrenknecht fasst die Entwicklungen des Dorfes in folgendem Zitat zusammen: „Das Dorf der 90er Jahre befindet sich in einer neuen Phase realer Vergesellschaftung, der nicht mehr allein mit dem Terminus Verstädterung erfasst werden kann, sondern verschiedene Entwicklungstendenzen nebeneinander produzier. Da gibt es den Hang zur ‚Verkleinstädterung’ der Dörfer durch den Bau von Marktplätzen und Fußgängerzonen, den Trend zur ‚Vervorstädterung’ der Dörfer durch ihren Umbau zu Wohn- und Schlafdörfern, aber auch den Gegentrend zur ‚Verdörflichung’ der Dörfer durch Neuansiedlung von Handwerk und Gewerbe in der Dorfmitte, oder den Versuch der ‚Verländlichung’ der Dörfer durch rustikale Baurestaurierungen und ökologische Begründungsmaßnahmen“ (Herrenknecht 1989: 14).

Die Folge dieser Entwicklungen, insbesondere des Zuziehens von Neubürger/-innen, ist die Auflösung traditioneller Strukturen. Gemeinsame Traditionen, Werte und Normen verflüchtigen sich und werden nicht mehr im Gemeinschaftsverband gelebt. Zudem werden die Dörfer den Modernisierungsprozessen unterworfen, welches weiterhin zur Auflösung klassischer Strukturen führt (vgl. Lange 1996b: 1). Die Ausführungen zeigen, dass eine Einteilung in das Landleben bzw. das Dorf so nicht mehr zeitgemäß und sinnvoll ist. Verschiedene Entwicklungen haben darüber hinaus gezeigt, dass zunehmend mehr Angleichungen stattfinden. So heben bspw. Alt, Blanke und Joos in ihren Untersuchungen hervor, dass die Versorgung von 5- bis 6- jährigen Mädchen und Jungen entgegen den gängigen Ergebnissen nicht vom Zusammenhang der Urbanität abhängig ist: „Defizite in der Versorgung in den Kreisen waren vor allem in ländlichen Regionen und in der Großstadt zu verzeichnen. Hier hat eine Angleichung stattgefunden“ (Alt/ Blanke/ Joos 2005: 133.) Es ist demzufolge von einer Vielfalt struktureller Bedingungen für das Aufwachsen in ländlichen Räumen auszugehen (vgl. Lange 1996a: 79; Lange 1996b: 17ff.).
Ebenso verhält es sich mit den Vorstellungen von der Großstadt. Die eindimensionale Betrachtung der Großstadt als für alle dort lebenden Menschen inhaltsgleich gültigen Raum zu betrachten, konstruiert ebenfalls ein unrealistisches und plastisches Bild.
Muchow pointiert in diesem Zusammenhang die Sicht des Kindes, welches die Großstadt als eine Teilmenge eines Großen erfährt. Oftmals erlebt es seine Lebenswelt wie ‚auf dem Dorf‘ und verweilt in diesem Teilbereich (vgl. Muchow 1998: 147). Um die Unterschiede in den Bedingungen des Aufwachsens von Mädchen und Jungen auf dem Land und in der Stadt darstellen zu können, muss der Blick auf die Lebensräume von Kindern mit geringer Verdichtung und mit starker Verdichtung gerichtet werden. So unterscheiden Hurrelmann und Andresen in der World Vision Studie (2007) zwischen Ballungsraum, sonstige größere Stadt, Stadtumland, Verdichtungszonen und sonstiger ländlicher Raum (vgl. Hurrelmann/ Andresen 2007).
 
Diese ‚Mischformen‘ von Lebensräumen gilt es aufgrund der oben beschriebenen Schwächen einer Dichotomie bei folgenden Diskussionen der Besonderheiten auf dem Lande und in der Stadt stets mitzudenken.


 

Unterschiede in wirtschaftlichen Faktoren

Wie bereits  darauf hingewiesen wurde, sind Disparitäten zwischen
den Regionen von den jeweiligen Ausgangslagen insbesondere der wirtschaftlichen und sozialen Position abhängig (vgl. Alt/ Blanke/ Joos 2005: 133). Hier profitiert insgesamt der städtische Raum mit seinen günstigen Infrastrukturen. Durch gute Verkehrsanbindungen und wirtschaftliche Standorte bietet er ein relativ ausreichendes
Arbeitsplatzangebot mit einem höheren Einkommensniveau als in den 
ländlichen Räumen (vgl. BMFSFJ 2005: 70f.). Über höhere finanzielle Mittel zu verfügen bedeutet für das Aufwachsen von Mädchen und Jungen entsprechend unterschiedliche Möglichkeiten im Hinblick auf die Qualitäten von Bildung, Betreuung, Freizeiterfahrungen usw.. Zudem stellt es kein Hindernis dar, den Kindern ihre Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Spielen usw.) befriedigen zu können.
 
Insgesamt lassen sich jedoch auch für Regionen des ländlichen Raums in Bezug auf die Lebensbedingungen Disparitäten verzeichnen. So erfahren einige ländliche Gebiete eine positive Wirtschaftskraft und -struktur, mit niedrigen Arbeitslosenquoten und günstigen Infrastrukturen. Demnach ist, wie oben bereits genannt, das Einkommensniveau speziell in  ländlichen Räumen verhältnismäßig niedrig, was verschiedene Problematiken, wie bspw. Abwanderungen, Fernpendeln oder
unterwertige Beschäftigung zur Folge hat (vgl. BMFSFJ 2005: 71).
 
Für Mädchen und Jungen, welche in diesen Regionen aufwachsen, kann dies, gemessen am Einkommen der Eltern, eine Benachteiligung an der Teilhabe von Bildungs-, Betreuungs- und Freizeitangeboten darstellen.
Des Weiteren kann konstatiert werden, dass den Mädchen und Jungen im städtischen Raum durch ein weitreichendes Netz des öffentlichen Nahverkehrs eine Vielfalt an Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten zur Verfügung steht. Im Vergleich zum ländlichen Raum wird dies besonders am Beispiel der Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen deutlich. So müssen viele Schüler/-innen ab der vierten Klasse einen weiteren
Schulweg in Kauf nehmen, da sie oftmals in städtische Großeinrichtungen
überwechseln (vgl. Karsten/ Thunemeyer 1995: 146). Schneekloth und Leven skizzieren in diesem Kontext die damit einhergehende Häufigkeit der Schulbusnutzung.
„Während nur jedes dritte Kind auf dem Land zu Fuß oder mit dem
Fahrrad zur Schule kommt, ist es in den Ballungsräumen deutlich mehr
als die Hälfte. Schulbusse haben im ländlichen Raum noch eine
deutlich höhere Bedeutung als in den Ballungszentren. Während dort
Schulbusse zu einer Seltenheit geworden sind, nutzt jedes vierte Kind
im ländlichen Raum gesonderte Schulbusse“ (Schneekloth/ Leven
2007: 121).
In vielen  ländlichen Gebieten ist der Schulbus oftmals die einzige
Möglichkeit, über den öffentlichen Nahverkehr einen anderen Ort zu erreichen. In den Ferien wird der Busverkehr mancherorts sogar gänzlich eingestellt. Neu problematisiert darüber hinaus, dass nicht nur die Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen durch eine minimale öffentliche Personen- und Nahverkehrsstruktur erschwert sei, sondern sich
dadurch zudem die Zugangschancen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtern (vgl. Neu 2006: 14). Demzufolge wird deutlich, welchen Einfluss der Wohnort auf die Lebensqualität von Eltern und somit auch wechselseitig auf Mädchen und Jungen hat  Besonderheiten im Bereich der Betreuungs-, Freizeit- und Bildungsangebote im Hinblick auf das Aufwachsen in der Stadt oder auf dem Land werden im nächsten Punkt genauer betrachtet.



Unterschiede in Betreuungs-, Freizeit- und Bildungsangeboten


Die Stadt bietet vergleichsweise grundsätzlich mehr Möglichkeiten, Betreuungs-, Freizeit- und Bildungsangebote wahrzunehmen. Den Mädchen und Jungen bietet sich somit eine Vielfalt sozialer Erfahrungsmöglichkeiten. Inwieweit diese auch tatsächlich genutzt werden, hängt oftmals von der städtischen Struktur sowie von der sozioökonomischen Lage von Familien ab, „(…) die den Wohnort, die Wohnqualität und Wanderungsprozesse beeinflussen“ (BMFSFJ 2005: 70).
So bieten beispielsweise so genannte „Singlestädte“ (München etc.) ein hohes kulturelles, soziales und kommerzielles Angebot, jedoch erschweren die dort oftmals herrschenden hohen Miet -und Nebenkosten Familien mit entsprechend niedrigem Einkommen die Nutzung dieser Angebote. Es zeigt sich daher der Trend, dass viele Familien in das städtische Umland abwandern (vgl. BMFSFJ 2005: 69f.).
Für den ländlichen Raum lässt sich feststellen, dass durch eine gegenüber der Stadt schwächere Infrastruktur  oftmals die Erreichbarkeit von Bildungs-,Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen erschwert ist. Somit sind viele Mädchen und Jungen auf eine hohe Mobilität angewiesen. Gerade für Kinder in den neuen Bundesländern, deren Familien nicht über das notwendige Einkommen verfügen, bspw. aufgrund von Erwerbslosigkeit oder alleinerziehend sind, bedeutet dies häufig einen eingeschränkten Zugang zu kommerziellen bildungsrelevanten Angeboten (vgl. BMFSFJ 2005: 69ff.). Diese Ausführungen zeigen, dass viele Mädchen und Jungen in ländlichen Regionen durch die räumlichen Entfernungen der Bildungs- und Freizeiteinrichtungen auf die Mobilität und Fahrbereitschaft ihrer Eltern angewiesen sind, damit diese Entfernungen nicht zu Bewegungs- und Handlungsbarrieren werden.
Daraus ergibt sich häufig, dass etliche Kinder in eine differenzierte Vereinsstruktur integriert sind. Viele Gemeinden im ländlichen Raum verfügen über ein  Vereinsnetz, das von den Mädchen und Jungen meist gut zu erreichen ist, so werden bspw. auch Vereinsbusse eingesetzt oder Fahrgemeinschaften von den Eltern gebildet (vgl. BMFSFJ 2005: 71f.).
Da viele Menschen mit Migrationshintergrund oftmals im städtischen Raum leben, können Mädchen und Jungen auf dem Land häufig nicht von interkulturellen Erfahrungen partizipieren, was als klarer ‚Nachteil‘ erachtet wird (vgl. BMFSFJ 2005: 72). Im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist insbesondere eine qualitativ gute Betreuung für Mädchen und Jungen jeder Altersgruppe erforderlich. So sind Frauen oder Männer nicht in der Bedrängnis, sich zwischen Kindern oder ihrem
Beruf entscheiden zu müssen (vgl. BMFSFJ 2007: 10f.). Hier zeigt sich bundesweit ein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland.  Im Stadt-Land-Unterschied zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist festzustellen, dass die ostdeutschen Städte hier (mit einigen wenigen Ausnahmen) stark überdurchschnittlich vor den ostdeutschen
Landkreisen abschneiden. Die westdeutschen Städte liegen hier eher im Durchschnitt. Der westliche ländliche Raum, insbesondere Regionen in Niedersachsen und Bayern, weist zum Teil unterdurchschnittliche Bedingungen auf (vgl. BMFSFJ 2007: 12).
Insgesamt, so lässt sich aus den vorangegangenen Aussagen resümieren, ergeben sich durch unterschiedliche Entfernungen zu den Städten, durch das Arbeitsplatzangebot sowie den ländlichen Infrastrukturen zu den Betreuungs-, Freizeit- und Bildungsangeboten differenzierte Erfordernisse „(…) für die Förderung kindlicher und jugendlicher Lern- und Bildungsprozesse im ländlichen Bereich“ (BMFSFJ 2005: 72).


 

Unterschiede in familialen Lebensformen


Familien sind für das kulturelle und soziale Leben in der Stadt und auf dem Land ein bedeutender Grundpfeiler. Sie bieten den Kommunen nicht nur ein gewisses Maß an finanzieller Sicherheit, sondern gewinnen in Zeiten des demografischen Wandels an besonderer Bedeutung (vgl. BMFSFJ 2007: 5). In welchen Familienformen Mädchen und Jungen aufwachsen, spielt für ihre Lebensbedingungen (Wohnort, finanzielle Sicherheit usw.) und damit verbundene Problemlagen oder Wohlstand eine wichtige
Rolle. So sind die Lebenssituationen von Kindern, die in einer Ein-Eltern-Familie oder einer Mehrkinderfamilie leben (insbesondere bei Erwerbslosigkeit der Eltern) schlechter gestellt, als Kinder, die in einer klassischen Familie (ohne Erwerbslosigkeit) groß werden. Im 7. Familienbericht wird deutlich, dass der Sozialhilfebezug häufig nicht
nur den Ausschluss an gesellschaftlichen Teilhabechancen bedeutet, sondern sich die Gefahr für soziale Isolation und Stigmatisierungen erhöhen (vgl. BMFSFJ 2006b: 168).


Eine gesunde Eltern-Kind-Bindung im Sinne einer emotionalen Zuwendung, Sicherheit und Zuverlässigkeit die kindlichen Grundbedürfnisse betreffend, ist nach Grossmann die Grundvoraussetzung für eine jeweils altersgerechte Entwicklung von Mädchen und Jungen (vgl. Grossmann 1997: 58ff.). Sie ist demnach die Basis für die Qualität des gegenwärtigen und zukünftigen sozialen Umgangs mit anderen (emotionale Sicherheit vs. Unsicherheit, hohe soziale Kompetenz vs. niedrige soziale Kompetenz). Wenn Kinder in Familien aufwachsen, deren Problemlagen durch Erwerbslosigkeit und damit oft einhergehende finanzielle Engpässe, regelmäßigem Alkoholkonsum der Eltern, Frustrationen über die gegenwärtige Lebenslage usw. den Alltag bestimmen, kann dies erhebliche Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung haben (vgl. BMFSFJ 2006b: 168), was wiederum die kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklungsprozesse der Mädchen und Jungen beeinträchtigt. Die von dieser Problematik häufiger betroffenen
Familienformen der Ein-Eltern-Familie und Mehrkinderfamilie finden sich in überwiegender Zahl im großstädtischen Raum (vgl. BMFSFJ 2006b: 180f.). In West- und insbesondere in Süddeutschland findet sich sehr viel häufiger das Modell familialer Unterstützung, was eine geringe Quote von Sozialhilfeempfänger/-innen bedeutet.
Diese Kinder sind weitaus seltener von Armut betroffen, als oben genannte (vgl. BMFSFJ 2006b: 183). Die klassische Familie (Kernfamilie) lebt oftmals im städtischen Umland, da sie hier günstigere und familienfreundlichere Lebensbedingungen vorfindet, was bessere Entwicklungsbedingungen für das Aufwachsen der Mädchen
und Jungen bedeutet (vgl. BMFSFJ 2006b: 177).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die familiale Konstellation einen entscheidenden Einfluss auf das Aufwachsen von Mädchen und Jungen hat. So ist es bspw. Kernfamilien mit einem gesicherte  Einkommen häufiger möglich, ihren Kindern ein entsprechendes Betreuungs-, Freizeit- und Bildungsangebot zu realisieren, als Familien mit mehreren Kindern und gleichzeitiger Erwerbslosigkeit. Hier zeichnet sich insbesondere das städtische Umland als familienfreundlich aus, da dort familienfreundlichere Bedingungen herrschen. Die familiale Lebensform ist oftmals auch dafür entscheidend, in welchem Umfeld Mädchen und Jungen aufwachsen und welche Freiräume ihnen für ihre Entwicklung geschaffen werden. 



Unterschiede im kindlichen Aktionsraum in der Stadt und auf dem Land


Nach Blinkert gibt es keinen objektiv guten oder schlechten Raum, solange das Kind dies nicht selbst so empfindet. "„Alle
Aussagen über die Aktionsraumqualität von Wohnumwelten müssen also immer auf den Standpunkt eines Subjekts bezogen sein“ (Blinkert 1996: 47).Das heißt konkret, Kriterien sind immer in Abhängigkeit von Alter und Entwicklungsstufe sowie aus der Akteursperspektive zu betrachten. Des Weiteren definiert Blinkert ein Territorium eines ‚guten‘ Aktionsraums für Kinder wie folgt:
„Ein Territorium ist ein Aktionsraum für Kinder, wenn dieses Territorium,
· für Kinder zugänglich ist [gibt es Barrieren bspw. Räumliche Barrieren?],
· wenn es gefahrlos ist [bspw. viel motorisierter Verkehr],
· wenn es von Kindern gestaltet werden kann [bietet der Raum Möglichkeiten für Veränderungen?] und
· wenn die Chance zu Interaktionen mit anderen Kindern besteht“
(Blinkert 1996: 46).
 Nach Blinkerts Studie bewerteten Eltern, die auf dem
Land leben, die Aktionsraumqualität ähnlich wie in der Stadt lebende Mütter und Väter. So schätzten 50% der Eltern aus dem ländlichen Raum die Aktionsraumqualität im Wohnumfeld gut bis sehr gut ein, Eltern aus der Stadt zu 40%. Der Meinung, die Aktionsraumqualität sei im befriedigenden Bereich, waren 17-18% der Eltern auf dem Land und 25% der Eltern in der Stadt empfanden dies  berdurchschnittlich befriedigend. Eine schlecht definierte Aktionsraumqualität befanden 25% der Eltern, die auf dem Land lebten und 27% aus der Stadt (vgl. Blinkert 1996: 77f.). 
Ein entscheidender Faktor spielt hier bei Eltern (sowohl auf dem Land als auch in der Stadt) die Gefahrlosigkeit durch den motorisierten Verkehr. Disparitäten herrschen in den Möglichkeiten zur Nutzung der direkten Wohnumwelt durch die zum Teil verschiedenen Bebauungsformen auf dem Land und in der Stadt. Ein direkter Zugang zu Außenräumen wird favorisiert und in den ländlichen Regionen als selbstverständlich empfunden. In der Stadt gilt dieser Zugang als wichtiger Indikator zur Einschätzung von Aktionsraumqualität (vgl. Blinkert 1996: 69ff.). Im Hinblick auf die Wahl von Spielorten (von 5- bis 10-Jährigen) zeigt sich, dass das unmittelbare Wohnumfeld hier den zentralen Mittelpunkt darstellt, dies gilt sowohl für Spielorte auf dem Land als auch in der Stadt.
 
Bei einer Befragung von Kindern wurden unterschiedliche Aussagen gemacht. So nutzen90 % der Mädchen und Jungen auf dem Land den Garten und den Hof, Stadtkinder nur zu 66%. Den Spielplatz suchen Kinder auf dem Land zu 36%, Kinder aus der Stadt jedoch zu 52% zum Spielen auf. Die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten nimmt besonders in der Stadt mit dem Alter zu (vgl. Blinkert 1997: 16ff.). Im Hinblick auf die Indikatoren für das von Blinkert genannte Territorium (Aktionsraum) profitieren Landkinder oftmals von der Qualität ihrer Spielorte. Demnach gibt ein naturnaher Spielort den Mädchen und Jungen mehr Gelegenheiten, selber aktiv zu werden, im Sinne von Gestaltbarkeit. So finden sich in Baulücken, Wiesen oder Wäldern kein vorgefertigtes Mobiliar (wie vielerorts in den Städten), keine fertigen Spielgeräte. Hier sind die Kinder herausgefordert, ihre Phantasie und Kreativität anzuregen. Die Möglichkeit, naturnahe Spielorte aufzusuchen, haben auf dem Land lediglich 50% der Kinder. Als Gründe dafür werden von den Eltern insbesondere eine schlechte Erreichbarkeit sowie mögliche Gefahren (vor allem für Kleinkinder) genannt. Wenn den Kindern das Angebot, einen naturnahen Spielort aufzusuchen ermöglicht wird, nutzen dies auch die meisten von ihnen (vgl. Blinkert 1997: 49ff.). Blinkert betont, dass es sich mit der Versorgung von Spielplätzen in ‚ungünstigen Gebieten‘ (schlechter Aktionsraum) ebenso ungünstig verhält. „Offensichtlich bereitet es große Schwierigkeiten, die durch
Überbauung und Straßenverkehr bedingten Defizite im Wohnumfeld durch dieEinrichtung von Kinderreservaten zu kompensieren“ (Blinkert 1996: 96).Weiterhin kommt Blinkert zu dem Ergebnis, dass viele Mädchen und Jungen in den ungünstigen Gebieten den Spielplatz häufig gemeinsam mit ihren Eltern besuchen, sodass der Besuch mit Gleichaltrigen selten stattfindet. Dazu Blinkert:
„Diese Beobachtungen lassen vermuten, dass sich die öffentlichen Spielplätze in den ungünstigen Wohngebieten für die hier untersuchte Altersgruppe auch in qualitativer Hinsicht nur sehr begrenzt zur Kompensation für die Defizite im Wohngebiet eignen“ (Blinkert 1996: 97). Diese Einschätzungen sind mit den Aussagen des 12. Kinder- und Jugendberichtes vereinbar. Hier heißt es, dass Landkinder grundsätzlich von mehr Spiel- und Freiflächen profitieren (vgl. BMFSFJ 2005: 72), die folglich auch als naturnahe Spielorte genutzt werden können.
Der/die Autor/Autorin Zeiher und Zeiher akzentuieren in Bezug auf den kindlichen Aktionsraum die Verinselung des individuellen Lebensraums. Demnach ist der Aktionsraum von Kindern insbesondere von der Alltagsmobilität ihrer Eltern abhängig. So verteilen sich die Aktionsräume von Mädchen und Jungen sowohl in der Stadt als auch auf dem Land auf mehrere Orte, die wie Inseln verstreut sind. Die Orte zwischen den Inseln, so heben die Autoren hervor, haben die Erwachsenen inne, was sich für die Kinder oftmals als „(…) mehr oder weniger uninteressant,
gefährlich, unzugänglich, oft auch unbekannt [erweist]“ (Zeiher/ Zeiher 1994: 26). Diese Verinselung wird durch den oftmals ständigen Wechsel, bedingt durch den Besuch der meist in den Städten gelegenen  Bildungseinrichtungen, zwischen ‚Dorf‘ und Stadt verstärkt (vgl. Karsten/ Thunemeyer 1995: 143). 
Insgesamt lässt sich aussagen, dass Landkinder zwar tendenziell im Außenbereich bessere Spielmöglichkeiten haben als Stadtkinder (naturnahe Spielorte, mehr Wahlmöglichkeiten), jedoch zeigen die wenigen Disparitäten im Stadt-Land-Vergleich im Kontext des kindlichen Aktionsraums, dass sich die Urbanisierung des ländlichen Raumes weiterentwickelt hat.


 



Unterschiede in Wohngegebenheiten von Kindern auf dem Land und in der Stadt


Schneekloth und Leven erhoben in der 1. World Vision Kinderstudie (2007) Daten in Bezug auf das Wohnumfeld sowie wohnliche Merkmale von Kindern im Alter von 8-11 Jahren in Deutschland. Die Ergebnisse zeigten, dass 20% der Kinder in Ballungsbebieten  und 16% in anderweitigen größeren Städten aufwachsen. 27% der Mädchen und Jungen leben im Umland von Ballungsräumen oder größeren Städten. In
Gegenden mit kleineren Städten wohnen 23% und in sonstigen ländlichen Regionen 14% (vgl. Schneekloth/ Leven 2007: 80). Wie bereits dargestellt, bietet die Großstadt mit ihrer oftmals günstigen Infrastruktur den Kindern eine gute Erreichbarkeit von Betreuungs-, Freizeit- und Bildungseinrichtungen sowie ein relativ großes Angebot von Erwerbsmöglichkeiten für ihre Eltern. Jedoch ist auch die Großstadt Abwanderungsprozessen unterlegen, da sich hohe Mieten und  Lebenserhaltungskosten als familienungünstige Bedingungen erweisen (vgl. BMFSFJ 2005: 70). So verlassen viele Familien die Städte und ziehen in das kostengünstigere und familienfreundlichere städtische Umland. „Nach wie vor geht der Trend in die Richtung, dass Familien mit Kindern verstärkt in das Umland von Stadtregionen ziehen“ (Schneekloth/ Leven 2007: 80), was sich anhand der Datenlage (27%) deutlich zeigt.


Die Autoren/ Autorinnen des 12. Kinder- und Jugendberichts verdeutlichen in diesem Zusammenhang die Abhängigkeit der Qualität der Wohnlage von der finanziellen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Situation der Familie. So haben niedrig gestellte Familien in der Stadt häufig nicht die Möglichkeiten, in das städtische Umland umzuziehen oder eine Wohnung (oder ein Haus) in einem guten Viertel der Stadt zu
beziehen.
„Sozio-ökonomisch niedrig positionierte Bevölkerungsschichten konzentrieren sich vor allem in Großsiedlungen am Stadtrand, die überwiegend in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind, sowie in innenstadtnahen Altbauquartieren mit einem niedrigem Mietniveau. Bei Letzteren handelt es sich um als ‚soziale Brennpunkte‘ etikettierte Stadtviertel mit Sozialwohnungen sowie einem qualitativ schlechten Wohnungsbestand, die häufig ein hohes soziales Konfliktpotential aufweisen“ (BMFSFJ 2005: 87). Inwieweit das Wohnumfeld Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben kann, zeigen besonders die erhöhten Risikopotentiale für das gesunde und altersentsprechende Aufwachsen von Mädchen und Jungen, wenn folgende Faktoren innerhalb des Wohnraums zutreffen: So können sich erhöhte Lärmbelästigung und hohe Abgaswerte durch gesteigerten motorisierten Verkehr, eine verringerte Auswahl an sicheren Spielplätzen und damit einhergehend wenig Anregung zum Spielen, Erkunden und Entdecken (vgl. Alt/ Blanke/ Joos 2005: 152f.) sowie Schwächen am Gebäudebestand negativ auf die gesundheitliche, körperliche wie psychische, Entwicklung von Kindern auswirken. Darüber hinaus haben eine ungünstige Wirtschaftslage mit hoher Arbeitslosigkeit sowie Bewohner/-innen desselben Hauses bzw. derselben Wohnumgebung mit niedrigem oder keinem Bildungsabschluss eine eher negative Auswirkung (soziale Isolation, Unzufriedenheit, schlechte Vorbilder) auf die gesellschaftliche Teilhabe (vgl. BMFAS 2008: 117) und somit auf Bildungschancen von Kindern insgesamt. Diese Risikofaktoren
finden sich überwiegend in den nichtehelichen Lebensgemeinschaften und in den Ein-Eltern-Familien (mittlere bis untere Schicht in der Gesellschaft) und folglich sind Mädchen und Jungen in der (Groß-) Stadt (vor allem in Plattenbaugebieten) häufiger betroffen, als Landkinder. In diesem Kontext formulieren Alt, Blanke und Joos treffend, dass „(…) man die dem Idealbild am ehesten entsprechenden Familie in jenen Regionen [findet], die zwischen den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten angesiedelt sind“ (Alt/ Blanke/ Joos 2005: 153).

 


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