Bewegte Kinderkrippe

Inhaltsverzeichnis

  1. Bewegung – ein Querschnittsthema
  2. Bewegung aus der Entwicklungsperspektive
  3. Bildungsraum Kinderkrippe
  4. Das Zusammenspiel von Raum und Bewegung
  5. Das pädagogische Konzept der Bewegungskrippe
  6. Bewegungsfreude der pädagogischen Fachkräfte
  7. Analyse der Ist-Situation
  8. Gemeinsam bewegen und handeln
  9. Impression aus der Praxis
  10. Literatur

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Co-Autorin: Susanne Przybilla

 

Bewegung im Kindesalter ist elementar. Nicht nur für die motorische Leistungsfähigkeit, die körperliche und seelische Gesundheit und den Aufbau von Ressourcen, sondern auch für frühkindliche Bildungsprozesse. Deshalb gilt schon seit Jahren die Forderung, Kindern ein „bewegtes Aufwachsen" zu ermöglichen.

Viele Kinder wachsen in einem Umfeld auf, in dem Erwachsene signalisieren: Bewegung und Anstrengung lohnen sich nicht. Bequem im Auto überall hin gefahren werden, getragen werden und den Tag vor allem sitzend zu verbringen, das sind nur einige typische Beispiele für ein Umfeld, in dem Erwachsene verhindern, dass Kinder sich bewegen können. Wie sollen Kinder ein Bild von einem bewegten, gesunden Leben entwickeln, wenn Erwachsene Bewegung im Alltag meiden und Bequemlichkeit vorziehen?

Viele Kinder fordern Bewegung indirekt ein – indem sie nicht ruhig sitzen, hampeln oder rumzappeln. Bei den meisten Kindern ist dies ein Ruf nach mehr Bewegung. Und Kinder brauchen Bewegung, weil sie

 

  • einfach gut tut und ein zentrales Grundbedürfnis darstellt,
  • so die Welt erforschen und begreifen,
  • Erfolgserlebnisse birgt und die Selbstwirksamkeit stärkt,
  • viel besser zuhören und sich konzentrieren können, wenn Bewegung ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag gehört,
  • den Start in eine erfolgreiche Bewegungs-, Bildungs- und Gesundheitskarriere unterstützt.

 


 

 

Bewegung – ein Querschnittsthema

Um in der Krippe vielfältige Möglichkeiten zu Bewegung und körperlicher Aktivität wirksam werden zu lassen, darf Bewegungsförderung nicht nur auf einzelne Stunden, Projekte oder Aktionstage beschränkt bleiben, sondern muss als Querschnittsthema im Alltag verankert werden. Nur dann können über Bewegung auch Bildungsthemen und die Entwicklung der Persönlichkeit intentional gefördert werden. Eine aufmerksame und einfühlsame Begleitung durch pädagogische Fachkräfte und vor allem gezielte Angebote und Bewegungsaktivitäten, die mit den Kindern gemeinsam entwickelt werden, sind notwendig, um Kinder zu fördern. Kinder brauchen außerdem Räume und Zeiten für Bewegung, in denen sie selbsttätig ihre Ideen und Bewegungsthemen umsetzen können. Wenn Bewegungsangebote nicht isoliert, sondern in der Verknüpfung mit der Förderung von weiteren personalen Ressourcen und Bildungsthemen gedacht und umgesetzt werden, ist man auf dem Weg, für Kinder und mit Kindern ein optimales Umfeld für „bewegtes Aufwachsen" zu schaffen.

Im Zusammenhang mit dem Thema Gesundheit ist Bewegung wichtig, aber auch Sprachentwicklung, Erfahrungen im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich sollten mit Bewegungsaktivitäten verknüpft werden. Wo kann man besser physikalische Phänomene erfahren als auf dem Spielplatz, der Bewegungsbaustelle oder beim Klettern? Warum kann man runter- aber nicht irgendwo raufrutschen? Warum fallen manche Dinge, die man vom Klettergerüst wirft, ganz langsam runter aber andere ganz schnell. Kann man an einer Kletterwand mit verschieden farbigen Griffen bis nach oben kommen, wenn man nur die roten Griffe nutzen darf? Und die sprachliche Kompetenz wird gefördert, wenn die Kinder immer wieder über ihr Tun ins Gespräch verwickelt werden. In vielen Themen steckt ganz viel Bewegung „drin", man muss einen Blick, ein Gespür dafür entwickeln.

 

 


 

Bewegung aus der Entwicklungsperspektive


Bewegung ist gleichermaßen Ausdrucksform und Grundbedürfnis von Krippenkindern. Sie erschließen sich ihre Umwelt über Bewegungsaktivitäten. Das Lernen durch eigenes Erfahren, durch Ausprobieren und durch Nachahmen – dieses Lernen aus „erster Hand" gilt als zentrale Lernform kleiner Kinder (Schäfer 2003). Bewegung und Lernen bilden in den ersten Lebensjahren eine untrennbare Einheit. Der Drang zur Bewegung gilt ebenso wie die Neugierde und das Explorationsverhalten als angeborene Verhaltensweise. Aus eigenem Antrieb erkunden schon Säuglinge ihre Umwelt, experimentieren und probieren aus (Dornes 1993; Gopnik, Kuhl, Meltzoff 2003). Zugleich müssen und wollen sie lernen sich fortzubewegen, um die Welt aktiv erkunden zu können. Beim alltäglichen Spielen und Bewegen erweitern sie Stück für Stück ihr Bewegungsrepertoire, und mit jedem weiteren Schritt, jedem Erfolgserlebnis entwickeln sie Selbstvertrauen (Pikler 2001).

Dabei entwickelt sich jedes Kind nach einem genetisch festgelegten inneren Muster und in seinem individuellen Tempo. Dieses Muster setzt sich aus bestimmten Meilensteinen (Meilensteine der Bewegungsentwicklung von der Rückenlage zum Gehen: Drehen / Wälzen / Rollen – Robben / Kriechen / Krabbeln / Vierfüßlergang – Sich Aufsetzen – Aufstehen – freies Stehen und Gehen) (vgl. Pikler 2001) zusammen, die jedes Kind in ähnlicher Weise passiert. Trotzdem ist die Bewegungsentwicklung ein individueller Prozess. Manche Kinder überspringen eine Stufe, andere „arbeiten" an zwei Stufen gleichzeitig. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, manche Entwicklungsphasen werden schnell, manche langsam durchlaufen. Wann ein Kind mit einem bestimmten Entwicklungsschritt beginnt, also z. B. mit dem Krabbeln anfängt oder die ersten Schritte macht, hängt zum größten Teil vom Reifungsprozess ab. Die nächste Stufe kann immer erst erreicht werden, wenn die Anlagen im Kind dazu ausgereift sind.

Deshalb ist es von Bedeutung, in welcher Umgebung ein Kind aufwächst und welche Möglichkeiten diese zum selbständigen Bewegen bietet. Neben Menschen, die Kinder kompetent, wertschätzend und anerkennend begleiten, spielt die räumliche Umgebung eine tragende Rolle. Wenn sie können, sind Krippenkinder den ganzen Tag über in Bewegung. Selbständig probieren sie Bewegungsarten aus und üben fortwährend Greifen, Drehen, Rollen, Krabbeln, Kriechen, Kreiseln, Schaukeln, Wippen, Balancieren, Klettern, Hüpfen, Rutschen, Springen.

Mit Hilfe von Körpererfahrung und Sinneserfahrungen bilden Kinder Begriffe. Gezielte Bewegungsangebote im Raum helfen ihnen, eine Vorstellung von hoch-tief, oben-unten, vorne-hinten zu entwickeln. Durch körperliches Handeln lernen sie Ursachen und Wirkungszusammenhänge kennen (von Dieken 2002). Gerade im Krippenalter sollte deshalb Bewegung jederzeit möglich sein. Können sich Kinder im Alltag viel und frei bewegen und bestimmte Bewegungsabläufe immer wieder üben, werden sie sicherer und entwickeln Umsicht und Selbstvertrauen. Auch die räumliche Umgebung kann die Bewegungsentwicklung sowie das bewegte Lernen positiv unterstützen.

 


 

 

Bildungsraum Kinderkrippe

Bildung für Kinder gelingt umso erfolgreicher je besser und reichhaltiger die Erfahrungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für die Kinder sind. „In einem Bildungskonzept für die frühe Kindheit hat das Raumkonzept die Aufgabe, den Kindern die Betätigungsmöglichkeiten bereit zu stellen, die sie für ihre Selbstbildungsprozesse brauchen. Die Räume und ihre Ausstattung müssen es ihnen erlauben, Orte, Zeitdauer, Materialien und Spielpartner zu wählen, d. h. zum Beispiel zwischen Bewegung oder Ruhe, zwischen kurzem oder ausgedehntem Tun, zwischen Alleinsein oder Gruppe zu wählen" (Schäfer 2003).

Für kleine Kinder ist es sinnvoll, dass Räume bzw. Orte im Raum nicht auf einen bestimmten Tätigkeitsbereich festgelegt sind, sondern in ihrer Funktion und Deutung offen und vielseitig nutzbar sind. Der Raum als Teil eines pädagogischen Konzepts ist bereits aus der Reggio-Pädagogik bekannt. Dort wird dem Raum als „drittem Pädagogen" eine Bildungsfunktion zugestanden (Reggio Children 2002). Der Raum ist Begegnungsort und Lernort zugleich, die Materialien im Raum und die Öffnung zur Außenwelt spielen ebenso eine Rolle für das Gelingen von Bildungsprozessen wie eine Atmosphäre des Wohlfühlens. Der Raum erfüllt in der Reggio-Pädagogik zwei Hauptaufgaben: er gibt Bezug, indem er Geborgenheit bietet, und er stimuliert, in dem er zur Aktivität anregt und Herausforderungen bietet (vgl. Dreier 2010).

Da alle Kinder ähnliche Entwicklungsphasen, jedoch in sehr unterschiedlichem Tempo durchlaufen, müssen Krippenräume eine große Breite an Bewegungs- und Wahrnehmungsoptionen abdecken. Kinder, die die Welt noch auf dem Rücken liegend erkunden, sollen ebenso angeregt werden, wie Krabbelkinder und Kinder, die schon sicher laufen können. In einem auf die speziellen Bedürfnisse kleiner Kinder angepassten Raum haben sie die Möglichkeit zum selbständigen körperlichen Lernen.

 

 


 

Das Zusammenspiel von Raum und Bewegung

 

Explorative, „bewegte" Räume durch Podest-Landschaften
Der Gruppenraum ist der zentrale Platz der Krippenkinder. In der „bewegten Kinderkrippe" sind die Gruppenräume mit Podest-Landschaften ausgestattet. Diese sind so gestaltet, dass sie den Kindern steigende Herausforderungen in die Höhe bieten und somit der rasant fortschreitenden motorischen Entwicklung der Kinder gerecht werden. Die Gestaltung der Räume orientiert sich an den Entwicklungsstufen der unter Dreijährigen und ist durch folgende Kriterien gekennzeichnet:

Der Boden muss vor allem Platz und freie Fläche für Bewegung bieten. Zugleich brauchen Säuglinge auf dem Boden einen geschützten Raum zum Drehen und Schauen. Wenn sie beginnen, sich vorwärts zu bewegen, sind geringe Höhenunterschiede Herausforderungen, die Kinder bewältigen wollen und sollten (Pikler 2001). Schrägen, wellenförmige Treppen, kleine Podeste, Stufen, Bodenwellen können ab dem Krabbelalter bewältigt werden und helfen Kindern, den nächsten Entwicklungsschritt des Treppensteigens vorzubereiten.

Wenn die Kinder laufen können, sollte der Raum ihnen Gelegenheit bieten, neue Bewegungsmöglichkeiten zu entdecken, zu variieren und zu üben. Zum Verfeinern der Auf- und Abstiegstechniken können zum Beispiel weitere Varianten wie Sprossenleitern oder unregelmäßige Stufen dienen. Die Bewältigung kleiner Höhenunterschiede am Boden trägt zudem zur Stimulation des Vestibularapparates bei. Kinder stimulieren ihr Gleichgewichtssystem meist instinktiv, indem sie mit großer Leidenschaft schwingen, schaukeln, sich drehen, wiegen etc. Der Krippenraum sollte ihnen Möglichkeiten bieten, eigenständig dafür geeignete Geräte wie Hängematten, -sessel, Schaukeln und Taue, Schaukelbälle, Kokosfender etc. nutzen zu können.

 

Explorative, „bewegte" Räume durch multifunktionale Gegenstände
Wenn der eigene Körper als „Spielmaterial" von den Säuglingen ausreichend erforscht ist, beginnen sie, sich für Gegenstände zu interessieren. Mit Mund, Händen und Körper versuchen sie, die Beschaffenheit von Dingen und ihre Funktionen zu erforschen und dehnen ihre Explorationen mit zunehmender Mobilität auf ihre Umgebung aus. Erkenntnisse gewinnen sie dabei zu Beginn über zufällig initiierte Experimente. Durch stetiges Sammeln von Erfahrungen werden zufällige Handlungen zu bewussten Handlungsmustern ausgebaut (Oerter 2008). Die Phase des Sensumotorischen Spiels geht in ein erkundendes Explorationsspiel (auch Informationsspiel) über. Der Säugling erkundet die Dinge. Wenn er mit einem Bauklotz hantiert, probiert er mit diesem Gegenstand alle ihm verfügbaren Bewegungsmuster durch, er nimmt ihn in den Mund, schlägt ihn gegen etwas, lässt ihn fallen, gibt ihn in die andere Hand etc. (Bruner 2002). Er lernt, Gegenstände voneinander zu unterscheiden und ihnen Funktionen zuzuordnen. Im Konstruktionsspiel setzt sich das Kind beispielsweise mit räumlichen Beziehungen von Gegenständen oder den Dimensionen des Raumes auseinander und will aus verschiedenen Gegenständen eine Zielkonstruktion herstellen (z. B. einen Turm aus Bauklötzen).

Ein Umdeuten von Gegenständen nach eigenen Vorstellungen erfolgt im Symbolspiel. Die Spielhandlungen übernimmt das Kind dabei aus seinem Umfeld und den Erfahrungen, die es bisher gemacht hat und variiert seine Handlungen. Variation gilt als ein Schlüsselfaktor frühkindlichen Lernens (Pramling Samuelsson & Asplunt Carlsson 2007). Gegenstände nehmen multifunktionale Rollen an, als typisch gilt der Bauklotz, der gleichzeitig Auto, Telefonhörer oder Banane für das Kuscheltier sein kann. Das Spiel der Kleinstkinder ist durch einen unmittelbaren wunscherfüllenden Umweltbezug charakterisiert (Oerter 2008). Um Variation und damit ein Handeln nach unmittelbaren Wünschen, nach Fantasie der Kinder zu ermöglichen, sind im Krippenbereich multifunktional einsetzbare Objekte notwendig. In der „bewegten Kinderkrippe" wird auf figürliche Darstellungen verzichtet. Die Räume und Objekte sind funktionsoffen, die Interpretation und Deutung bleibt den Kindern, das heißt die Kinder geben dem Raum sowie den Objekten immer wieder neue Bedeutung und die Funktion, die für sie im Moment wichtig ist.

 

 


 

Das pädagogische Konzept der Bewegungskrippe


Eine bewegungsfreundliche Einrichtung bzw. Ausstattung von Kita-Räumen allein garantiert noch kein bewegtes Aufwachsen. Ungerer-Röhrich & Quante (2012) konnten in einer Studie zeigen, dass positive Effekte bei den Kindern hinsichtlich der motorischen Leistungsfähigkeit und verschiedener psychologischer Merkmale dann erzielt werden, wenn das Kita-Team weiß, warum und wie Bewegung als Querschnittsthema in die Kita bzw. Kinderkrippe eingebracht werden kann. Da die pädagogische Gestaltung von Bildungsprozessen auch ein sozialer Prozess ist, muss die Gestaltung einer Bewegungskrippe mit einer darauf bezogenen Expertise des pädagogischen Personals zusammen entwickelt werden (vgl. Ungerer-Röhrich et al. 2011).

Das Konzept der „bewegten Kinderkrippe" stellt Bewegung als elementaren Zugang der Kinder zur Erschließung der dinglichen und sozialen Welt sowie der eigenen Person in den Mittelpunkt. Die Räume einer bewegten Kinderkrippe sind herausfordernde Bewegungslandschaften, die kleine Forscher und Entdecker zwischen ein und drei Jahren zum Bewegen, selbstständigen Explorieren und Ausprobieren einladen. Die „bewegte Kinderkrippe" lebt davon, dass der Raum offen gestaltet ist und durch die Fantasie der Kinder immer wieder neu interpretiert und funktionalisiert wird. Möglich wird dies durch eine entsprechende Haltung der pädagogischen Fachkräfte, die Bewegung und Exploration als kindliches Bedürfnis und kindliche Form der Weltaneignung anerkennen und unterstützen.

Um die Entwicklung zur „bewegten Kinderkrippe" auch hinsichtlich der pädagogischen Ausrichtung zu unterstützen, werden die pädagogischen Fachkräfte von Bewegungspädagoginnen begleitet. Für die Prozessbegleitung wird der spezifische Unterstützungsbedarf der Einrichtung individuell erfasst. Grundlage ist ein systemischer, d. h. ressourcen- und lösungsorientierter Ansatz, bei dem es um die Berücksichtigung der Perspektiven aller Beteiligten geht. In seinem Ablauf orientiert er sich an den Qualitätskriterien für die Planung, Umsetzung und Bewertung gesundheitsfördernder Projekte der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA 2012).

 

 


 

Bewegungsfreude der pädagogischen Fachkräfte


Pädagogische Fachkräfte haben in ihrer eigenen Bewegungssozialisation positive und weniger positive Phasen erlebt. Eine persönliche Standortbestimmung ist ein hilfreicher Schritt, um die Arbeit in Krippe oder Kindergarten langfristig „bewegter" zu gestalten. Denn nur wenn man Sport und Bewegung mit angenehmen Gefühlen verbindet, wird man mit Kindern Bewegungsgelegenheiten schaffen, die diese auch interessieren und herausfordern.

Erinnern Sie sich an Ihre persönlichen Erfahrungen mit Sport und Bewegung und tragen Sie sie in ein „Lust/Frust-Diagramm" ein. Die Erfahrungskurve soll – bezogen auf das jeweilige Alter – Ihre Bilanz darstellen. Am besten füllen Sie ein solches Bild in einer Dienstberatung gemeinsam aus und sprechen über Ihre unterschiedlichen Erfahrungen. Sind Sie selbst im „Lustbereich", steht einer bewegten Kinderkrippe eigentlich nichts „Persönliches" im Wege.

Bewegungsbiographie

Sollten Sie im „Frustbereich" sein, ist ein erster wichtiger Schritt, erst selbst wieder an dem Gefallen zu finden, was Sie Kindern ermöglichen wollen: ein bewegtes Leben. Schauen Sie in Ihrer Biographie auf die positiven Erfahrungen und versuchen Sie dort wieder anzusetzen. Es wäre schön, Sie könnten sich in Ihrem Team unterstützen.

 


Analyse der Ist-Situation – wie bewegt ist die Kinderkrippe?


Der Weg zu einer bewegten Kinderkrippe fängt mit der Beobachtung der Ist-Situation an. Wie „bewegt" ist die Krippe? Ziel ist es herauszufinden, welchen individuellen Bewegungsraum Kinder haben und wie viel Bewegungsmöglichkeiten bzw. -angebote es für alle im Laufe eines Tages gibt.

Die folgenden Punkte sollen zum Nachdenken anregen, wie mit dem Thema Bewegung umgegangen wird und wie auf die Kinder geschaut wird. Sie stammen aus einem umfangreichen Fragebogen, der im E-Learning Seminar „Schatzsuche" (Popp 2014) zur Selbstevaluation bezüglich der Qualitätsbereiche „Bewegung als Basis", „Bewegung als Medium" und „ressourcenorientierte wertschätzende Grundhaltung" eingesetzt wird.

  • Ich gebe Kindern viel Raum zum Bewegen. Das heißt, es stehen nicht nur der Bewegungs- oder Mehrzweckraum, sondern auch kleine Nischen, Gänge, etc. zur Verfügung. Tische und Stühle werden auch zur Seite geräumt, wenn Platz für Bewegung gebraucht wird.
  • Ich gebe Kindern täglich Zeit zum Bewegen und im Tagesablauf gibt es feste Bewegungszeiten.
  • Ich biete während der Freispielzeit sowohl draußen als auch drinnen offene Bewegungsangebote und -aktivitäten an (z. B. Bewegungsbaustelle).
  • Bestimmte Rituale und Aktivitäten sind mit Bewegung verknüpft (Morgenkreis, bewegte Begrüßung/bewegter Abschied, „Geschwindigkeitsaufräumen", etc.).
  • Ich bewege mich selbst gern und sehe mich als Vorbild für die Kinder.
  • Ich habe in Bewegungssituationen Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder und zeige „Mut zum Risiko" (Beispiele: Kinder dürfen sich frei und unter Einhaltung bestimmter Regeln unbeaufsichtigt bewegen, dürfen Fahrzeuge, Kletterwand etc. nutzen).
  • Ich verfüge über einen reichen Schatz an Bewegungsideen und bin auch in der Lage, Bewegungsspiele kreativ (entsprechend des jeweiligen Förder- bzw. Lernziels) abzuwandeln (Beispiel: Thema Arzt/Arztbesuch: Entspannende Spiele wie „Wunden verarzten" mit Bierdeckeln, Sandsäckchen etc.).
  • Motorische Kompetenzen wie zum Beispiel Bewegungssicherheit entwickeln Kinder bei uns dadurch, dass sie auch scheinbar riskante Aktionen wie Balancieren auf Baumstämmen, Wettrennen im Gang, Hügel hinunterrennen, von Podesten springen etc. ausführen dürfen.
  • Ich gebe Krippenkindern jeden Tag Raum und Zeit für das freie Spiel, das selbsttätige Erforschen und Experimentieren
  • Angebote finden bei uns in der Form statt, dass wir die Entwicklungsthemen der Kinder wahrnehmen und in experimentellen Angeboten aufgreifen (z. B.: Die Kinder freuen sich über den Schnee. Wir experimentieren mit ihnen: was passiert, wenn der Schnee ins Warme oder in den Kühlschrank kommt?
  • Für mich zählt nicht ein bestimmtes Endergebnis (eine genaue Bewegung, ein bestimmtes Bild), sondern der Weg dorthin ist mir wichtig.
  • Ich ermutige unsere Kleinstkinder, den eigenen Körper zu erkunden und unterstütze sie bei der aktiven Entwicklung ihrer Körperkontrolle. Zum Bespiel nehme ich mir genug Zeit fürs Wickeln, Kinder können beim Wickeln ihren Körper und ihre Körperfunktionen selbst erkunden.

Eine Analyse der eigenen Bewegungssituation und eine Analyse des Kindergartenalltags können einen Startpunkt darstellen, um die Krippe „bewegter" zu gestalten. Jeder Weg, der nach diesen Überlegungen eingeschlagen wird und die eigenen Möglichkeiten mit den Bedürfnissen der Kinder optimal verbindet, ist richtig.

 


Gemeinsam bewegen und handeln – bewegte Dialoge


Das Thema Bewegung spielt bislang bei Untersuchungen und Anregungen zu Dialogen zwischen Ezieher/in und Kind in der frühen Kindheit noch keine Rolle. Da jedoch frühes Lernen und Bewegung eine untrennbare Einheit bilden, muss auch Bewegung in diese Thematik eingebunden werden. Situationen, die Kinder beschäftigen oder zum bewegten Tun anregen, sollen aufgegriffen und gemeinsam mit den Kindern weiterentwickelt werden. Dazu ist es notwendig, dass pädagogische Fachkräfte in das Spiel der Kinder eintauchen und sich bewegt einbringen.

Von „sustained shared doing" (angelehnt an den Begriff des „sustained shared thinking" von Sylva et al. 2003) oder einem bewegten Dialog sollte man reden, wenn Erzieher/in und Kind(er) einen Weg suchen, um ein Bewegungsproblem (nachhaltig) zu lösen oder eine andere Situation „bewegt" weiter zu entwickeln. Dabei müssen die Interaktionsprozesse von dem Kind und dem Erwachsenen aktiv vorangetrieben werden.

 

Ressourcen oder Defizite? – Fehlerfahnder oder Schatzsucher?


Viele Pädagoginnen und Pädagogen sind es immer noch gewohnt nach Defiziten, nach den Problemen und den Schwierigkeiten bei Kindern zu suchen. Allzu oft beginnen dann Sätze mit „Das Kind kann noch nicht...", allzu oft steht dann „nicht mehr das Interesse an (seiner) Individualität im Vordergrund, sondern die Fixierung auf Abweichungen von Entwicklungsnormen." (Knauf 2006, S. 102). Stehen vor allem die Schwächen der Kinder im Focus, so bekommen die Kinder – wenn natürlich meist auch ungewollt – ihre Unzulänglichkeit gespiegelt.

Für Kinder ist es jedoch wichtig in einem Umfeld aufzuwachsen, das weniger die Fehler als die Stärken sieht, denn jedes Kind ist einzigartig und verfügt über Fähigkeiten und Ressourcen, man könnte auch sagen, über Schätze. In der bewegten Kinderkrippe sind die pädagogischen Fachkräfte Schatzsucherinnen. Sie orientieren sich an den Kindern und ihren Stärken.

 

Die ganze Kita muss in Bewegung kommen!


Wenn eine Krippe bewegungsfreudiger werden soll, muss sich die ganze Krippe diesem Thema öffnen. Mehr Bewegung darf nicht heißen „wir machen mal ein Projekt", vier Wochen Schwerpunkt Bewegung. Immer mehr Projekte führen nicht dazu, dass sich die Organisation, das System Kita verändert. Sie führen zu einem punktuellen Akzent, der ganz schnell wieder verschwindet. „Projektitis" führt nicht zu Veränderungen in der Kita. Wenn es nachhaltig um mehr Bewegung geht, muss das Thema konzeptionell verankert werden.


 

Impression aus der Praxis


PaulineIm Gruppenraum hängen Ketten mit runden Perlen von einer Hochebene herunter und schwingen ein wenig hin und her. Pauline hat diese für sich entdeckt, sie fängt die Ketten ein, betastet und befühlt sie konzentriert. Mit den Fingerspitzen und den Handrücken streicht sie an den Perlen entlang, versetzt die Ketten in Schwingungen. Pauline erschließt sich über diese feinmotorischen Aktivitäten die Form der Perlen, indem sie die Ketten ertastet. Nach einer Weile hört Pauline wiederholt auf das Geräusch, welches die Ketten beim Anschlagen an das Holz erzeugen. Ihre Erzieherin beobachtet Paulines Aktivitäten und fragt Pauline, ob sie Musik mache. Pauline bejaht das. Daraufhin bringt die Erzieherin neue Impulse, indem sie mit einem Löffel an den Ketten entlangstreift und damit andere Töne erzeugt. Sie spricht mit ihr darüber, dass das Metall auf den Ketten anders klingt als das Holz. Später sucht Pauline weitere Gegenstände und macht mit diesen an den Ketten „Musik" – Pauline erkundet, experimentiert und probiert aus, durch den bewegten Dialog mit ihrer Erzieherin wird diese Aktion aktiv mit dem Kind weiterentwickelt – dies ist „bewegtes Lernen".

 

Das Konzept „Bewegte Kinderkrippe" erhielt 2012 das Qualitätssiegel „besonders entwicklungsfördernd" der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V. (BAG). Das Zertifikat zeichnet Produkte, Initiativen und Konzepte aus, bei denen entwicklungsanregende Wirkungen im Vordergrund stehen.

 


 

Literatur

 

  • BZgA (Hrsg.) (2012): Leitfaden Qualitätskriterien für Planung, Umsetzung und Bewertung von gesundheitsfördernden Maßnahmen mit dem Fokus auf Bewegung, Ernährung und Umgang mit Stress. Köln.
  • Bruner, J. (2002): Wie das Kind sprechen lernt. 2. ergänzte Aufl. Bern.
  • Dreier, A. (2010): Was tut der Wind, wenn er nicht weht? Begegnung mit der Kleinkindpädagogik in Reggio Emilia, Aufl. 7. Berlin.
  • Dornes, M. (1993): Der kompetente Säugling. Frankfurt am Main.
  • Gopnik, A., Kuhl, P., Meltzoff, A. (2003): Forschergeist in Windeln. München.
  • Knauf, T. (2006): Stärken- statt Defizitorientierung. In: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Guck mal! Bildungsprozesse des Kindes beobachten und dokumentieren. Gütersloh, S. 95-115.
  • Oerter, R. (2008): Kindheit. In: Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 6. vollständig überarbeitete Aufl. Weinheim, Basel, S. 225-270.
  • Pikler, E. (2001): Lasst mir Zeit: Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. München.
  • Pramling Samuelsson, I., Asplund Carlsson, M. (2007): Spielend lernen. Stärkung lernmethodischer Kompetenzen. Troisdorf.
  • Reggio Children (Hrsg.) (2002): Hundert Sprachen hat das Kind. Das Mögliche erzählen. Kinderprojekte der städtischen Krippen und Kindergärten von Reggio-Emilia. Neuwied.
  • Schäfer, G. (2003): Bildung beginnt mit der Geburt. Weinheim.
  • Stieve, C. (2011): Inszenierte Dingwelten. Spiel und Lernmaterialien in Kindertageseinrichtungen. In: Cloos, P., Schulz, M.: Kindliches Tun beobachten und dokumentieren. Weinheim, S. 115-129.
  • Sylva, K. et al. (2003): The Effective Provision of Pre-School Education Project. Findings from the Pre-school Period. London: Institute of Education. University London.
  • Ungerer-Röhrich, U., Eisenbarth, I., Quante, S., Popp, V., Przybilla (vormals Wolf), S. (2011): praxis kompakt: Bewegungsförderung. Angebote und Projekte. Themenheft von kindergarten heute. Freiburg.
  • Ungerer-Röhrich, U., Quante, S. (2012): Klettern in Kitas. Bericht Universität Bayreuth.
  • van Dieken, C. (2002): So geht' s mit Krippenkindern. Sonderheft kindergarten heute. Freiburg.

 

 

Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus der Ausgabe  01/15 von frühe Kindheit.

 

 

 



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