Mehrsprachigkeit – Herausforderung, Chance und Bereicherung
In den Einrichtungen ist aktuell eine ansteigende Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund zu beobachten. Insbesondere Kinder aus den Krisengebieten wie Syrien besuchen zunehmend die Kitas. Die Flüchtlingskinder sind teilweise traumatisiert und verfügen überwiegend über geringe Deutschkenntnisse. Pädagogische Fachkräfte werden somit mit neuen Problemlagen konfrontiert. Wie kann es gelingen, diese Vielfalt für die Arbeit mit Familien zu nutzen und in den Einrichtungen zu leben? Warum ist eine sprachenfreundliche Lernumgebung für Kinder und die Haltung der pädagogischen Fachkräfte so bedeutsam?
Deutschland hat im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern eine monolinguale Tradition. Die Identifikation verläuft über die deutsche Sprache. Daher tun wir uns schwer mit Mehrsprachigkeit. Mehrsprachigkeit ist aber in Deutschland in einer Vielzahl der Bildungsinstitutionen Realität. Wie damit
umgegangen wird, ist allerdings sehr unterschiedlich.
Wertschätzung der Erstsprache
Für die Kinder mit Migrationshintergrund ist der Zweitspracherwerb sehr wichtig, denn gute Deutschkenntnisse sind der Schlüssel zum Bildungserfolg. Die Bedeutung der Erstsprache als Fundament für alle weiteren Sprachen ist inzwischen bekannt. Daher ist die Pflege der Erstsprache für die weitere Sprachentwicklung von großer Bedeutung.
Zum Glück sind die Zeiten inzwischen fast überall vorbei, wo Kindern in Kitas und Schulen verboten wird, ihre Erstsprache untereinander zu sprechen. Einzelne »Experten« erwarten von Familien mit Migrationshintergrund leider immer noch, unbedingt zu Hause Deutsch mit ihren Kindern zu sprechen.
Daher ist der Kita-Besuch für Kinder von Einwandern besonders elementar, denn hier hören und erleben sie Deutsch von Muttersprachlern. In der Tageseinrichtung können sie die zweite Sprache zwanglos, quasi spielerisch und im Alltag lernen. Sie erleben, dass auch andere Kinder in ihrer Situation sind und können Freundschaften schließen.
Durch die idealerweise tragfähige und vertrauensvolle Beziehung zu den Erzieher/ innen erhalten sie Wertschätzung. Durch den Zugewinn an sprachlichen Fähigkeiten haben sie mehr Freude am Spielen mit den anderen. Ihr Selbstbewusstsein wird gestärkt, eine wichtige Voraussetzung für den Lernerfolg. So kann die Entwicklung in einer Einrichtung mit guter Qualität in der pädagogischen Arbeit verlaufen.
Dafür ist in erster Linie die Professionalität der Einrichtungsleitung gefragt, die die Aufgabe hat, ihr Team vorzubereiten und fachlich zu begleiten, um diesen Herausforderungen gerecht werden zu können. Interkulturelle Kompetenz und Kenntnisse über den Zweitspracherwerb sind dafür die Basis. Regelmäßige offene Reflexion über die Lernprozesse der Kinder, der eigenen Erfahrungen und Grenzen sind dafür erforderlich. Fortbildung ist hilfreich, wenn Grundlagen zu interkultureller Arbeit und Zweitspracherwerb fehlen.
Es ist bekannt, wie grundlegend das Sprachvermögen für den gelingenden Grundschulbesuch besonders für das zweisprachige Kind ist. Die Politik hat reagiert und legt immer neue Sprachförderprogramme für die Kitas auf. Ob isolierte Sprachförderung den gewünschten Erfolg bringt, ist umstritten. Sicher ist, dass sich im Alltag der Kita unzählige Situationen bieten, alle Kinder zum Sprechen zu motivieren, Sprachförderung und -bildung in den Alltag einfließen zu lassen. Sprachbildung findet immer, überall und in vielen Sprachen statt.
Wichtig: Haltung, Interkulturelle Kompetenz und Wissen über Zweitspracherwerb
Die wichtigste Voraussetzung ist die Haltung der Fachkräfte, denn sie wirkt sich direkt auf die pädagogische Arbeit aus. Außerdem:
- Vermittlung von Wertschätzung, Zuwendung, Vertrauen, Schutz und Ermutigung zum Leben.
- Bewusstsein der eigenen Rolle als Sprachvorbild, in dem sie z.B. auf Augenhöhe zum Kind gehen, damit
- es auf ihren Mund schauen kann.
- Verwendung von Mimik, Gestik, Bildern, Symbolen, Zeichen und handlungsbegleitender Sprache, um den Kindern Sprachbrücken zu bauen.
- Die Erzieher/innen begrüßen die Vielfalt und sehen sie als Chance. Sie setzen sie sich gegen Diskriminierung ein.
- Die Kinder und Familien mit ihrer Unterschiedlichkeit stehen im Mittelpunkt.
An dieser Stelle ist die Leitung gefordert, im offenen Gespräch mit dem Team die Situation zu besprechen:
- Haben die Beschäftigten eine positive Haltung zu Heterogenität? Wie beurteilen sie die Situation in der Kita?
- Was kann unternommen werden, damit mehrsprachige Kinder die bestmögliche Förderung und Begleitung in der Einrichtung erhalten?
- Verfügt die Einrichtung über ausreichende Ressourcen, eine durchdachte Konzeption mit Leitsätzen zur interkulturellen Ausrichtung und eine sinnvolle Organisation, um alle Kinder adäquat unterstützen zu können?
- Wie ist die interkulturelle Kompetenz der Fachkräfte und wie kann sie ggf. erweitert werden?
- Was ist über die Kultur und die Sprachen in den Familien der Kita bekannt?
- Ist das Angebot der Einrichtung an den Bedürfnissen aller Familien orientiert?
- Hat die Einrichtung ein Programm zur Elternbildung implementiert z.B. »Rucksack« (Ein in Hannover erfolgreiches KiTa-Programm zur Elternbildung und für Kinder aus Migrantenfamilien; es fördert die Muttersprache in der Familie und die deutsche Sprache)?
- Was benötigen die Erzieher/innen und die Leitung vom Träger, um gute Arbeit mit Mehrsprachigen leisten zu können?
Vielfalt- und sprachenfreundliche Lernumgebungen gestalten
Respekt und Wertschätzung sind die Grundpfeiler für die gelungene Kommunikation im Team, mit den Kindern und Eltern. Zu dieser Wertschätzung gehört unbedingt die Wertschätzung für die Muttersprache der Kinder. Familien sind sehr sensibel dafür, wie ihnen begegnet wird. Das beginnt schon im Eingangsbereich der Einrichtung, wo ein »Herzlich willkommen«-Schild in vielen Sprachen die Besucher begrüßt. Bilderbücher in den Sprachen der Kinder, Lieder, Bilder aus den Herkunftsländern, Spiele aus vielen Ländern, in vielen Sprachen gehören zum Alltag und sind gleichwertig. Nach wie vor sind Bilderbücher ein hervorragendes Instrument, um mit Kindern ins Gespräch zu kommen. Eine dialogische Bilderbuchbetrachtung erweitert den Wortschatz und fordert die Sprachbildung insgesamt.
Das fängt an beim Morgenkreis, bei dem ein Kind die Anwesenden in der Sprache seiner Wahl zählt. Es geht weiter über Geschichten, die Eltern aus den Herkunftsländern erzählen, bis zu Musik aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Die Sprachen der Kinder sind in der Einrichtung präsent und werden verwendet. Außerdem ist eine ausgeprägte Gesprächskultur insgesamt eine bedeutsame Voraussetzung, um die Kinder ohne Druck für Sprache zu gewinnen.
In der Offenen Arbeit wurden sehr gute Erfahrungen mit der sogenannte Dialogrunde gemacht: Jeweils eine Fachkraft trifft sich täglich mit einer Teilgruppe von ca. zehn Kindern zu einem Austausch. Besprochen werden die aktuellen Themen der Kinder, die geplanten Aktionen und Angebote des Tages und Informationen werden weitergegeben. Hilfreiche Rituale sind eingeführt, wie den Namen des Tages in den unterschiedlichen Sprachen nennen und aufschreiben. Es werden Lieder gesungen und Spiele angeboten, bei denen Kinder z.B. Satzbau und korrekte Präpositionen kennenlernen. In diesem übersichtlichen und vertrauten Kreis, in einer Atmosphäre der Geborgenheit und des Wohlwollens gelingt es mehrsprachigen Kindern eher, die Hemmschwelle zu überwinden, sich in der Zweitsprache mitzuteilen. Hilfreich sind Gerüste, die Visualisierung der Inhalte beispielsweise mit Bildkarten oder laminierten Fotos. Den Kindern wird damit das Verstehen der Fremdsprache erleichtert und sie sind motivierter dabei.
Und das Gute daran: Von diesem bewussten Umgang mit den Sprachen und der guten Vorbereitung der Fachkräfte profitieren alle Beteiligten: Alle Kinder haben optimale Möglichkeiten zur Sprachbildung und entwickeln Freude am Sprechen insgesamt. Die Erzieherin erweitert ihre Professionalität und erlebt, dass ihre Arbeit die Entwicklung der Kinder voranbringt. Die Eltern freuen sich, dass ihr Kind in kurzer Zeit Deutsch lernt, sich wohlfühlt im fremden Land. Das ermöglicht die wichtigen Chancen für das Leben in Deutschland.
Eltern beteiligen
Die Eltern einzubeziehen ist eine weitere Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte. Dabei sind deren Lebenssituation und der sprachliche Hintergrund zu berücksichtigen. Beispielsweise: ist ein Dolmetscher für das Entwicklungsgespräch mit den Eltern erforderlich oder kann eine Person aus der Familie übersetzen? Die wichtigsten Elterninformationsmaterialen sollten nach Möglichkeit in den hauptsächlichen Sprachen der Familien übersetzt sein.
In Einrichtungen mit hohem Migrationsanteil haben sich Elterncafés bewährt. Hier können Eltern in einer lockeren Atmosphäre zusammen kommen und sich austauschen. Sie erhalten so z.B. bedeutsame Informationen über das Bildungssystem und das Leben in Deutschland. Durch eine sensible Erziehungspartnerschaft kann ihnen dabei unser Bildungsverständnis vermittelt werden und damit die notwendige Orientierung geben.
Fazit
Sprache ist der Schlüssel zur Welt und kann Türen öffnen. Die Bedeutung von Sprache ist immens, besonders in den Kindertageseinrichtungen. Sie sind häufig die erste Bildungsinstitution für Migrantenfamilien. Es kommt darauf an, diese wertvolle Zeit für die Kinder erfolgreich zu nutzen. Immer mehr pädagogische Fachkräfte erleben, das Sprachförderprogramme nicht so viel bewirken können, wie die interkulturelle Arbeit im Alltag mit den Familien. Begegnen wir ihnen mit ihren Lebensgeschichten mit Wertschätzung und Respekt, ist der erste große Schritt der oft zitierten Willkommenskultur gelebte Realität. Richten sich Kitas fachlich mit einem interkulturellen Ansatz aus, verbessern wir die Chancen auf Bildung in unserem Land für alle Kinder. Immer mehr Verantwortliche erkennen die Leistung von Kindern an, eine Zweitsprache, eine neue Kultur kennenzulernen. Sie erleben, dass diese Vielfalt die Arbeit spannender, interessanter, abwechslungsreicher aber auch anspruchsvoller macht. Die Herausforderung entwickelt die pädagogische Qualität der Einrichtungen insgesamt weiter und jeder kleinen und großen Persönlichkeit in der Kita gleich mit. Ein Gewinn für uns alle.
Erstveröffentlichung in KiTa Aktuell ND 9/2015
Zum Weiterlesen:
Mehrsprachigkeit - Eine Einführung
Mehrsprachigkeit und ihre Chancen
Förderung von Mehrsprachigkeit: Praxisvorschläge, Arbeitshilfen und Materialien
Mehrsprachigkeit fördern: Europäisches Sprachenportfolio
Elternbrief zur Mehrsprachigkeit
- Zuletzt bearbeitet am: Freitag, 26. Februar 2016 13:50 by Karsten Herrmann