Mehrsprachigkeit als Ressource nutzen

Ideen für den KiTa-Alltag

Mehrsprachiges Aufwachsen gilt in Deutschland oftmals immer noch als Risikofaktor – zumindest dann, wenn es sich nicht um prestigeträchtige Sprachen wie Englisch oder Französisch handelt. Im Folgenden soll ein Blick darauf geworfen werden, welches Potenzial in der Mehrsprachigkeit von Kindern steckt und wie dieses in der Kita als Ressource für alle Beteiligten genutzt werden kann.

Landauf, landab wird derzeit in Deutschland betont, dass der frühen sprachlichen Bildung und Förderung mehrsprachig aufwachsender Kinder besondere Bedeutung zukomme. Doch was bedeutet das konkret? Bei sprachlicher Bildung und Förderung geht es darum, die vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes zu erweitern; dies gilt für mehrsprachig aufwachsende Kinder ebenso wie für einsprachige. Das Ziel sprachlicher Bildung und Förderung mehrsprachig aufwachsender Kinder ist somit, ihre (familien)sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern – nicht jedoch, sie durch die deutsche Sprache zu ersetzen.

Wenn ein mehrsprachig aufwachsendes Kind in der Kita an seine in der Familie erworbenen sprachlichen Fähigkeiten und Praktiken anknüpfen kann, wird es nach und nach auch immer mehr Elemente aus der deutschen Sprache in seine zweisprachige Sprachkompetenz integrieren (García, 2011). Daher sollte in der Kita auch die Familiensprache eines Kindes Berücksichtigung finden. Dabei erlebt das Kind zugleich, dass seine Familiensprache ebenso wertvoll ist wie Deutsch oder andere prestigeträchtige Sprachen. Dies kommt seinem Selbstbild und damit auch seiner weiteren Lernmotivation zugute.

Doch auch einsprachig aufwachsende Kinder profitieren von einem mehrsprachigen Kita- Alltag: Zum einen lernen sie, mit sprachlicher Vielfalt umzugehen, zum anderen erwerben sie frühzeitig metasprachliche Kompetenzen und setzen sich intensiv mit der eigenen Sprache auseinander. So führt die Konfrontation mit anderen Sprachen immer auch zu einem bewusst werden der eigenen sprachlichen Identität. Darüber hinaus erwerben einsprachige Kinder Kompetenzen, die auch später beim Erwerb weiterer Sprachen notwendig sind.

Dabei geht es nicht um ein »Vorführen« sprachlicher Fähigkeiten oder (vermeintlicher) kultureller Eigenheiten mehrsprachig aufwachsender Kinder, sondern um eine gemeinsame Begegnung und Auseinandersetzung mit den Sprachen im Alltag. In vielen Kitas werden bereits punktuelle Angebote wie z.B. interkulturelle, mehrsprachige Feste und Projekte durchgeführt. Diese sind ein wichtiger Bestandteil interkultureller Arbeit. Aber welche Möglichkeiten gibt es, die Familiensprachen der Kinder auch in den pädagogischen Alltag einbeziehen – zumal, wenn es sich um viele verschiedene Sprachen handelt, die die Fachkräfte nicht alle beherrschen können? Hierzu sollen im Folgenden einige Beispiele genannt werden.

Informationen über die sprachliche Situation des Kindes einholen

Zunächst einmal ist es wichtig, von den Eltern Informationen über die sprachliche Lebenssituation des Kindes zu erhalten: Welche Sprache(n) werden in der Familie gesprochen? Hier sollte man nach der genauen Bezeichnung der Sprachen fragen (also z.B. nicht »Afrikanisch «, sondern »Swahili«, »Tigrinya« etc.) und nicht vom Herkunftsland unhinterfragt auf die Familiensprache schließen. Weitere wichtige Fragen sind z.B.: Wer spricht mit dem Kind in welchen Situationen welche Sprache – und in welcher Sprache antwortet das Kind? Wie wird der Name des Kindes korrekt ausgesprochen und geschrieben? Ein hilfreicher »Leitfaden für Elterngespräche « zu diesem Thema findet sich in Küpelikilinc & Taşan Özbölük (2016).

Die Sprachen der Kinder sichtbarmachen

Auf dieser Grundlage können die Sprachen der Kinder in der Kita sichtbar gemacht werden: Bewährt haben sich z.B. »Willkommenswände« mit Grüßen in allen vorhandenen Sprachen, die nach und nach von neu hinzukommenden Eltern vervollständigt werden. Gut sind auch mehrsprachige Informationsbretter, Hinweisschilder, Geburtstagskalender etc. sowie Bücher und andere Medien in unterschiedlichen Sprachen, die gemeinsam mit den deutschsprachigen Medien gut sichtbar präsentiert werden sollten. Bei der Beschriftung von PortfolioPortfolio||||| Ein Portfolio bezeichnet ursprünglich  eine Sammlung von Objekten eines bestimmten Typs. Im  Handlungsfeld frühkindliche Bildung werden Portfolios beispielsweise wie "Ich- .Mappen" für Kinder genutzt um eigene Fortschritte zu dokumentieren. Auch in Studiengängen gibt es Beispiele, wo Portfolios als Prüfungsleistung oder Dokumentation von Entwicklungen zählen können. - Ordnern o.Ä. mit den Namen der Kinder kann neben dem deutschen Alphabet auch die für die jeweilige Familiensprache relevante Schrift verwendet werden, also z.B. griechische oder arabische Buchstaben. Eltern oder ältere Geschwister sind dabei bestimmt gerne behilflich! Auch bei der Ausstattung von »LiteracyLiteracy|||||Literacy in der frühen Kindheit und im Übergang zur Schule ist ein
Sammelbegriff für kindliche Erfahrungen und Kompetenzen rund um Buch-,
Erzähl-, Reim-und Schriftkultur
- Centern«, Schreibecken etc. können die unterschiedlichen Sprachen und Schriften berücksichtigt werden.

Die Sprachen der Kinder hörbar machen

Für Kinder im Kita- Alter ist es von besonderer Bedeutung, dass ihre verschiedenen Sprachen in der Einrichtung auch hörbar werden. So können z.B. mehrsprachige Begrüßungs- und Abschiedsrituale eingeführt und die Kinder in verschiedenen Sprachen gezählt werden. Bei Bildbetrachtungen können Dinge und Handlungen auch in anderen Sprachen als Deutsch benannt werden. Und warum nicht beim Versteckspiel statt »kalt« und »warm« einmal den Hinweis » درس « oder » مرگ « geben? Viel Spaß bereitet Kindern (und Erwachsenen) auch die Beschäftigung mit Interjektionen, also Wörtern wie »Aua«, »Igitt«, »Hatschi« oder »Miau« in verschiedenen Sprachen (vgl. Schader, 2012). Das Verwenden von Wörtern aus verschiedenen Sprachen fördert ganz nebenbei die phonologische Bewusstheit und die Mundmotorik aller Kinder. Außerdem können die Erfahrungen der Kinder in der Gruppe besprochen und Vergleiche angestellt werden, z.B.: Wie klingt das Wort für »Haus« auf Türkisch? Gibt es ein Wort, das auf Polnisch genauso heißt wie auf Deutsch? Gibt es ein Wort, das auf Deutsch und Arabisch gleich klingt, aber nicht das Gleiche bedeutet? Auf diese Weise wird zugleich der Erwerb metasprachlicher Kompetenzen unterstützt.

Für mehrsprachige Kinder ist es manchmal schwierig, eigentlich vertraute Wörter aus ihrer Familiensprache in der Kita spontan abzurufen, denn die Verwendung einer Sprache ist zumeist mit einem bestimmten Kontext und/ oder einer Person verknüpft. Daher kann es von Vorteil sein, auch mehrsprachige Bildwörterbücher und Tonträger heranzuziehen. Letztere können auch für Ratespiele genutzt werden (»Welche Sprache ist das?«). Gemeinsam mit Eltern und Großeltern können Reime, Zungenbrecher etc. gesammelt und gelernt werden. Selbstverständlich steht nicht sprachliche »Korrektheit« im Zentrum derartiger Aktivitäten, sondern die Freude am gemeinsamen Ausprobieren von Sprachen. Mehrsprachig aufwachsende Kinder können dabei als Lehrende fungieren, während pädagogische Fachkräfte die Rolle von Lernenden einnehmen und für alle Kinder ein wichtiges Vorbild für den Umgang mit Verstehensproblemen und »Fehlern« darstellen.

Mehrsprachige Bilderbücher nutzen

Eine wahre Fundgrube an Möglichkeiten bieten mehrsprachige Bilderbücher. Sie machen den Kindern deutlich, dass auch andere Sprachen über eine Schrift verfügen und sich für Bücher eignen – eine Erfahrung, deren Bedeutung gerade im Fall von Sprachen mit einem geringeren Prestige nicht unterschätzt werden sollte. Enthalten Bücher unterschiedliche Schriften (z.B. lateinische und kyrillische Buchstaben), so beginnen Kinder, diese häufig spontan zu vergleichen. Dies schult die visuelle Aufmerksamkeit – ebenso wie die Suche nach bestimmten, im Vorfeld identifizierten Wörtern im Text oder ein »Abschreiben« einzelner Wörter.

Mittlerweile liegen einige gute Bilderbücher vor, in denen mehrere Sprachen »integriert«, also abwechselnd verwendet werden – dies entspricht genau der Lebenswirklichkeit Mehrsprachiger. Eine weit größere Anzahl von Büchern präsentiert denselben Text parallel in zwei oder mehr Sprachen. Das Vorlesen solcher Bücher in der jeweiligen Familiensprache und auf Deutsch kann mehrsprachig aufwachsenden Kindern dabei helfen, den deutschsprachigen Text besser zu verstehen und für den Ausbau ihres deutschen Wortschatzes zu nutzen (vgl. Hüsler, 2009). Doch auch Kinder (und Erwachsene) mit deutscher Erstsprache profitieren von solchen Angeboten, denn sie ermöglichen den Kindern Erfahrungen, die für den Erstspracherwerb ebenso bedeutsam sind wie für das spätere Fremdsprachenlernen: Zunächst können sie in die fremde Klangwelt eintauchen und versuchen, mithilfe von Kontext, Bildern, internationalen Wörtern etc. zu erraten, worum es in der Geschichte geht. Wenn vorab einzelne Schlüsselwörter besprochen wurden, können die Kinder auch versuchen, diese beim Vorlesen herauszuhören. Dies schult nicht nur die auditive Aufmerksamkeit, es lässt sie auch die Erfahrungen mehrsprachig aufwachsender Kinder nachempfinden. Zudem gewinnen die Kinder einen vertieften Einblick in die eigene Sprache.

Zu etlichen mehrsprachigen Büchern liegen Hörbücher vor, die für derartige Aktivitäten herangezogen werden können. Doch auch die im Team und bei Eltern oder Großeltern vorhandenen Sprachkompetenzen können genutzt werden, um in verschiedenen Sprachen vorzulesen. Letzteres hat überdies den Vorteil, dass Kinder ihre Eltern als kompetent und deren sprachliche Fähigkeiten als wertvoll erleben. Besonders bei »Lieblingsbüchern« hat es sich auch bewährt, gemeinsam mit Eltern Hörbuchversionen in verschiedenen Sprachen zu erstellen, die dann immer wieder angehört werden können (Apeltauer, 2007).

Umgang mit anderssprachigen Spielgruppen

Mehrsprachige wählen aus ihrem komplexen, sich dynamisch entwickelnden zweisprachigen Repertoire jeweils das aus, was für die aktuelle Interaktion sinnvoll und hilfreich erscheint (García, 2011). Sofern Kinder mit der gleichen Familiensprache verfügbar sind, ziehen mehrsprachig aufwachsende Kinder daher auch ihre familiensprachlichen Kompetenzen heran, um gemeinsam mit ihnen den zumeist vorwiegend deutschsprachigen Alltag der Kita zu bewältigen. Dies eröffnet den Kindern vielfältige Verständigungs- und Partizipationsmöglichkeiten und kann gerade zu Beginn der Kita- Zeit sehr entlastend wirken. Fachkräfte sollten Kindern diese Möglichkeit nicht vorenthalten – weder durch ein explizites Verbot noch indem sie ihnen durch ihr Verhalten deutlich machen, dass die Familiensprache in der Kita unerwünscht und wertlos ist.

Wenn Kinder miteinander in ihrer Familiensprache kommunizieren, entsteht bei Fachkräften oft der Eindruck, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben (wobei dies sicherlich nur eine unter vielen Situationen ist, in der sie nicht mitbekommen, was Kinder miteinander besprechen). Dann kann es sinnvoll sein, das eigene Nichtverstehen zu thematisieren (»Ich verstehe nicht, über was ihr sprecht. Könnt ihr das noch einmal auf Deutsch sagen?«). Eine weitere Befürchtung ist, dass durch die Verwendung der Familiensprache andere Kinder ausgrenzt werden. Hier hat es sich bewährt, ebenso vorzugehen wie bei anderen pädagogischen Problemstellungen auch, nämlich das Thema mit allen betroffenen Kindern zu besprechen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen – sofern die Kinder überhaupt ein Problem mit der Situation haben. Ein Verbot bestimmter Sprachen sollte allerdings in keinem Fall ausgesprochen werden.

Nicht zuletzt fordern viele Fachkräfte (und auch manche Eltern), die Kinder sollten miteinander Deutsch sprechen, um ihre deutsche Sprachkompetenzen zu verbessern. Diese sind in der Tat von großer Bedeutung für die Kinder, allerdings ist sprachliches Lernen für Kinder kein Selbstzweck: Sie eignen sich diejenigen (zweit)sprachlichen Fähigkeiten an, die sie für ihre Interaktionen mit Kindern und Erwachsenen brauchen. Es geht daher darum, Kindern deutschsprachige Interaktionen zu ermöglichen, die für sie relevant und mit freudvollen, interessanten Erfahrungen verknüpft sind.

So können Kinder, die oft gemeinsam in ihrer Sprachgruppe spielen, zu deutschsprachigen Äußerungen herausgefordert werden (z.B. indem sie ihr Bauprojekt der Gesamtgruppe vorstellen). Darüber hinaus sollten immer wieder Situationen initiiert werden, in denen sich Kinder mit ähnlichen Interessen, aber unterschiedlichen Familiensprachen intensiv mit einem für sie relevanten Thema auseinandersetzen können (vgl. Licandro & Lüdtke, 2013).

Fazit

Mehrsprachige Aktivitäten fördern die sprachliche Kompetenz ein- wie mehrsprachiger Kinder in vielfacher Weise. Sie lassen Kinder sprachliche Vielfalt als Normalität erleben, erleichtern Interaktion und Partizipation, unterstützen die Entwicklung von metasprachlicher Kompetenz und verbessern die Sprach(en)lernmotivation von Kindern. Es ist daher für eine erfolgreiche sprachliche Bildung und Förderung unabdingbar, die verschiedenen Sprachen in einer Einrichtung als Ressource zu entdecken und für alle Beteiligten nutzbar zu machen.

Literatur

  • Apeltauer, E. (2007): Das Kieler Modell. Sprachliche Frühförderung von Kindern mit Migrationshintergrund. In B. Ahrenholz (Hrsg.), Deutsch als Zweitsprache – Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (S. 91 – 115). Freiburg: Fillibach.
  • García, O. (2011): The Translanguaging of Latino Kindergartners. In J. Rothman/ K. Potowski (Hrsg.): Bilingual Youth: Spanish in Englishspeaking Societies (S. 33 – 55). Amsterdam: John Benjamins.
  • Hüsler, S. (2009): Bilderbücher und viele Sprachen. Warum mehrsprachige Bilderbücher unbedingt in die Kita gehören und wie sie eingesetzt werden können. TPS (2009) 10, 34 – 37.
  • Küpelikilinc, N./ Taşan Özbölük, M. (2016): Mehrsprachigkeit. Aktionen und Projekte in Kindertagesstätte und Schule. Frankfurt: Amt für Multikulturelle Angelegenheiten.
  • Licandro, U./ Lüdtke, U. M. (2013): Peer-Interaktionen – Sprachbildung in und durch die Gruppe (nifbe- Themenheft Nr. 15). Osnabrück: nifbe-Eigenverlag.
  • Schader, B. (2012): Sprachenvielfalt als Chance. Handbuch für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen. 101 praktische Vorschläge. Zürich: Orell Füssli.

Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus Kita Aktuell 10/2016, S. 200 -202 (Ausgabe Nord)